KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
Cannes 2006 21.05.2006
 
 
Tagebuchnotizen, 2. Folge
Unsere Leichen leben noch
Cannes 2006
Innenansichten der Paranoia: BUG von William Friedkin
 
 
 
 

Auch in Cannes sind die Amis paranoid…

"You wanna fuck, or watch a movie?" - "Lets watch a fucking movie." Eine repräsentative Dialogzeile aus SOUTHLAND TALES am Sonntagmorgen im Wettbewerb - recht treffend für die Stimmung des Augenblicks in einen Wettbewerb, der seine Konturen noch nicht gefunden hat, während man die interessanteren Filme bisher in den Nebenreihen fand. Immerhin führte SOUTHLAND TALES dazu, dass man Sarah Michelle Gellar in einer Hauptrolle sehen konnte. Aber Sarah Michelle Gellar in Cannes - sagt das jetzt eigentlich mehr über Sarah Michelle Gellar aus, oder mehr über Cannes?

+++

SOUTHLAND TALES ist der neue, zweite Film von Richard Kelly, der durch seinen Erstling DONNIE DARKO berühmt wurde. Weil der auch unter Filmkritikern Kult ist, war SOUTHLAND TALES einer der am innigsten erwartetsten Filme des Wettbewerbs. Und weil man nichts so hasst, wie eine Liebe von der man enttäuscht wurde, läßt sich jetzt schon mit Sicherheit sagen, dass der Film als der wohl größte Reinfall dieses Jahres im Gedächtnis bleiben wird.

+++

Das postapokalyptische Szenario von SOUTHLAND TALES spielt im Jahr 2008, und wurde mit drei von Kelly verfassten Comicbüchern - deswegen beginnt der Film auch ein bisschen arg a la STAR WARS mit Kapitel IV - und einer höchst aufwendigen Website ehrgeizig vorbereitet. Die Welt hat einen Atomschlag hinter sich - "after the nuclear attacks of Texas, things became real complicated." - und ausgerechnet deutsche Technology und deutscher Adel retten wieder mal die Welt. Eine Wissenschaftler-Familie mit dem schönen Namen von Westphalen erfindet ein "fluid karma". Klingt gut. Außerdem gibt es in den USA Präsidentschaftswahlen, und eine positive marxistische Verschwörung an der eine Pornoqueen mit TV-Show (Gellar) beteiligt ist. Die bad guys sind die Republicans. Auch eher eine abgegriffene Erkenntnis. Regisseur Kelly behauptet, der Film sei ein merkwürdiger Hybrid zwischen den Sensibilitäten von Andy Warhol und Philip K. Dick.

+++

"Warning: you are entering a domain of chaos." lautet die Werbezeile des Films, und damit ist das Wesentliche gesagt. Denn der knapp dreistündige Film ist vor allem eine große Zumutung, die versucht cool und smart zu sein. Und seine Wirkung ist etwa wie der Besuch von MATRIX REVOLUTIONS, wenn man die Vorgängerfilme nicht gesehen hat. Dauend werden neue Figuren eingeführt, die in post-punkigen 80er-Jahre Lederklamotten vor irgendwelchen Bildschirmen oder Kommunikationsgeräten sitzen und draufglotzen, oder irgendwelche meist belanglosen Botschaften in - auch für den Filmbesucher - schlecht gepixelten Digitalbildern empfangen. Auch nach einer halben Stunde hat man noch immer nicht wirklich verstanden, um was es jetzt eigentlich gehen soll, so dass das Ganze, wenn überhaupt, an Lynchs DUNE, oder einen SF-Film der 80er Jahre erinnert.
Schon nach einer halben Stunde ist fast alles verloren, man selber will gehen, und fragt sich, ob man dem Beispiel der ersten folgen soll, die genau das tun. Und nach eineinhalb Stunden denkt man nur noch: Was für ein Riesenscheiß, und bleibt, weil es jetzt zum Rausgehen auch zu spät ist.
Natürlich gibt es schöne Dialogzeilen, etwa die über die "Mayflower": "a bunch of nerds on a boat in the 16th century". Oder Sarah Michelle Gellars: "Scientists say, the future is going to become far more futuristic, than predicted."

Am besten ist noch der Rand des Films, die untergründige USA-Kritik, die Kleinigkeiten eines Portraits der USA im Jahr 2008 - die Selbstverständlichkeit des Alptraums: 40 US-Soldaten wurden gerade in Syrien getötet, die Polizei schießt und tötet, ohne zu fragen. Interessant ist der Film allenfalls als ein Dokument des Wahnsinns, der in den USA derzeit dominiert

+++

Man kann SOUTHLAND TALES allerdings auch interpretieren als die linksliberale Westcoast-Version der Paranoia, die man in anderen Filmen findet, als eine elaboriertere Variante von THE DA VINCI CODE. Beiden gemeinsam ist die extreme Humorlosigkeit des Films, eine bierernste Seriosität, die dem albernen Plot in beiden Fällen völlig unangemessen ist. Unter den Oberflächen des Langweiligen, der Ödnis, die diese Filme dominiert, ist vor allem Furcht zu spüren.

