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Cannes 2006 18.05.2006
 
 
Tagebuchnotizen, 1. Folge
Auf der Suche nach dem verlorenen Kino-Gral
Cannes 2006
THE DA VINCI CODE
 
 
 
 

Pyramiden am Strand und Ron Howards "Der Da Vinci Code"

Fett und riesengroß liegt eine schwarze Pyramide im Hafen von Cannes, seit Tagen wie man hört. Sie ist das erste, was man sieht bei der Ankunft, direkt neben dem Festivalpalais, wo auch der Bus hält, der einen vom Flughafen hierherbringt. Unübersehbar soll das Ding auf THE DA VINCI CODE aufmerksam machen, Ron Howards Verfilmung von Dan Browns Bestseller, der bei uns "Sakrileg" heißt, und mit dem am Mittwoch die 59. Internationalen Filmfestspiele eröffneten. Nicht etwa die "Mona Lisa" oder das "Abendmahl" von Leonardo soll alle Blicke auf sich ziehen und werben, sondern das kulturell noch weitaus kompatiblere altägyptische Symbol und Gebäude, das im Film/Buch der Schlüssel ist, der die letzten Geheimnisse offenbart.

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Dieser Eröffnungsfilm ist gleichermaßen eine auch für Cannes marketingstrategisch logische Wahl wie ein Sakrileg an jener Filmkunst für die das südfranzösische Traditionsfestival nach wie vor steht, wie kein anderes. Doch vielleicht ist der okkulte Thriller, dessen Helden zwei Symbolforscher sind, die einer katholischen Verschwörung auf die Spur kommen, von bösen Häschern des Geheimordens Opus Dei gejagt werden, und am Ende nichts Geringeres finden, als den Heiligen Gral, eine doch ganz treffende Metapher um gerade dieses Filmfestival zu beschreiben. Denn auch die Festivalbesucher, tausende Einkäufer, Filmhändler, Produzenten und Kritiker aus aller Welt, suchen hier etwas, das sie gar nicht so genau kennen, das, gerade wenn sie es gefunden haben, sein Geheimnis nicht wirklich preisgeben kann: Einen Film, der das Kino neu erfindet, der sein Publikum verzaubert und in andere Welten führt, ihm Geheimnisse offenbart, und diesem Publikum doch vor allem etwas über sich selbst erzählt.

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"Qui va gagner le festival?" - "Wer gewinnt das Festival?" Das ist immerhin mal eine gute Frage. gestellt hat sie das Mädchen am Schalter, an dem an seine Akkreditierung holt. In zwei Minuten, so schnell, reibungslos und bürokratisch, wie bei keinem Festival der Welt. Die Deutschen, die gern über "die bürokratischen Franzosen" schimpfen, sollten mal nach Spanien gehen. Oder zur Berlinale. Selbstverständlich gibt es in Cannes auch keine "Akkreditierungsgebühren", jenen Obulus, den man als Journalist bei jedem Provinzfestival entrichten muss, um seine Arbeit zu tun. Cannes ist der einzige Ort, der die Arbeit von Filmkritikern zu würdigen weiß, der diese nicht als Bittsteller oder Schnorrer indirekt abkanzelt - und damit repräsentativ für die gesamte französische Filmkultur, die ganz allgemein darauf basiert, dass es hier mehr Neugier gibt, mehr Interesse am Neuen und den Entwicklungsmöglichkeiten des Kinos, mehr Erziehung auch. Diese Filmkultur prägt natürlich auch das Festival. Und an keinem anderen Ort haben mich normale Mitarbeiter zur Begrüßung je nach meiner Einschätzung gefragt.

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Aber wer wird nun gewinnen? Für einen Augenblick bin ich durch die Frage völlig entwaffnet. Spontan tippe ich auf den türkischen Filmemacher Nuri Bilge Ceylan, der mit UZAK vor drei Jahren den wichtigen Spezialpreis der Jury bekam. Dann schiebe ich noch ein: "Oder vielleicht Bruno Dumont." hinterher. Der hatte hier mit LA VIE DE JESUS und L'HUMANITE immerhin schon Erfolg gehabt.

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"Nein, nicht der" meint Kollge Josef Schnelle, dem ich das alles erzähle. "Man muss von der Papierform her natürlich auf Sofia Coppola tippen." Schließlich hat die mit MARIE ANTOINETTE auch ein französisches Thema. Und in der Jury sitzt Wong Kar-wai, der bestimmt auf bildkräftiges Kino setzt, nicht auf protestantisch-karge Meditationen. Oder doch gerade das? Derlei Überlegungen bestimmen immer den Anfang eines Festivals, an Tagen wie diesen, bevor es losgeht.

