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Die Berlinale hat ja grade erst angefangen. Noch war kaum
Gelegenheit, Filme anzuschauen. Der Reigen der Pressekonferenzen
hat eben erst begonnen. Da kann man noch gar nicht so viel
sagen. Außer, welcher Film den Goldenen Bären gewinnen
wird. Da ist es immer gut, sich mit den Prognosen früh
festzulegen. Bevor man zuviel über die einzelnen Filme
weiß, oder gar schon die meisten davon gesehen hat.
Das verwirrt nur, da kommen dann solch störende Faktoren
wie Geschmack und Qualität in die Quere. Wo es doch um
eine Mehrheitsentscheidung geht - und eine mit Symbolwert
dazu. Drum sagen wir's Ihnen schon jetzt und hier und heute:
Der Sieger des Festivals wird OFFSIDE heißen. Warum?
Ein iranischer Film um Frauenrechte und Fußball. Auf
einem deutschen Festival mit politischen Allüren im WM-Jahr.
Noch irgendwelche Zweifel? Na eben.
À la recherche du Berlinale perdu
Und noch was steht jetzt schon fest: Der bleibendste Eindruck
des Festivals. Man sagt ja, der Geruch sei jener Sinn, der
am unmittelbarsten und tiefsten mit dem Gedächtnis in
Verbindung stehe. Wenn wir also dereinst, in Ehren ergraut
und mit den Enkelchen um unseren Schaukelstuhl geschart, uns
zurückerinnern werden an die diesjährige Berlinale,
dann mögen die Filme vielleicht alle verblasst sein.
Aber wenn wir dann ein Madeleine in die Schnabeltasse tunken,
dann werden uns diese Festspiele wieder aus den Tiefen des
Vergessens auftauchen wie Gartenzwerge aus einem Loch im zugefrorenen
See. (Dazu gleich mehr...) Dann wird uns der Geruch schnurstracks
zurückbeamen in den Februar 2006. Zumindest, wenn in
der Schnabeltasse sauer gewordenes Himbeerbier ist. So ungefähr
- widerlich fruchtparfümiert-vergoren - nämlich
riechen diesmal die Plastikhalsbänder für die Akkreditierungen.
Und selbst wenn man sein eigenes schleunigst entsorgt haben
sollte, entkommt man dem olfaktorischen Terror nicht. Denn
viele Journalisten und Fachbesucher tragen unerschrocken diese
Dinger, und Journalisten und Fachbesucher sind auf der Berlinale
überall. So hat man dann in jeder Warteschlangen (auch
überall), in jedem Kino mit hoher Wahrscheinlichkeit
diesen Geruch in der Nase. Die besten Theorien zur Erklärung
des Phänomens: Entweder ist's ein neuer Weg der Terrorabwehr
oder zumindest erkennungsdienstlichen Behandlung. Anschleichen
oder verstecken ist für Akkreditierte so nämlich
sinnlos. Man riecht sie kommen. Wahrscheinlich unterhält
die Berlinale in irgendeiner Tiefgarage ein Rudel speziell
abgerichteter Spürhunde. Und wehe dem, der schlecht über
das Festival berichtet. Oder aber, zweite Hypothese, es sind
Weichmacher. Also nicht für das Plastik. Sondern für
die Träger: Vermutlich handelt es sich um psychoaktive
Substanzen. Die die Kritikfähigkeit herabsetzen und über
alle Filmerlebnisse einen Schleier milden Wohlwollens ausbreiten.
Uns soll's recht sein - wenn's (die Filme) schön macht...
Punk-Mock
Und schön waren sie, die ersten paar gesehenen Filme.
Noch nicht die ganz großen Volltreffer. (Außer
Minellis THE BAD AND THE BEAUTIFUL - aber Retro giltet nich',
da steht das ja schon vorher fest.) Aber jeder auf seine Weise
eine kleine Bereicherung des Cineasten-Lebens.
Und - Zufall oder Fügung des Schicksals? - alles Spielfilme,
die stibitzen gegangen sind beim Dokumentarfilm. Zwei, BROTHERS
OF THE HEAD und BYE BYE, BERLUSCONI, sind richtige "Mockumentaries",
einer, SLUMMING, durchbricht in einigen Szenen die Grenze
zwischen inszeniertem und dokumentarischem Material.