+++

Und auch hier gilt: Hollywood hat derzeit massive, ernsthafte Schwierigkeiten, funktionierende Blockbuster zu produzieren. Stattdessen entsteht jener neue Typus von Blockbuster, mit dem die großen US-Studios noch einmal Kasse machen wollen, und der - wie das Beispiel "Mission Impossible" ebenso zeigt, wie "X-Men 3", der jetzt bald ins Kino kommt -, selbst eingesessene Kino-Genres infiziert: Des Genre-Hybriden. Wie eben jetzt Forrest Gumps und Amélies Jagd nach dem Heiligen Gral - es könnte gut erfunden sein, der Titel eine bissige Satire auf den Hollywood-Wahn nach Patchwork-Stoffen, mit denen alle Segmente eines immer weiter sich ausdifferenzierenden globalen Publikum noch einmal zusammengefügt werden können. Aber es ist so einigermaßen die Wahrheit.
Diese Probleme sind systemabhängig, aber müssen auch aus der Kollektivpsyche eines Publikums erklärt werden, das nervöser und hysterischer, sprunghafter ist, als früher, und das offenbar die stärkeren Reize sucht, an deren Produktion eine Mainstreamindustrie an ihre Grenzen stößt.

+++

Besser vermag so etwas natürlich William Friedkin, wie er bereits zu Hochzeiten des Vietnamkriegs bewiesen hat. FRENCH CONNECTION und THE EXORCIST waren ja vor allem Reisen ins kollektive Unbewusste Amerikas, das zur Hochzeit von Vietnamkrieg und Watergate nach Friedkins subtilen Dekonstruktionen des Polizeiapparats und der all american family lechzte. Friedkins neuer Film, BUG, der erstaunlicherweise in der Arthouse-Sektion "Quinzaine" läuft, passt genau in die Landschaft, und lotet das aus, dem SOUTHLAND TALES und DA VINCI CODE auf unterschiedliche Weise ausweichen: es beginnt mit einem Hubschraubergeräusch und dem Blick auf einen Ventilator… Erinnerungen an Anfang von APOCALYPSE NOW werden wach. Aus dem Off Telefonklingeln, "Hello? Hello? Bastard." Ashley Judd spielt die Hauptrolle. Keine kann so kaputt und white-trashig aussehen, wie Judd und dabei doch attraktiv bleiben. Sie spielt Agnes, eine Frau, die Gewohnheitstrinkerin ist, in einer Bar arbeitet und in einem Motel wohnt. Ihr Mann sitzt im Knast, weil er sie fast totschlug. Ihr Kind verschwand vor neun Jahren spurlos im Supermarkt. Alle Voraussetzungen für eine satte Paranoia sind also vorhanden, und als sie auf Peter trifft, und mit ihm ein Verhältnis beginnt, ist es soweit.

Der ist überzeugt, Opfer eines Experiments des Geheimdienstes zu sein, und eine "Wanze" in sich zu tragen. Die Dinge eskalieren schnell. BUG bietet Innenansichten der Paranoia: Ununterbrochenes Blablabla: "Its the way things are…, the rich get richer, the poor poorer. … Ich wurde verwanzt. Man macht Experimente mit mir. … Wir werden nie mehr sicher sein. … chips implanted on every new born baby since 1982…." Irgendwann zieht Peter sich selbst auch mit einer Klempnerzange die Zähne, schneidet sich vermeintliche Bugs aus dem Leib. Die Wohnung verlassen beide nicht, legen sie mit Silberpapier aus. Und am Ende, als Agnes sicher ist: "I am the super mother bug." - was man Ashley Judd wirklich so sehr gerne sagen hört - tun beide, was paranoide Menschen irgendwann tun, und zünden a la Waco das Haus über ihrem Kopf an.

Gleich weil er schwer erträglich ist, ist Friedkins Film auch ein treffender Kommentar zum ganzen Komplex der Conspiracy Theory und Paranoia, zur Signatur der US-Gegenwartsgesellschaft.

+++

Um ein Haar hätte unsere Münchner Kollegin Margret Köhler schon zu Beginn des Festivals den 79jährigen Sidney Poitier über den Haufen gerempelt - ausgerechnet während einer gemeinsamen Unterhaltung. Aber immer noch geistesgegenwärtig wich Poitier gerade noch aus, während die Kollegin weiter davon erzählte, wie sie früher in Juan les Pins barfuss im Sand getanzt hat.

+++

Womit wir endlich beim ewigen Lieblingsthema gelandet sind: die Deutschen in Cannes. Aber darauf kommen wir morgen, jetzt geht es erst mal ins Kino.

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]