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Berlinale 2006 13.02.2006
 
 

Zoo-Palast.
Bären, Fliegen, Rotkehlchen und andere Berlinale-Viechereien

WHERE THE TRUTH LIES

Pappe, Filz und Wolle:
THE SCIENCE OF SLEEP

 
 
 
 

Okay, okay. Wir haben uns vertan. Unser früher Goldener Bär-Tip ging daneben - wobei sich OFFSIDE immerhin den Silbernen Meister Petz mit dem dänischen Transen-Drama EN SOAP teilen durfte. Aber zu unserer Entschuldigung: GRBAVICA - ein Drama über die Nachwirkungen der Vergewaltigungen im Krieg in Sarajevo - war als Sieger nun wirklich eine Überraschung. Den hatte keiner auf der Rechnung. (Buchstäblich nicht: Die Kulturredaktion des Tagesspiegel hatte, wie wir aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen wissen, intern einen Wettpool laufen. Nicht einer der Teilnehmer hat auf GRBAVICA gesetzt.)

Wie sich das traditionell gehört, habe ich selbst den Siegerfilm mal wieder nicht gesehen, kann also nicht viel dazu sagen, wie berechtigt oder unberechtigt die Auszeichnung in meinen Augen ist. Soviel aber steht zu befürchten: Wie schon letztes Jahr bei der Soweto-Oper U-CARMEN E-KHAYELITSHA dürfte dies einer jener Preis-Entscheidungen werden, die kaum spürbare Wellen im öffentlichen Bewusstsein oder dem Gang der Kinogeschichte schlägt. Von allem, was ich über den Film gehört habe, scheint es keinen Grund zu geben, ihm den aufgebundenen güldenen Bären nicht zu gönnen. Aber ebensowenig einen, ihn halbwegs zwingend zu rechtfertigen - oder, andersrum, sich darüber richtig aufzuregen. Das ist nämlich das eigentlich Seltsame an dieser Entscheidung: Es herrschte während des Festivals keine Aufregung um GRBAVICA. Es gab keine große Diskussionen um den Film, keine Lobeshymnen, keine Verdammungsreden; viele Zeitungen hatten ihn nicht einmal besprochen; in den Kritiker-Rankinglisten dümpelte er unauffällig im guten Mittelfeld. Es war einer dieser Filme, die im allgemeinen Bewusstsein kaum stattfanden.

Und das sind heute schlechte Voraussetzungen für solch einen Siegerfilm. Leider sind die Zeiten vorbei, in denen einer der großen Festivalpreise im Kinogeschäft noch von sich aus etwas zählte. Als goldene Palmen, Löwen, Bären noch ganze Karrieren machen konnten und ein solcher Überraschungssieg mehr ausgelöst hätte als Schulterzucken. Das gemeine Kinogeher-Volk interessiert sich nicht mehr a priori für den Ausgang dieser Wettbewerbe, sieht den Sieg nicht mehr als Adelung an, die zwingend neugierig macht auf den Besuch des Films. Solche Preise haben nicht mehr selbst die Kraft, die Aufmerksamkeit für zuvor obskure Filme zu wecken. Die Preise müssen inzwischen selbst um öffentliche Aufmerksamkeit buhlen. Um noch als bedeutsam wahrgenomme zu werden, müssen sie sich ihrerseits an Filme hängen und vergeben, die schon im öffentlichen Bewusstsein herausragen. Da braucht es große Namen, eine schlagzeilentaugliche Story drumrum (z.B. das immer beliebte "Deutscher Film gewinnt!"), oder wenigstens schon während des Festivals eine handfeste Kontroverse um den Film.
Man kann diese Realitäten ruhig traurig finden, und man will ja auch nicht wirklich künftigen Jurys vorschreiben, sich danach statt nach ihrem besten Wissen und Gewissen zu richten. Aber es bleibt das ungute Gefühl, dass eine solche Entscheidung diese Zustände eher noch verschärfen wird - es ist das zweite Jahr in Folge, in dem der Goldene Bär die Öffentlichkeit nicht mehr wirklich bewegt und erreicht, und dem Grundinteresse für den Preis ist das wahrscheinlich nicht zuträglich.


