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Ein Streifzug durch das 36. Internationale Forum des Jungen
Films.
Auf Festivals ist es spätestens nach dem dritten Tag
entscheidend, Tag und Nacht in der Gleiche zu halten, nicht
zu vergessen, aus dem Dunkel auch mal ans Licht zu gehen.
Aber gerade das, auch tagsüber mit der Außenwelt
Kontakt zu halten, wurde dieses Jahr erschwert, nicht nur
durch die zahlreichen Empfänge, Kellerfeten und den neuen
Wohnzimmercharme des Arsenals, sondern maßgeblich auch
durch die im Forum wiedereingeführte Midnight-Filmreihe.
Zwar waren die Filme von Nakagawa Nobuo dankenswert kurz,
aber dennoch tritt auch der motivierte Filmbesucher spätestens
um 1 Uhr morgens den Kampf gegen seine Lider an, die sich
ermattet über seine müden Augen senken und ihnen
eine ganz andere, sehr erholsame Dunkelheit schenken wollen.
Dabei war der Blick in das Werk des japanischen Regisseurs
nicht frei von Risiko. Die Filme aus den 50er und 60er Jahren
waren unheimliche Gespenster-Inszenierungen wie THE MANSION
OF THE GHOST CAT, skurrile Murder Mysteries um den Detektiv
Dandy, die in den 50er Jahren als Serie in Japan gezeigt wurden.
JIGOKU, der als früher Klassiker des japanischen Horrorfilms
gilt, wirkte aus der zeitlichen Distanz heraus auch sehr komisch,
wie eine überdrehte Fahrte in einer provinziellen Geisterbahn,
bei der man hinter jedem Schreckgespinst den mechanischen
Fallstrick erkennt.
Vielleicht hätte der Auftakt zu dieser Berlinale der
selbstverschuldeten Schlaflosigkeit nicht gerade mit Alan
Berliners WIDE AWAKE passieren sollen, zeigte er doch, wie
sehr das Filmemachen und die Gedanken an Filme den Kinobesessenen
zur "Nachteule" machen. Berliner, der schon in der
Vergangenheit durch persönliche Filme wie NOBODY'S BUSINESS
oder THE SWEETEST SOUND sehr vergnügliche Nabelschauen
gezeigt hatte, stellte sich einmal mehr als hypochondrischer
Nanni Moretti des amerikanischen Dokumentarfilms heraus. Seit
Jahren lebt Berliner gegen die Uhr. Er kann nur arbeiten,
wenn alles schläft, hat aber tagsüber Termine, die
er wahrnehmen muss. Unruhig, weil sein Projekt ihn eigentlich
nicht ins Bett lassen will, er aber am nächsten Tag wieder
die Geschäfte am Laufen halten muss, wälzt er sich
nach selbstverordneter Bettruhe stundenlang in seinem Kopfkissen
herum, was er durch Night-Shots für den Zuschauer festhielt.
Die Folge am anderen Tag: Augen, die mühsam den Zustand
von Wachheit vortäuschen, Ausfälle im Sprachzentrum,
Mühe, am sozialen Leben teilzunehmen. Bis wieder die
Nacht kommt, Berliner in seine Archive abtauchen und sein
eigentliches Leben als Filmemacher wieder aufnehmen kann.
Selbstironisch analysiert Berliner die fatalen Folgen darüber,
dass sich sein aktuelles Filmprojekt dem zuwendet, was normalerweise
lästige Begleiterscheinung seines Filmemachens ist. Besessen
durch das Thema der Schlaflosigkeit, mit dem er sich jetzt
ununterbrochen beschäftigt, findet er noch schwerer in
den Schlaf, unterhält sich mit Therapeuten, die den Gründen
für sein Wachsein nachgehen, verkabelt sich mit Apparaturen,
die seine Körperfunktionen messen, und verfängt
sich dadurch immer mehr in der Problematik, der er eigentlich
entkommen möchte. Dass der Film am Ende dann kein selbsttherapeutisches
Projekt wurde, verdankt sich der angenehmen Unbelehrbarkeit
des Regisseurs, der seinem Publikum erklärte, dass er
bislang alle Ratschläge in den Wind geschlagen hat, weil
er sein Projekt auf gewohnte Weise zu Ende bringen wollte,
und dies ja gerade mal erst wenige Wochen her ist.
Im Dämmerzustand befand sich dagegen wohl Chantal Akerman,
als sie LÀ-BAS drehte, eine dokumentarische Selbstbetrachtung
mit politischem Anspruch (immerhin ereignet sich ihr Film
in Tel Aviv, unweit eines Ortes, wo ein Attentat stattgefunden
hatte). Akerman wollte ganz auf das Beobachten vertrauen,
absichtslos Bilder einfangen, und dem Zuschauer völlige
Freiheiten über die Interpretation des Gesehenen lassen.
Durch die herabgelassenen Jalousien ihrer Wohnung fängt
sie die Aussicht auf zwei Dachterrassen ein, wo sich die benachbarten
Familien zusammenfinden. Hin und wieder läutet in ihrem
Zimmer das Telefon. Akerman gibt aus dem Off mit ihrer typischen
rauhen-rauchigen Stimme Auskunft über ihren Gesundheitszustand.
Ein Film, der über den Zustand der Rekonvalesenz erzählt,
vom Eingesperrtsein und von Monotonie und Melancholie, die
sich breit machen, wenn man gezwungen ist, immobil zu Hause
zu verharren. Akerman bringt in ihrem Film das unerträgliche
Stagnieren eines auswegslosen Zustands in Reinform zur Darstellung.
