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Berlinale 2006 23.02.2006
 
 

Hellwach

WHERE THE TRUTH LIES

Dokumentarischen Roadmovie:
AUS DER FERNE von Thomas Arslan

 
 
 
 

Ein Streifzug durch das 36. Internationale Forum des Jungen Films.

Auf Festivals ist es spätestens nach dem dritten Tag entscheidend, Tag und Nacht in der Gleiche zu halten, nicht zu vergessen, aus dem Dunkel auch mal ans Licht zu gehen. Aber gerade das, auch tagsüber mit der Außenwelt Kontakt zu halten, wurde dieses Jahr erschwert, nicht nur durch die zahlreichen Empfänge, Kellerfeten und den neuen Wohnzimmercharme des Arsenals, sondern maßgeblich auch durch die im Forum wiedereingeführte Midnight-Filmreihe. Zwar waren die Filme von Nakagawa Nobuo dankenswert kurz, aber dennoch tritt auch der motivierte Filmbesucher spätestens um 1 Uhr morgens den Kampf gegen seine Lider an, die sich ermattet über seine müden Augen senken und ihnen eine ganz andere, sehr erholsame Dunkelheit schenken wollen. Dabei war der Blick in das Werk des japanischen Regisseurs nicht frei von Risiko. Die Filme aus den 50er und 60er Jahren waren unheimliche Gespenster-Inszenierungen wie THE MANSION OF THE GHOST CAT, skurrile Murder Mysteries um den Detektiv Dandy, die in den 50er Jahren als Serie in Japan gezeigt wurden. JIGOKU, der als früher Klassiker des japanischen Horrorfilms gilt, wirkte aus der zeitlichen Distanz heraus auch sehr komisch, wie eine überdrehte Fahrte in einer provinziellen Geisterbahn, bei der man hinter jedem Schreckgespinst den mechanischen Fallstrick erkennt.

Vielleicht hätte der Auftakt zu dieser Berlinale der selbstverschuldeten Schlaflosigkeit nicht gerade mit Alan Berliners WIDE AWAKE passieren sollen, zeigte er doch, wie sehr das Filmemachen und die Gedanken an Filme den Kinobesessenen zur "Nachteule" machen. Berliner, der schon in der Vergangenheit durch persönliche Filme wie NOBODY'S BUSINESS oder THE SWEETEST SOUND sehr vergnügliche Nabelschauen gezeigt hatte, stellte sich einmal mehr als hypochondrischer Nanni Moretti des amerikanischen Dokumentarfilms heraus. Seit Jahren lebt Berliner gegen die Uhr. Er kann nur arbeiten, wenn alles schläft, hat aber tagsüber Termine, die er wahrnehmen muss. Unruhig, weil sein Projekt ihn eigentlich nicht ins Bett lassen will, er aber am nächsten Tag wieder die Geschäfte am Laufen halten muss, wälzt er sich nach selbstverordneter Bettruhe stundenlang in seinem Kopfkissen herum, was er durch Night-Shots für den Zuschauer festhielt. Die Folge am anderen Tag: Augen, die mühsam den Zustand von Wachheit vortäuschen, Ausfälle im Sprachzentrum, Mühe, am sozialen Leben teilzunehmen. Bis wieder die Nacht kommt, Berliner in seine Archive abtauchen und sein eigentliches Leben als Filmemacher wieder aufnehmen kann. Selbstironisch analysiert Berliner die fatalen Folgen darüber, dass sich sein aktuelles Filmprojekt dem zuwendet, was normalerweise lästige Begleiterscheinung seines Filmemachens ist. Besessen durch das Thema der Schlaflosigkeit, mit dem er sich jetzt ununterbrochen beschäftigt, findet er noch schwerer in den Schlaf, unterhält sich mit Therapeuten, die den Gründen für sein Wachsein nachgehen, verkabelt sich mit Apparaturen, die seine Körperfunktionen messen, und verfängt sich dadurch immer mehr in der Problematik, der er eigentlich entkommen möchte. Dass der Film am Ende dann kein selbsttherapeutisches Projekt wurde, verdankt sich der angenehmen Unbelehrbarkeit des Regisseurs, der seinem Publikum erklärte, dass er bislang alle Ratschläge in den Wind geschlagen hat, weil er sein Projekt auf gewohnte Weise zu Ende bringen wollte, und dies ja gerade mal erst wenige Wochen her ist.

Im Dämmerzustand befand sich dagegen wohl Chantal Akerman, als sie LÀ-BAS drehte, eine dokumentarische Selbstbetrachtung mit politischem Anspruch (immerhin ereignet sich ihr Film in Tel Aviv, unweit eines Ortes, wo ein Attentat stattgefunden hatte). Akerman wollte ganz auf das Beobachten vertrauen, absichtslos Bilder einfangen, und dem Zuschauer völlige Freiheiten über die Interpretation des Gesehenen lassen. Durch die herabgelassenen Jalousien ihrer Wohnung fängt sie die Aussicht auf zwei Dachterrassen ein, wo sich die benachbarten Familien zusammenfinden. Hin und wieder läutet in ihrem Zimmer das Telefon. Akerman gibt aus dem Off mit ihrer typischen rauhen-rauchigen Stimme Auskunft über ihren Gesundheitszustand. Ein Film, der über den Zustand der Rekonvalesenz erzählt, vom Eingesperrtsein und von Monotonie und Melancholie, die sich breit machen, wenn man gezwungen ist, immobil zu Hause zu verharren. Akerman bringt in ihrem Film das unerträgliche Stagnieren eines auswegslosen Zustands in Reinform zur Darstellung. Das trieb aber letztlich selbst eingefleischte Bewunderer der Regisseurin aus dem Kino.