WELLEN, WEIßWEIN, WOLLE

Es hapert aber einfach auch schon bei der der Jury zur Begutachtung anheimgegebenen Vorauswahl. Da ist zuviel Proporzdenken am Werk, wird zuviel auf Nummer Sicher gegangen. Wo sollen sie denn da auch sein, die großen cineastischen Überraschungen, die sich vergolden ließen?
Man nehme nur die asiatischen Beiträge im Wettbewerb, INVISIBLE WAVES und ISABELLA: Beides schöne Filme, fraglos. INVISIBLE WAVES (fotografiert von Kult-Kameramann Christopher Doyle) war da am stärksten, wo er am handlungsärmsten war. Herrlich die lange Sequenz, in der der Protagonist eine Überfahrt durchmacht in einer winzigen Kabine direkt neben dem Maschinenraum auf einem halb tatiesque, halb kafkaesk wirkenden Kreuzfahrtschiff. Weniger herrlich das lange Drama danach um einen Gangsterboss. (Wobei generell die Pressekonferenz zu dem Film noch unterhaltsamer und memorabler war als der Film selbst. Danke eines schon um 11 Uhr vormittags mit einem Weißweinglas einlaufenden Chris Doyles - und es schien nicht, als wäre es sein erstes -, der mehr oder minder die Moderation an sich riss ("Stupid question. Next." "But I..." "NEXT!" - und die Frage war wohlgemerkt nicht an ihn gerichtet...) und eine teils etwas peinliche, teils in der Leidenschaft für seine Kunst begeisternde Show ablieferte.)
Und ISABELLA hatte neben einer der interessanteren Varianten zum Thema Inzest der letzten Kinojahre viel Schönes am Rande zu bieten, wie einen dauern mampfenden Anthony Wong in einer Gastrolle oder ein Trinkduell zwischen zwei Mädchen um einen Mann.
Aber es waren beides keine Filme, die lang im Gedächtnis blieben, die einem neue Perspektiven auf den asiatischen Film, das Kino allgemein oder (höchstes Ziel) das Leben zu eröffnen.

Immerhin in die Wettbewerbs-Reihe geschafft, aber nur außer Konkurrenz, hatte es Michel Gondrys THE SCIENCE OF SLEEP, der bewies, dass Gondry den visuellen Einfallsreichtum seiner Musikvideos doch auch auf Spielfilmlänge durchhalten kann und nicht immer so verquasselt werden muss wie in ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND. Der wunderschöne Film ist eine Art sehr persönliches Handarbeitsprojekt - voller Animationssequenzen mit Modellen und Kulissen aus Pappe, Filz, Wolle, und auch wenn er sich als Film über die Liebe tarnt, geht es doch mehr um die Sehnsucht nach der Kindheit und nach einer Mutter, nicht nach einer echten Partnerin.
Wahrscheinlich war's aber auch wurscht, dass Gondrys Film nicht zur Preisauszeichnung freigegeben war, weil er der Jury ziemlich sicher zu witzig, verspielt, verschroben, individuell und autobiographisch gewesen wäre und bei weitem nicht politisch genug. Dass er nicht als ein Statement getaugt hätte, war vermutlich auch einer der Hauptgründe, warum es keinen Bären für Robert Altmans A PRAIRIE HOME COMPANION gab, obwohl der bei erheblichen Teilen von Publikum und Kritik zu den Favoriten zählte. Und man hätte es ihm gegönnt, dem alten Mann und Meister, hier nochmal mit einer Statuette bedacht zu werden - auch wenn der Film freilich nicht die eben eingeforderten cineastischen Überraschungen barg: A PRAIRIE HOME COMPANION ist ein Werk des Abschieds, ist nochmal eine Summe des Altmanschen Schaffens, mit Anklängen an fast alle seine bisherigen Filme; es ist ein Schwanengesang im Country-Stil, eine beschwingte Elegie auf eine verlorene amerikanische Kunstform - die titelgebende Live-Radioshow -, ein künstlerisches Vermächtnis voller Zoten. Man spürt, so munter und musikalisch vieles ist, den ganzen Film durch, dass Altman sich mit ihm so langsam ans Hinübergehen macht. Und dass er, mit nur leichter Wehmut, mit dem baldigen Sterben leben kann: "The death of an old man is not a tragedy," heißt es an einer Stelle, und es ist wohl das heimliche Motto des Films.