Das trieb aber letztlich selbst eingefleischte Bewunderer
der Regisseurin aus dem Kino.
Dass der dokumentarische Blick, der nur beobachten will,
gleichbedeutend sein kann mit einem aktiven "Hinsehen"
der Kamera und mit sorgfältiger Bildkomposition, zeigte
Thomas Arslan in seinem dokumentarischen Roadmovie AUS DER
FERNE. Arslan, der seine Grundschulzeit in Ankara verbracht
hatte, kehrt aus dem fernen Deutschland zurück in die
Türkei und fängt Momente des alltäglichen Lebens
ein. Seine Reise beginnt in Istanbul, er fährt weiter
nach Ankara und taucht von dort aus immer tiefer in den asiatischen
Teil der Türkei ein, bis in die verlassenen Regionen
nahe der iranischen Grenze. Sein Interesse gilt immer wieder
den Kindern, den spielenden Kindern in Istanbul, den Schulkindern
in Ankara, im kurdischen Teil des Landes den Straßenkindern
und den Kindern in den Game Halls. Im autobiographischen Willen,
eine Reise auch zurück in seine eigene Kindheit zu machen,
lässt Arslan zwar das eine oder andere Klischee zu (wie
die Wohlerzogenheit der Schulkinder in Ankara, die Misere
der kurdischen Kinder, die sich auch in Istanbul beobachten
ließe), nie aber ist sein Blick von Nostalgie oder Exotismus
gefärbt. Die Menschen wirken auf seinen Bildern wie zufällig
eingefangen, in der Würde jener, die nicht erst für
einen Film beginnen zu existieren, sondern dies auch souverän,
ohne Kamera und Filmprojekt tun.
Arslan verzichtet darauf, sein eigenes Erleben mitzuteilen,
das Gesehene durch sein Bewusstsein zu vereinnahmen. Nur selten
ruft eine Off-Stimme kurz die Stationen der Reise auf. Ansonsten
vertraut der Film ganz auf seine Bilder. In Istanbul positioniert
Arslan seine Kamera in einer engen, steil aufsteigenden Gasse.
Ein Mann kommt zu Fuß die Straße entlang, gewinnt
langsam Präsenz im Bild. Auf der anderen Seite der kleinen
Straße spielt ein Kind, hangelt sich an einem Treppengeländer
hinauf. In dem verharrenden Blick seiner Kamera produziert
Arslan Ereignishaftigkeit und Spannung, die er aus der Mitte
des Alltäglichen und ganz und gar Banalen entstehen lässt.
Entscheidend ist dabei sein fotografischer Blick auf die Szene.
Die stehende Kamera ist so positioniert, dass sich mit dem
allmählichen Auftauchen des Mannes und der Bewegung des
Kindes bildkompositorische Verschiebungen ergeben, die letztlich
das Ereignishafte der Szenerie ausmachen. Thomas Arslan zeigt
sich hellwach für die ethno- und kinematographische Größe
des Alltäglichen, und dies machte AUS DER FERNE zu einem
der größten Glücksmomente der diesjährigen
Berlinale.
Fast schon ethnographische Züge konnte man auch in LENZ
des Schweizers Thomas Imbach entdecken. Imbach, der in HAPPINESS
IS A WARM GUN dokumentarischen Anspruch mit fiktiven Elementen
inszenierte, bringt hier die literarische Vorlage mit dokumentarischen
Mitteln auf Trab. Die Handkamera drängt sich dicht an
das ungestüme und unzähmbare Wesen des Lenz, viele
der Szenen wirken wie improvisiert, zufällig entstanden,
so, als hätte man ihnen freien Lauf gelassen und angefangen
zu filmen, "wo das Leben beginnt", wie Imbach selbst
sagt. In bester Achternbusch-Manier versucht der Filmemacher
Lenz (Milan Peschl) authentische Touristen in Zermatt in seinen
Film hineinzuziehen. Im Bademantel und barfuß im Schnee
stacksend lädt er die Schickeria des Skiortes zu einer
Tasse Tee in seine bescheidene Hütte ein. All dies ein
Akt von einem, der verzweifelt, der nicht mehr weiß,
wohin, in der Welt, mit sich selbst: Lenz hatte gehofft, beim
Après-Ski die Mutter seines Kindes zurückzugewinnen,
die aber ist nach einigen Entgleisungen seinerseits Hals über
Kopf abgereist. Über den Szenen von Liebe und Verzweiflung,
Gemeinsamkeit und Einsamkeit, thront majestätisch das
Matterhorn, wie eine Verhöhnung der niederen menschlichen
Existenz. Der verlassene Lenz befindet sich nicht nur am Joch
des Matterhorns, er ist im tiefen Abgrund seiner Verzweiflung
angekommen. Diese aber lässt ihn nicht gelähmt zurück.
Sie entfacht in ihm die Energie von einem, der von dem hellwachen
Gedanken an das Leben besessen ist, und wenn sich dieser als
Veixtanz reiner Physis entladen sollte.
Vielleicht verhält es sich mit Filmen ähnlich wie
es Lenz geschah: Die am Rande der marktorientierten Branche
stehen, haben den bewundernswerten Willen, trotzdem da zu
sein. Zwar bleiben sie bei den großen Gesten des Marktes
unbeachtet, aber dies muss nicht unbedingt auf einen Bedeutungsmangel
hinweisen. Das Internationale Forum des Jungen Films ist der
Ort, an dem der großen Berlinale entgegengehalten wird.
"So lebt er hin", heißt es am Ende von LENZ.
Man hätte sich keinen lakonischeren Schluss wünschen
können.
Dunja Bialas
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