Die "Mockumentary" - der (meist komödiantische)
Spielfilm, der so tut, als sei er eine Doku - ist ein zu Unrecht
kaum beachtetes Genre. Es hat solche Perlen hervorgebracht
wie THIS IS SPINAL TAP, Woody Allens ZELIG (und teilweise
THE SWEET AND LOWDOWN) oder Christopher Guests WAITING FOR
GUFFMAN. Vor allem Allen und Guest haben bewiesen, dass das
Genre durchaus auch emotional was hergeben kann, es nicht
nur zur bloßen Satire taugt.
In BROTHERS OF THE HEAD dreht das Regieduo Louis Pepe und
Keith Fulton die Schraube da noch ein, zwei Umdrehungen weiter.
Es überrascht nicht, dass Pepe und Fulton in ihrem ersten
Spielfilm äußerlich dem Format der Doku treu bleiben
- die beiden haben mit THE HAMSTER FACTOR das Making Of zu
Terry Gilliams 12 MONKEYS gedreht (eines der wenigen Making
Ofs, die wirklich den Wahnsinn des Fimemachens einfangen)
und mit LOST IN LA MANCHA das "Unmaking Of" zu Gilliams
unvollendetem Don Quixote-Projekt. Beides nicht zuletzt großartiges
Storytelling in Doku-Form. Und wer wie die beiden weiß,
dass Dokus auch nur eine Art sind, Geschichten zu erzählen,
nur eben unter Einbeziehung vorgefundenen Materials, der braucht
sich fürs Spielfilmdebut nicht stilistisch ganz neu zu
erfinden.
BROTHERS OF THE HEAD nun erzählt die Geschichte eine
Siamesischen-Zwillingsbrüder-Paars, das im England der
Siebziger von einem zwielichtigen Impressario zu Sänger
und Gitarrist einer Punkband gemacht wird. Was deutlich lustiger
klingt, als es der Film tatsächlich durchführt.
Am Anfang hat der Film freilich noch mächtig Spaß
an typischen Mockumentary-Scherzen. Da wird das in die Jahre
gekommene, ewige britische Regie-enfant terrible Ken Russell
zu den Brüdern schein-interviewt, und es werden Ausschnitte
gezeigt aus Russells angeblichem Versuch, aus deren Story
einen Spielfilm namens TWO WAY ROMEO zu machen. Fulton und
Pepe haben sichtlich Freude daran, Russells Manierismen zu
parodieren; in der Szene, in denen die Brüder an den
Impressario verschachert werden, schieben sie ihm auch noch
ein herrlich plakatives CITIZEN KANE-Zitat unter.
Aber hinter all dem lauert etwas Dunkleres, der Film ist Cronenbergs
DEAD RINGERS deutlich näher als THIS IS SPINAL TAP. Es
ist der alte Mythos vom netten und vom bösen Zwilling,
der (gekonnt) durchgespielt wird. Dabei geht es allgemein
um Nähe und Abstoßung, darum, "sich auf den
Leib zu rücken" und was passiert, wenn man sich
dem nicht entziehen kann. Der Film selbst schafft es bestens,
eine eindringliche, aufdringliche Körperlichkeit zu entwickeln.
Anthony Dod Mantle, bewährter Kamera-Kolaborateur von
Lars von Trier, macht hier eine wahre Kunst daraus, schlechte
Haut ins beste, gräuseligste Licht zu setzen - der Film
atmet nicht nur musikalisch eine Punk-Atmosphäre. Und
er lebt vor allem von dem großen Glücksfall seiner
Besetzung: Das reale Zwillingsbrüder-Paar Luke und Harry
Treadaway spielt famos; es besitzt musikalisch Talent und,
was wichtiger ist, Energie, Präsenz (alle Musikszenen
sind live gefilmt); es ist fotogen auf eine Weise, die wirklich
wie direkt aus den Siebzigern teleportiert scheint. Es gibt
eine Szene, in der die beiden Film-Zwillinge interviewt werden
und mit einem Besteck-Messer herumzuspielen beginnen, für
die Kamera so tun, als wollten sie das Stück Fleisch
und Haut durchtrennen, durch das sie knapp unterhalb des Brustkastens
miteinander verwachsen sind. Es ist eine Szene, wie sie so
nur in einer Mockumentary funktionieren kann. Sie imitiert
genau das, was oft auch gute reale Dokus ausmacht: Einen kleinen
Machtkampf zwischen den porträtierten Subjekten und dem
Beobachtungsapparat. Der grade im Moment des Versuchs der
Subjekte, sich selbst zu inszenieren, einen Blick auf die
Wahrheit dahinter öffnet.