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Auch von Richard Linklaters FAST FOOD NATION und SOUTHLAND TALES, dem neuen Film von DONNIE DARKO-Regisseur Richard Kelly hört man Gutes im Vorfeld. Und Aki Kaurismäki, Ken Loach, Pedro Almodóvar und Nanni Moretti gehören in jedem Festival zu den Favoriten. Ein Geheimtip kommt aus Spanien: Guillermo Del Toro mit PAN'S LABYRINTH. Und wie immer gibt es viel Französisches: Tony Gatlif, Lucas Belvaux, Bruno Dumont, Nicole Garcia, Xavier Giannoli und Rachid Bouchareb. Wer jetzt "Chauvinismus" brüllen will, der darf Luft holen und sich an die über 50 deutschen Filme erinnern, die auf der Berlinale liefen.

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Was auffällt: seit langem ist kein Iraner im Wettbewerb vertreten. Und nur ein Asiate: SUMMER PALACE vom viel versprechenden chinesischen Independentstar Lou Ye. Der Rest läuft außer Konkurrenz. Fast schon eine Brüskierung für die wichtigste Region des Weltkinos, die hier zuletzt so erfolgreich lief.

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"Un Certain Regard" eröffnete mit dem Episodenfilm "Paris, je t'aime": Darin läuft TRUE, Tom Tykwer brillanter Kurzfilm, der besser ist, als manches lange Werk. Natalie Portman muss/darf in gerade mal gut zehn Minuten nichts weniger, als das ganze Auf und Ab der Liebe darstellen. Ein geniales Spiel aus Gefühl und Zufall, Wahrheit und Lüge. Denn ihr Freund ist blind, und schon als er sie das erste Mal trifft, täuscht er sich, denn was er für einen Liebesstreit hält, ist nur die Probe für einen Auftritt: Portman spielt eine junge Schauspielerin, also auch sich selbst. "Natalie Portman finde ich schon lange toll", begründete Tykwer, warum seine Wahl auf sie fiel: "Man fragt sich immer, woher weiß die das alles schon, was sie da spielt. Und wieso hat die überhaupt ein Bewusstsein von bestimmten Blicken und dem, was sie bedeuten können, obwohl sie noch so jung ist und diese Erfahrung eigentlich noch gar nicht gesammelt haben kann. Aber sie ist eben eine von diesen wundersamen Erscheinungen, die man bei Schauspielern manchmal erlebt."

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"Beim ersten Mal versteht man gar nichts, und beim zweiten Lesen fragt man sich: 'Warum bin ich da nicht gleich drauf gekommen?'" - so hat Hollywoodstar Tom Hanks, der hier die Hauptrolle des Symbolforschers Robert Langdon spielt, gestern von seiner Lektüreerfahrung mit Dan Brown berichtet, und damit die Wirkung des Buches ganz gut auf den Punkt gebracht.

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"Ich hab mehrfach versucht, dieses Buch zu lesen", berichtet Josef Schnelle vor der Vorführung des Eröffnungsfilms, "erst auf Deutsch, dann auf Englisch, aber selbst auf'm Klo hat's nicht geklappt, wo ich wirklich jeden Scheiß lese… das ist was für literarische Analphabeten. Für Vollidioten.

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Und tatsächlich: Eine triviale Handlung, ungefähr auf dem Niveau von Enid Blytons "Fünf Freunde" oder den "Drei Fragezeichen". Eine Jahrtausendstory - Jesus - trifft auf die andere - Der Heilige Gral -, vermischt sich mit dem aktuell modischen Interesse am alten Ägypten und immer modischer Paranoia, wie den beliebten Apokryphen: Jesus war eigentlich ein moderner Hedonist, verheiratet mit - da schau her! - Maria Magdalena, mit der er auch Kinder zeugte - so so -, und die Kirche, die katholische zumal, ist - genau, genau! - böse. Der Heilige Gral, das ist die letzte Nachfahrin Christi, die wie ein fleischgewordener Kelch, dessen Blut in die Gegenwart transportiert. Und die Weltgeschichte ist nicht zuletzt ein Kampf zwischen diesen bösen Priestern - Päpste, Opus Die und so - und guten aufgeklärten Rittern eines Geheimordens, dem unter andere, Isaac Newton, Descartes und Leonardo Da Vinci angehörten, und die der unterdrückten weiblichen Seite des Christentums wieder zu ihrem Recht verhelfen wollen.

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So weit, so krude. Wer nur einmal Monthy Pythons DIE RITTER DER KOKUSNUSS gesehen hat, kann derlei nicht mehr wirklich ernst nehmen, und wünscht sich zugleich, die britischen Komiker hätten THE DA VINCI CODE gekannt, um mit diesen Motiven ihre Späße zu machen. Andererseits hat immerhin Steven Spielberg in seinen vier INDIANA JONES-Filmen gezeigt, wie man Geschichte und Mythologie als Steinbruch benutzen, mit Pseudowissenschaft, Paranoia und populären Stars vermischen und daraus nach dem Muster einer Kindergeburtstagsschatzsuche großartige Kinounterhaltung zaubern kann.