ES BLEIBT ALLES ANDERS

Aber zurück zur kleinen Tragödie des vergebenen Bären: Ob die Jury angebissen hätte, wenn man ihnen solche Köder vorgesetzt hätte, bleibt fraglich, aber jedenfalls liefen in den Panorama- und Forums-Reihen einige Filme, bei denen man sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass sie bestens dazu getaugt hätten, den Wettbewerb zumindest etwas lebendiger und aufregender zu gestalten.
Warum zum Beispiel aus Asien ausgerechnet ISABELLA und INVISIBLE WAVES? Da hätte Spannenderes zur Auswahl gestanden. Gut, auch unser alter Freund Sabu hat diesmal mit SHISSO einen Beitrag abgeliefert, der sich nicht gerade revolutionär von anderen poetischen, japanischen Coming-of-age-Filmen abhebt. Ausnahmsweise mal kein eigener Stoff, sondern eine Romanverfilmung, mit über zwei Stunden ungewohnt lang, und, noch überraschender, keine skurrile Komödie. Beim ersten Sehen schön, aber nicht gerade überwältigend - aber auch einer der Filme, die man gerne nochmal außerhalb des Festivals sehen würde, wenn sie mehr Raum haben, ihre ruhige Wirkung zu entfalten.

Doch wie wär's hiermit gewesen, um den Wettbewerb mal gescheit aufzumischen?: Dem neuen Takashi Miike - mit Abstand mein Favorit des gesamten Festivals; der eine Film, bei dem ich wirklich dauernd ein Gefühl von "Wow!" hatte.
Man muss freilich sagen: Takashi Miike ist inzwischen total vorhersehbar geworden. Da überrascht nichts mehr. Da weiß man schon vorab: Jeder neue Film von ihm wird alles über den Haufen schmeißen, was man über das Kino zu wissen glaubte, wird die Grenzen dessen neu definieren, was mit dem Medium Film möglich ist, und wird Wege gehen, die man von Miike nicht erwartet hätte. Man möge jetzt bitte von mir nicht den Versuch erwarten, 46 OKU NEN NO KOI (engl. Titel: BIG BANG LOVE - JUVENILE A) irgendwie zu erklären. Selbst ihn zu beschreiben fällt schwer. Es ist eine lose aus und um einen Krimi-Plot um einen Mord in einem Jugendgefängnis gesponnene Meditation um Männlichkeit, Vergänglichkeit, Begehren und Zeit (oder so ähnlich, oder vielleicht doch ganz anders...), mit filmischen Anleihen von Fassbinder bis DOGVILLE. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Film gesehen zu haben, der mir so sehr vorkamm wie Lyrik; der Erzählkino so sehr auf eine assoziative, rhythmische, intuitive, poetische Weise funktionieren ließ. Verstehen kann man diesen Film kaum, aber man begreift ihn, auf einer Ebene, die eben nicht in ein paar klare, rationale Sätze transponierbar ist.
Als nächstes, hat Meister Miike auf der Pressekonferenz verkündet, werde er was ganz anderes machen, werde er versuchen, sich und sein Kino wieder neu zu erfinden. (Ich sag ja: Der Mann ist SO vorhersehbar...) Geplant hat er einen japanischen Italowestern, der alles zuvor Gesehene in den Schatten stellen soll.

HEER DER FLIEGEN

Und warum auch kein japanischer Italowestern, wenn's schon einen australischen gibt?: Mit einem solchen war nämlich kein Geringerer als Nick Cave am Start. Von ihm stammte Drehbuch und Musik zu THE PROPOSITION; der Meister war auch selbst bei der Premiere anwesend (und im Publikum saß Tante Blixa, obwohl der bei den Bad Seeds nicht mehr klampfen darf), mit einer Bart- und Haartracht, mit der er problemlos eine Zweitkarriere als Darsteller in mexikanischen Pornos anstreben könnte. Cave beschränkte sich aber auf's cool ins Publikum winken; das Reden überließ er John Hillcoat, dem Regisseur des Films.
THE PROPOSITION tarnt sich mit historischen Fotografien im Vor- und Nachspann notdürftig als Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel aus der Geschichte Australiens, aber er tut nicht viel, um dieses Deckmäntelchen zu füllen - er ist in Wahrheit eine filmische "Murder Ballad", ein pervers-romantisches Vollbad in Tod, Gewalt und Verwesung. Zurückhaltung übt nur Caves Musik - ihren genialsten Moment hat sie, als sich über Minuten fast unmerklich ein einziger, leiser Akkord auf der Tonspur unter das Summen von Schmeißfliegen mischt und langsam daraus hervorschält. Fliegen gibt es mehr als genug in THE PROPOSITION, kaum eine Szene, durch die sie nicht surren und schwirren - als wüssten sie, dass auch das lebende Fleisch in der Welt dieses Films bald zu Aas werden wird. THE PROPOSITION ist ein Film von ungeheurer Gewalttätigkeit, und ich bin nie ganz den Verdacht losgeworden, dass er es in Caves Vorstellung auf eine eher unreife, pubertäre Art hätte sein können. Aber unter Hillcoats Regie und mit einem Aufgebot großartiger Schauspieler (Emily Watson, John Hurt, Ray Winstone, Guy Pearce) bekommen nicht nur die Bilder eine überwältigende, elegische Kraft, sondern auch die Gewalt eine emotionale Resonanz. Der Film ist nicht planlos explizit in seiner Darstellung, er zeigt meist nur sekundenschnell, schlaglichtartig genau die extremen Details, die einen den Schmerz, die Brutalität spüren, miterleiden lassen, die einen rausreißen aus den gewohnten Mustern der Ästhetisierung von Gewalt.
Eine der heftigsten Momente ist etwa die Auspeitschung eines zu 100 Schlägen verurteilten Mannes: Man kennt das aus unzähligen anderen Filmen, dass man den Anfang der Bestrafung erlebt und dann später zu der Szene zurückkehrt, um Zeuge des Endes des Countdowns zu werden. Auch THE PROPOSITION blendet einen Teil der Prozedur aus, und als er wieder einsteigt, ist der Rücken des Gefangenen nur noch in Fetzen, der Bestrafer muss das Blut regelrecht aus der Peitsche wringen, und man wartet auf das Zählen der vermeintlich letzten Schläge, und dann kommt das "39,... 40".