Dass der dokumentarische Blick, der nur beobachten will, gleichbedeutend sein kann mit einem aktiven "Hinsehen" der Kamera und mit sorgfältiger Bildkomposition, zeigte Thomas Arslan in seinem dokumentarischen Roadmovie AUS DER FERNE. Arslan, der seine Grundschulzeit in Ankara verbracht hatte, kehrt aus dem fernen Deutschland zurück in die Türkei und fängt Momente des alltäglichen Lebens ein. Seine Reise beginnt in Istanbul, er fährt weiter nach Ankara und taucht von dort aus immer tiefer in den asiatischen Teil der Türkei ein, bis in die verlassenen Regionen nahe der iranischen Grenze. Sein Interesse gilt immer wieder den Kindern, den spielenden Kindern in Istanbul, den Schulkindern in Ankara, im kurdischen Teil des Landes den Straßenkindern und den Kindern in den Game Halls. Im autobiographischen Willen, eine Reise auch zurück in seine eigene Kindheit zu machen, lässt Arslan zwar das eine oder andere Klischee zu (wie die Wohlerzogenheit der Schulkinder in Ankara, die Misere der kurdischen Kinder, die sich auch in Istanbul beobachten ließe), nie aber ist sein Blick von Nostalgie oder Exotismus gefärbt. Die Menschen wirken auf seinen Bildern wie zufällig eingefangen, in der Würde jener, die nicht erst für einen Film beginnen zu existieren, sondern dies auch souverän, ohne Kamera und Filmprojekt tun.
Arslan verzichtet darauf, sein eigenes Erleben mitzuteilen, das Gesehene durch sein Bewusstsein zu vereinnahmen. Nur selten ruft eine Off-Stimme kurz die Stationen der Reise auf. Ansonsten vertraut der Film ganz auf seine Bilder. In Istanbul positioniert Arslan seine Kamera in einer engen, steil aufsteigenden Gasse. Ein Mann kommt zu Fuß die Straße entlang, gewinnt langsam Präsenz im Bild. Auf der anderen Seite der kleinen Straße spielt ein Kind, hangelt sich an einem Treppengeländer hinauf. In dem verharrenden Blick seiner Kamera produziert Arslan Ereignishaftigkeit und Spannung, die er aus der Mitte des Alltäglichen und ganz und gar Banalen entstehen lässt. Entscheidend ist dabei sein fotografischer Blick auf die Szene. Die stehende Kamera ist so positioniert, dass sich mit dem allmählichen Auftauchen des Mannes und der Bewegung des Kindes bildkompositorische Verschiebungen ergeben, die letztlich das Ereignishafte der Szenerie ausmachen. Thomas Arslan zeigt sich hellwach für die ethno- und kinematographische Größe des Alltäglichen, und dies machte AUS DER FERNE zu einem der größten Glücksmomente der diesjährigen Berlinale.

Fast schon ethnographische Züge konnte man auch in LENZ des Schweizers Thomas Imbach entdecken. Imbach, der in HAPPINESS IS A WARM GUN dokumentarischen Anspruch mit fiktiven Elementen inszenierte, bringt hier die literarische Vorlage mit dokumentarischen Mitteln auf Trab. Die Handkamera drängt sich dicht an das ungestüme und unzähmbare Wesen des Lenz, viele der Szenen wirken wie improvisiert, zufällig entstanden, so, als hätte man ihnen freien Lauf gelassen und angefangen zu filmen, "wo das Leben beginnt", wie Imbach selbst sagt. In bester Achternbusch-Manier versucht der Filmemacher Lenz (Milan Peschl) authentische Touristen in Zermatt in seinen Film hineinzuziehen. Im Bademantel und barfuß im Schnee stacksend lädt er die Schickeria des Skiortes zu einer Tasse Tee in seine bescheidene Hütte ein. All dies ein Akt von einem, der verzweifelt, der nicht mehr weiß, wohin, in der Welt, mit sich selbst: Lenz hatte gehofft, beim Après-Ski die Mutter seines Kindes zurückzugewinnen, die aber ist nach einigen Entgleisungen seinerseits Hals über Kopf abgereist. Über den Szenen von Liebe und Verzweiflung, Gemeinsamkeit und Einsamkeit, thront majestätisch das Matterhorn, wie eine Verhöhnung der niederen menschlichen Existenz. Der verlassene Lenz befindet sich nicht nur am Joch des Matterhorns, er ist im tiefen Abgrund seiner Verzweiflung angekommen. Diese aber lässt ihn nicht gelähmt zurück. Sie entfacht in ihm die Energie von einem, der von dem hellwachen Gedanken an das Leben besessen ist, und wenn sich dieser als Veixtanz reiner Physis entladen sollte.

Vielleicht verhält es sich mit Filmen ähnlich wie es Lenz geschah: Die am Rande der marktorientierten Branche stehen, haben den bewundernswerten Willen, trotzdem da zu sein. Zwar bleiben sie bei den großen Gesten des Marktes unbeachtet, aber dies muss nicht unbedingt auf einen Bedeutungsmangel hinweisen. Das Internationale Forum des Jungen Films ist der Ort, an dem der großen Berlinale entgegengehalten wird.

"So lebt er hin", heißt es am Ende von LENZ. Man hätte sich keinen lakonischeren Schluss wünschen können.

Dunja Bialas

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