Rätselraten um die Goldenen Bären: Unsicherheit vor der
Vergabe der Preise bei der 56. Berlinale.
Wer bekommt den Goldenen Bären? Auch am letzten Tag
eines durchweg interessanten, wenn auch künstlerisch
nicht übermäßig inspirierten Wettbewerbs hat
sich unter mehreren guten Kandidaten noch kein klarer Favorit
für die begehrte Trophäe herausgeschält. Kaum
überraschend wird Michael Winterbottoms engagiertes Politdrama
ROAD TO GUANTANAMO hoch gehandelt: Ein Film, der haargenau
in die Zeit passt, der dem von Berlinale-Chef Dieter Kosslick
behaupteten Festivaltrend - "Die Rückkehr des Politischen"
- entspricht, und der auch filmisch zum zwingendsten gehört,
das man in den letzten acht Tagen sah. Aber wird der stilistische
Moralist Winterbottom nur drei Jahre nach seinem Berlinale-Gewinn
mit IN THIS WORLD - kurz vor Beginn von Bushs Irak-Abenteuer
auch dies ein politischer Film - schon wieder triumphieren?
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Auch Robert Altman hat Chancen. A PRARIE HOME COMPANION über
das Ensemble einer altmodischen Live-Radioshow bei ihrem letzten
Auftritt, ist ein ausgezeichneter Film, stilistisch perfekt,
ungemein souverän im Selbstbewusstsein, mit dem der Regisseur
hier ein weiteres Mal seine Themen durchspielt, und herzzerreißend
als versteckter Abschiedsgruß eines der besten Filmemacher
der letzten Jahrzehnte. Altman wird am Sonntag 81, und wenn
man ihm den Sieg auch als Geburtstagsgeschenk gönnt,
so vermutet man doch, dass die internationale Jury eher auf
die Zukunft des Weltkinos achtet, als ein Lebenswerk ehrt.
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Kaum jünger ist der 75-jährige Claude Chabrol.
L'IVRESSE DU POUVOIR ist ein weiterer Abstieg in die Niederungen
der französischen Bourgeoisie, für die Chabrol berühmt
ist. Im Zentrum des Politthrillers steht eine prominente Staatsanwältin,
die mit politischen Ermittlungen in der Männerwelt Karriere
macht. Ihr neuester Fall führt sie auf schwarze Geschäfte
eines öffentlichen Betriebs - und bringt sie in Lebensgefahr.
Genüsslich seziert Chabrol den Machttrieb eines Milieus,
die Eitelkeiten und Verführungen der Macht, von denen
sich auch die Ermittlerin in Versuchung führen lässt,
derweil ihre Ehe scheitert. Das Herz des Films ist Isabelle
Huppert in der Hauptrolle - wie immer ein Genuss. Ihren Rollen
bei Chabrol, Haneke und zuletzt Chereau fügt Chabrol
allerdings auch nichts wirklich Neues hinzu. Chabrol gelingt
eine überaus vergnügliche von Süffisanz triefende
Innenansicht der Macht, die aller Ehren wert ist - aber kein
Goldener Bär.
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So bleiben die Deutschen: Während Oskar Roehlers dekoffeinierter
Houellebecq-Aufguss ELEMENTARTEILCHEN bereits eine knappe
Woche nach seiner Premiere wieder vergessen ist, bleibt Matthias
Glasners Vergewaltiger-Drama DER FREIE WILLE ebenso im Gedächtnis,
wie das beachtliche Debüt der Berliner Filmhochschülerin
Valeska Griesebach: SEHNSUCHT ist eine mit Laien inszenierte
große Tragödie aus der Brandenburger Provinz. Entscheidend
ist nicht die Geschichte - ein Bauer geht fremd, kann sich
zwischen zwei Frauen nicht entscheiden und scheitert bei einem
Selbstmordversuch -, sondern die Inszenierung: ein kühler,
konzentrierter Seiltanz zwischen Naturalismus und Künstlichkeit
- und der künstlerisch konsequenteste Film im Wettbewerb.
Ein Preis dürfte beiden Filmen sicher sein, der für
den "besten Film" wäre aber eine Überraschung.
Bleibt Hans-Christian Schmids REQUIEM der als letzter Film
lief. Die Hauptfigur ist ein junges Mädchen, das in den
frühen 70ern von der schwäbischen Alp heruntersteigt
und in Tübingen ein Pädagogik-Studium beginnt. Ihre
Eltern und sie selbst sind streng katholisch, Epileptikerin
ist sie auch noch, und irgendwann im ersten Semester beginnen
die Probleme: Sie hat Anfälle, arbeitet ununterbrochen,
wird zunehmend etwas wunderlich im Verhalten, und schließlich
bekommt sie auch noch religiöse Visionen. Mal meint sie
"ein Dämon" sei in sie gefahren, dann wieder
identifiziert sie sich mit einer Heiligen; von Außen
glaubt man eher, die verständnislose Mutter sei schuld
oder ihre eigene Bigotterie, und vielleicht gehört Michaela
einfach in eine Klinik. Immer weiter spitzt sich das Drama
zu, bis irgendwann ein Teufelsaustreiber geholt wird
Das ist ein atemberaubend spannend, dicht und sehr gegenwärtig
- denn außer um den Stellenwert der Religion geht es
auch um Freiheitsdrang und Selbstbehauptung des Einzelnen.
Stilistisch erinnert der Film an eine Mischung aus BREAKING
THE WAVES und den späten Kieslowski.
Wenn hier die Last und Lust der vielen Filme nicht den Blick
des Berichterstatters trübt, und die Jury nicht die politische
Message noch über künstlerische Intensität
stellen will, wäre REQUIEM am Samstag eigentlich der
perfekte Berlinale-Sieger.
Rüdiger Suchsland |