Genuines Genua
Auch Jan-Henrik Stahlbergs BYE BYE BERLUSCONI! wird umso
stärker, je mehr er vom Satirischen ins Finstere, Verstörende
kippt. Das hat er mit seinem Vorgänger MUXMÄUSCHENSTILL
gemeinsam. Sonst aber fehlt ihm weitgehend dessen Energie,
Frische, Überraschungskraft. Es geht um ein junges Filmteam
aus Genua, das einen fiktiven Film über eine Entführung
Berlusconis und einen Internet-Prozess gegen den vom Bock
zum obersten Staats-Gärtner gemachten angeblichen Ganoven.
Aus rechtlichen Gründen sind sie dann aber gezwungen,
das ganze zur eindeutig-übertriebenen Satire umzumodeln,
in der die realen Namen nicht vorkommen und Berlusconi zu
(in den englischen Untertiteln:) "Mickey Louse"
wird, einem Melonen-anbauenden Bürgermeister in einem
für Italien einstehenden Entenhausen. Die Spannungen
im Team wachsen, und zudem gerät die Produktion trotz
der Zugeständnisse offenbar in die Schusslinie der gar
nicht amüsierten Staatsmacht.
Das Problem des Films ist, dass diese Idee schnell etabliert
ist und dann über längere Strecken nicht mehr viel
Neues hervorbringt. Am spannendsten wird es dann auch immer
da, wo es nicht nur um die offensichtlich sich stellenden
Fragen nach der Freiheit der Kunst und den Missbrauch der
Macht geht. Sondern wo ein bisschen mehr den auch nicht nur
noblen Motiven der Filmemacher und den Machtverhältnissen
innerhalb des Teams hinterhergespürt wird.
Letztlich ist es aber immer wieder die simple, direkte Kraft
der Bilder, die auf einer Ebene funktioniert, welche alle
eher kopfigen Klimmzüge drumherum nie erreichen:
Da sind die Parodien aufs italienische Fernsehen. Und jeder,
der Berlusconis Haussender schon mal ertragen musste weiß,
wie wenig da satirisch übertrieben wurde (selbst nachzuprüfen
unter www.teleanguria.com).
Da ist der Berlusconi-Doppelgänger, der dem Ministerpräsidenten
so verblüffend ähnlich sieht, dass es einem jedes
Mal wieder einen Stich gibt, wenn er im Film Fieses tut, von
den Entführern erniedrigt wird oder nicht in seiner Rolle
ist und alltäglichen Beschäftigungen nachgeht.
Und da sind schließlich ein paar Dokumentaraufnahmen
von der brutalen Niederschlagung der Anti-Globalisierungs-Proteste
in Genua. In den paar Sekunden, wo man hier Polizisten sieht,
die sich im Rudel auf schon am Boden liegende, sich nicht
wehrende Demonstranten stürzen und diese krankenhausreif
knüppeln, gegen den Kopf stiefeln, in diesen paar Sekunden
wird einem mehr klar über die Zustände in Berlusconis
Italien, und darüber, wo der Wunsch herkommt sich als
Filmemacher irgendwie dagegen zu wehren, als im ganzen Rest
des Films.
Auch Zwerge tauchen auf
Auch bei Michael Glawogger ist die Grenze fließend
zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, wie der Regisseur bei
der Pressekonferenz zu seinem Wettbewerbsbeitrag SLUMMING
auch explizit sagt. Glawogger ist bekannt für seine Dokus
wie MEGACITIES oder WORKING MAN'S DEATH; quasi ein Freund
des Hauses für artechock aber ist er durch seinen vor
SLUMMING einzigen Spielfilm NACKTSCHNECKEN, den in unserer
Filmreihe zu präsentieren wir letztes Jahr das Vergnügen
hatten. Es gibt in SLUMMING eine herrliche Szene, in der Paulus
Manker als leicht verrückter Sandler auf der Wiener Mariahilferstraße
(die Haupt-Einkaufsmeile) selbstgeschriebene Gedichte zu verkaufen
versucht. Die Szene wurde auf offener Straße improvisiert,
mit realen, nichtsahnenden Passanten. Die Szene lebt, wie
es eine bloß inszenierte Variante nie gekonnt hätte.