Ich hätte zu gern erlebt, was losgewesen wäre, wenn THE PROPOSITION im Wettbewerb gelaufen wäre. Und ich behaupte: Er hätte die künstlerische Größe gehabt, um mehr abzugeben als nur einen oberflächlichen Skandal.
Andererseits - und als Gegengewicht zu dem todesschwangeren Fliegengeschwärme - hätten dort auch zwei sprechende Rotkehlchen verdient gehabt, landen zu dürfen: Die schwirrten nämlich durch Neil Jordans BREAKFAST ON PLUTO (seine zweite Patrick McCabe-Verfilmung nach THE BUTCHER BOY) - ein wunderbar überbordender, witziger, aber nie oberflächlicher, nie Geist und Gefühl vernachlässigender Film über einen irischen Transvestiten zur Hochzeit der "troubles". Alles mögliche ließe sich davon lobpreisen und erzählen, unzählige Details erwähnen (z.B. dass Bryan Ferry einen Gastauftritt als Mörder hat!) - aber was muss man mehr sagen, um die Bedeutung dieses Films zu verdeutlichen, als dass in ihm die Wombles vorkommen! Jawoll, die Wombles! Endlich mal ein "period-movie", der weiß, wie man WIRKLICH den Geist der Siebziger illustriert.

NÄHE UND NACKTHEIT

Ich fürchte, ich habe ein bisschen zuviel am Wettbewerb rumgemeckert: In vielerlei Hinsicht bot er im Schnitt eine der stärksten Auswahlen der letzten Jahre. Aber das fühlt sich insgesamt oft schwächer, unbedeutender an, als wenn es nur ein paar einzelne, aber extremere Ausreißer nach Unten und Oben gibt: Man ist's während des Festivals selbst zwar eher zufrieden, weil die Grundversorgung stimmt. Aber es bleibt danach weniger hängen.
Und so schien's mir insgesamt mit dieser Berlinale: Eigentlich das im Durchschnitt beste Programm seit Jahren. Aber nicht eines der im Einzelfall memorabelsten.
Immerhin habe ich persönlich es geschafft, während der ganzen Berlinale keinen einzigen wirklich ärgerlichen Film zu sehen, und das Glück muss man bei einem solchen Festival erstmal haben. Am enttäuschendsten war noch Chen Kaiges WU JI, mit dem die Chinesen das Erfolgsrezept von Zhang Yimous HERO und HOUSE OF FLYING DAGGERS wiederholen wollten: International renomierter Arthouse-Regisseur wird auf das altehrwürdige Populär-Genre Wuxia losgelassen. Aber nicht nur fehlen diesmal richtig gute Martial Arts-Einlagen - der Look ist ein einziger bunt-digitaler Pixelquatsch und -matsch, was zuverlässig jedes aufkommende Feeling niederhält. Nur das Finale ist dann so hochgradig melodramatisch, dass doch noch etwas Emotion hochköchelt und man halbwegs versöhnt wird.