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In diesem Sinn ist THE DA VINCI CODE eigentlich genau der Stoff, den globales Blockbusterkino heute braucht. Ron Howards Verfilmung demonstriert aber auch perfekt, warum diese Form des Kinos derzeit nicht richtig funktioniert, warum Hollywood in den letzten Jahren einen Megaflop an den nächsten reiht: Denn die Macher haben derzeit schlicht gesagt zuviel Angst. Ökonomischer Druck und konservativer Zeitgeist gehen ein fatales Bündnis ein, der Wunsch, es allen recht zu machen und Angst vor der eigenen Courage lähmen die Fantasie. Keine visuellen Exzesse, keine ironischen Witze a la Spielberg, keine exzentrischen Kameraeinstellungen, keinen Spott auf religiöse Überzeugungen. Aufregende Bilder liefern allenfalls kurze Illustrationen der minutenlangen Monologe, in denen die Figuren über Feinheiten der Überlieferung oder der Ikonographie der Renaissancemalerei dozieren, oder das aus TV-Dokumentationen gewohnte "Reenactment", die Nachstellung historischer Ereignisse oder Bilder in Kamerarhetorik auf Volksschulniveau. So wirkt Überhaupt THE DA VINCI CODE wie eine überlange "Terra X"-Folge.

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Man erkennt sie sofort: Die großen dunklen Rehaugen, das artig geschnittene Haar, die Kleider mit den Blümchen drauf, 160 Zentimeter klein und zerbrechlich: Audrey Tautou, die im DA VINCI CODE die Kryptologin Sophie spielt. Die inzwischen 27-jährigeTautou versucht immer noch, ein Leben nach AMÉLIE zu führen. Eigentlich, das hat sie nach AMÉLIE ziemlich deutlich gesagt, mag sie auch keine US-Blockbuster, "Action, aber europäisch!" meinte sie damals, und darum verwundert es ein wenig, dass sie jetzt, nachdem sie andere entsprechende Angebote über Jahre abgelehnt hat, nun in genau so einem Blockbuster zu sehen ist. Zu lange sollte man sich über diesen Meinungswandel aber nicht wundern, Tautou steht weitaus fester auf dem Boden der Tatsachen, als man glauben mag, wenn man sie mit ihrem AMÉLIE-Auftritt verwechselt. Mit THE DA VINCI CODE wird es Tautou jetzt endgültig geschafft haben, ein internationaler Star zu werden, wenn auch womöglich der unbekannteste von allen. Sie wird jetzt wieder viele Angebote aus Amerika ablehnen und mit etwas Glück in ein paar europäischen Filmen auftauchen. Oder sollte Hollywood ihr doch beim nächsten Mal etwas geeignetere Rollen anbieten? Vielleicht ein Remake von FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY'S? Nach Audrey Hepburn wurde sie immerhin benannt.

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Vor fünf Jahren übrigens lehnte man Tautou's "Amélie"-Auftritt beim Filmfestival von Cannes ab. Jetzt kommt sie hier endlich an, als Französin in einem US-Blockbuster, der so blockbustig ist, wie er nur sein kann. Sozusagen als Jeanne D'Arc des amerikanischen Kulturimperialismus. Auch ein Triumph.

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Der deutsche Film ist nach zwei Jahren im Wettbewerb diesmal nur in Nebenreihen präsent - was auch daran liegt, dass die Berlinale mit über 50 Filmen in diesem Jahr kaum etwas für Cannes übrig ließ. Allerdings wurden mit Stefan Krohmers im Geist von Rohmer verfilmter Feriengeschichte SOMMER 04 AN DER SCHLEI mit Martina Gedeck in der Hauptrolle und Matthias Luthardts beklemmendem bürgerlichen Kammerspiel PING PONG zwei Filme geladen, die für das junge neue deutsche Kino stehen: Sommerlich und trotzdem gedankenvoll sind sie eine gute Wahl fürs Mekka des Kinos, das Cannes auch in diesem Jahr natürlich wieder ist.

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Ein paar schöne Dialog-Sätze fallen im DA VINCI CODE übrigens schon: "You used me." - "God uses us all." etwa, eine Antwort, mit der sich in Zukunft jeder Beziehungsdisput wunderbar beenden lässt. Mein Lieblingssatz lautet: "Grail-quest requires sacrifice". Und da wir hier alle auch Jäger des verlorenen Kino-Grals sind, werden wir in den nächsten Tagen bestimmt noch einige Opfer bringen.

Rüdiger Suchsland

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