Und am Ende des Films gibt es eine Szene in Jakarta, der man
ebenfalls anmerkt, dass sie gefunden, nicht ausgedacht wurde,
und nur ein Schauspieler hineingesetzt, hineingeworfen wurde
als Verbindung zum fiktionalen Universum des Films. Es ist
der Auftritt einer Gruppe singender, tanzender Frauen auf
einer kleinen Freiluft-Bühne. Ein Moment von schwer zu
fassender, verschrobener Magie. Und weil auch die im Publikum
anwesende Filmfigur einen kleinen Moment der Verzauberung,
Verwandlung erlebt, der nicht so genau in Worte zu fassen
ist, passt das wunderbar.
Diese Grenzüberschreitungen zwischen Fiktion und Dokumentation
(auch eins der heimlichen Themen von NACKTSCHNECKEN) passen
gut in einen Film, der überhaupt von Grenzüberschreitungen
- realen und metaphorischen - handelt. SLUMMING lässt
sich schwer kategorisieren, tanzt im Niemandsland zwischen
Komödie und Drama, zwischen Sozialrealismus und Surrealismus,
zwischen deutschem und österreichischem Film. August
Diehl als Berliner in Wien spielt eine Art Westentaschen-Tyler
Durden, einen durch Papis Geld finanziell unabhängigen
Schnösel. Dessen Mini-"Project Mayhem" erschöpft
sich in spontanen Streichen gegen arglose Mitmenschen und
in den titelgebenden Ausflügen in "Unterschicht"-Kneipen.
Und darin, Mädchen per Internet zum Date zu bestellen,
wo er ihnen dann heimlich mit der Handykamera unter den Rock
fotografiert. Sein dankbares, willfähriges Publikum ist
ein Spezl (der aus NACKTSCHNECKEN bekannte Grazer Michael
Ostrowski), der erst recht nichts Sinnvolles auf die Reihe
kriegt. Die beiden Helden verfallen eines Nachts auf die Idee,
einen bis zur Bewusstlosigkeit bessoffenen Obdachlosen (eben
der von Paulus Manker gespielte), den sie am Westbahnhof auf
einer Bank finden, in den Kofferraum zu packen und nach Tschechien
zu transportieren, wo sie ihn an einem anderen Bahnhof wieder
auf eine Bank legen. (Oder genauer gesagt: Diehls Charakter
verfällt auf die Idee; die Ideen hat immer er, der Spezl
ist ein klassischer Mitläufer und Reste-Abstauber.) Diese
gewaltsame Grenzüberschreitung wird für alle Beteiligten
zu einem Wendepunkt. Diehls Filmfigur verdirbt sich's dadurch
mit einer eben erst kennengelernten Lehrerin (Pia Hierzegger,
auch eine NACKTSCHNECKEN-Veteranin). Die in dem demonstrativen
Zyniker blöderweise wirkliche Liebe geweckt hat. Sein
Freund wird dadurch endlich doch zum Bruch mit seinem Idol
gezwungen. Die Lehrerin macht sich mit der Theken-Freundin
des exportierten Alkoholikers auf eine Rettungsaktion. Und
der Verschleppte selbst macht sich nolens volens auf eine
abenteuerliche Heimreise, die zur inneren wie äußeren
Odyssee wird.
Womit wir dann endlich doch noch wie oben versprochen zu den
Gartenzwergen im zugefrorenen See kommen. Die ploppen nämlich
plötzlich aus der Tiefe hoch, als Manker in einer Szene
in eben jenen zugefrorenen See einbricht. Wie für vieles
in SLUMMING gibt es dafür keine Erklärung. Man hat
nur eine Ahnung, was das alles bedeuten könnte. Aber
der Film funktioniert sowieso weniger über eine klar
codierte Symbolik, er be- und umschreibt eher eine Welt. Im
Universum von SLUMMING ist das buchstäbliche Auftauchen
der Zwerge schon überraschend, aber völlig stimmig.
Dass in so einem Moment von Todesgefahr unvermittelt das Absurde
sein Haupt über die Wasseroberfläche reckt, passt
in diese Welt, in der fast alles seinen untrennbaren Widerpart
hat. Wo Gefahr wächst, wächst das Lächerliche
auch. Und wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt nirgends
rum. SLUMMING verharmlost die gedankenlose Grausamkeit von
Diehls präpotenten Scherzen nicht. Aber er hegt die Vermutung,
dass manchmal aus den falschen Gründen das Richtige geschieht.
Thomas Willmann
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