Es war eine seltsam zweigeteilte Berlinale. Fast hektisch vollgepackt die erste Hälfte - und dann schien nach dem Wochenende schon alles so gut wie vorbei. Da waren nicht nur die meisten Stars und mit ihnen ein erheblicher Teil der Berichterstatter schon wieder aus der Stadt gezogen.
In der zweiten Hälfte konnte man sich dann die interessant wirkenden Filme einzeln aus dem Programm picken, statt aus dem Vollen zu schöpfen. Da gab es zum Beispiel noch KOMM NÄHER, ein gelungenes Improvisations-Experiment um das Thema Einsamkeit und Angst vor Nähe von Vanessa Jopp, dem einerseits das Glück eignet, mit Meret Becker (heftig und überzeugend gegen ihr Kindfrau-Image anspielend), Stefanie Stappenbeck, Fritz Roth, Marek Harloff und Heidrun Bartholomäus Schauspieler zu haben, die hervorragendes Material liefern, und das andererseits den editorischen Verstand hat, dem Ganzen eine Form zu geben, die nicht wie sonst so gern bei Impro-Arbeiten ausufert und zerfasert.
Und da war noch Mary Harrons THE NOTORIOUS BETTIE PAGE über das legendäre Pin Up- und Fetisch-Model der Fünfziger. Ein zutiefst netter, ein braver Film. Was man ihm durchaus als Schwäche auslegen kann. Aber was auch sehr im Einklang ist mit dem Charakter Pages, wie der Film ihn zeichnet: Für diese Bettie (überraschend überzeugend verkörpert von Gretchen Moll) ist fast alles ein einziges Spiel, sie begegnet den Menschen und dem Leben mit einer begeisternden Offenheit. Klar wird dadurch, dass der Film sich diese Sichtweise weitgehend zu eigen macht, manches unter den Teppich gekehrt oder zu distanzlos serviert. Aber andererseits ist es in einem heutigen US-amerikanischen Film schon enorm viel, wenn er es schafft, einen völlig nackten Frauenkörper auf eine Weise zu zeigen, aus der nichts spricht außer einer wunderbaren Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit, Lebenslust und Selbstbestimmtheit.

GÖTTINNENDÄMMERUNG

Und weil wir grade bei Traumfrauen sind: Der große Vorteil des Versiegens des Angebots in den normalen Reihen während der zweiten Berlinale-Hälfte hatte freilich den einen großen Vorteil, dass man sich um so ungestörter der Retro über "Traumfrauen der 50er" widmen konnte. Und die bot halt nicht zuletzt auch jede Menge TraumFILME - egal in welchem Kontext, Werke von Douglas Sirk oder einen all-time-favorite wie JOHNNY GUITAR mal wieder auf Leinwand zu sehen, macht immer glücklich.
Was nicht heißen soll, dass ich Joan Crawford in JOHNNY GUITAR nicht großartig finde. Oder dass ET DIEU CRÉE LA FEMME allzuviel Interessantes zu bieten hätte AUßER Brigitte Bardot.
Aber es musste nicht immer Begeisterung für die Frauen vorhanden sein, um die Filme zu genießen. Doris Day zum Beispiel, Miss Antisepsis schlechthin, ist wirklich nicht geeignet, mein Männerherz höher schlagen zu lassen. Obwohl man bei Michael Curtiz' I'LL SEE YOU IN MY DREAMS von 1951 zumindest noch vage ahnen kann, was Groucho Marx meinte, als er sagte: "I knew her before she became a virgin." Aber Doris Day, in just diesem Film, die in Blackface (sic!) Al Jolsons "Tootsie" singt - ja, da bumpert das Cineastenherz, weil das ist unglaublich, das ist bizarr, das macht Stimmung, da muss man dabei sein, kommen Sie, schauen Sie...
So richtig zum Träumen aber, was wundert's, Audrey Hepburn in ROMAN HOLIDAY. Ja, da kann man schmachten und sehnen - und bekommt eine Ahnung, was es vielleicht war, was all den neuen Filmen auf der Berlinale gefehlt hat. ROMAN HOLIDAY ist ja kein Film, der von seinem Drehbuch her soviel Einzigartiges, Überwältigendes, Unwiederholbares machen würde. Es ist - wie immer - nicht das Was, es ist das Wie, das den Zauber ausmacht. Und dieses überirdische Schwarz-weiß, diese Liebe der klassischen Hollywood-Ausleuchtung zu Audreys Gesicht, diese stolze, selbstverständliche Künstlichkeit und Überhöhung: Sie sind dem Kino weitgehend abhanden gekommen, es scheint sich davor zu schämen. Das Kino hat verlernt, die Menschen auf der Leinwand zu Göttern zu machen. Und da muss es nicht wundern, wenn es manchmal allzu profan wirkt.

Thomas Willmann

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