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Berlinale 2006 09.02.2006
 
 

Im Brutkasten des deutschen Kinos
Nach fünf Jahren hat sich die "Perspektive Deutsches Kino" auf der Berlinale etabliert.

WHERE THE TRUTH LIES

Franka Potentes Regiedebüt
DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT

 
 
 
 

"Die Berlinale und der deutsche Film. Das war noch nie eine Musterehe. Es ist viel passiert. Und es hat sich nicht viel getan. Wir sind rein quantitativ wieder auf dem Stand von 1981. Ein einziger Film 'reitet für Deutschland'." Genau vor zehn Jahren, 1996, schrieb Alfred Holighaus diese Sätze in einer Berliner Tageszeitung. Ein paar Monate zuvor war der langjährige Film- und Chefredakteur des Berliner Stadtmagazins "TIP" auf die andere Seite gewechselt, und kümmerte sich bei der "Senator Film" um den Filmeinkauf und die Entwicklung eigener deutscher Projekte - die New Economy setzte gerade zum Boom an.

In seinem auch heute noch lesenswerten Artikel ließ Holighaus die wichtigsten Szenen einer permanenten Ehekrise zwischen Berlinale und deutschem Kino Revue passieren, zum Beispiel der Skandal um Michael Verhoevens US-kritischen Wettbewerbsbeitrag "O.K.", der zur Gründung des "Internationalen Forums" führte, das öffentliche Gemotze der Regisseurin Margarethe von Trotta über die Einladungspolitik des Festivals und ihre Forderung, man solle die Berlinale boykottieren - 1995 war sie dann selbst wieder dabei -, die Goldenen Bären für Fassbinder und Hauff, die die Lage auch nicht besser machten, die Kette von tatsächlichen, oft nur vermeintlichen Kränkungen - überhaupt den Ärger der Filmemacher über das Festival, der Medien über die Filmemacher, und des Festivals über die Medien. Es schien insgesamt eine unrettbar zerrüttete Beziehung, nur konnte man sich leider nicht scheiden lassen.

"Es ist vielleicht ein bisschen wie Heiraten," sagt Holighaus heute, um den immer wichtigeren Event-Charakter eines Festivals zu beschreiben. Zehn Jahre nach seinem Artikel feiert man nun am Potsdamer Platz einen zweiten Honeymoon. Vier deutsche Filme laufen im Berlinale-Wettbewerb, über 50 in den übrigen offiziellen Festival-Reihen, Regisseure halten ihre Filme für das Festival zurück oder stellen sie unter Hochdruck gerade eben noch für es fertig; und überall in der Filmszene, die sich selbst gern "Branche" nennt, begegnen einem nur strahlende Gesichter - als wäre die Berlinale immer schon der Lieblingsort der deutschen Filmemacher gewesen. Und Alfred Holighaus sitzt, mit Spezialzuständigkeit fürs deutsche Kino, im Auswahlgremium von Festivalchef Dieter Kosslick und hat darüber hinaus eine von ihm kuratierte eigene Reihe, die "Perspektive Deutsches Kino", die in diesem Jahr, Kosslicks fünfter Berlinale, mit dem fünfjährigen Bestehen ihr erstes kleines Jubiläum feiert.

"Von Anfang an war unser Anspruch: Wir wollten auf der Berlinale den deutschen Film mehr etablieren", so Holighaus im Rückblick, "Wir wollten ihn stärker integrieren, ihm den Stellenwert auch nach Außen geben, den er unserer Meinung nach hat." Im Wettbewerb war das noch vergleichsweise leicht: Da musste man einfach die Zeiten beenden, in denen dort jedes Jahr ausschließlich der neueste Film von Herbert Achternbusch zu sehen war, und einfach mehr deutsche Filme einladen. Aber was sollte man mit dem Nachwuchs tun? Das eine oder andere lief seit jeher - wie heute auch weiterhin - im "Internationalen Forum". Aber nicht jeder deutsche Film hält dem internationalen Vergleich stand, schon gar nicht in einer Reihe mit einer derart dezidierten Arthouse-Tradition, wie sie das Forum nun mal hat. Und längst nicht alles passt überhaupt ins Profil dieser strengsten unter allen Berlinale-Sektionen. Als man sich unter dem damals neuen Leiter Kosslick entschied, aus dieser Situation die Konsequenzen zu ziehen, war dies die Geburtsstunde der "Perspektive". "Wir wollten einen Raum der geschützter ist", erläutert Holighaus, "der dazu genutzt werden kann, erste Erfahrungen zu machen, und wo man, wenn es nötig ist, dem deutschen Film auch helfen kann, Qualität zu entwickeln." Klingt fast ein bisschen wie ein Brutkasten...

Man kann sich nun mit gutem Recht fragen, ob Filme, die den internationalen Vergleich nur schwer aushalten, überhaupt auf einem Festival laufen müssen, das seinen Stellenwert gerade aus dieser Internationalität schöpft? Und ob eine Filmbetrachtung in nationalen Kategorien denn überhaupt noch zeitgemäß ist, wo doch das Kino immer internationaler wird, sich immer stärker für fremde Filmstile und Erzählweisen öffnen müsste? Aber manch anderer wird hier erwidern, das sei nun wieder mal eine typisch deutsche Überlegung, Franzosen und Italiener hätten solche Skrupel noch nie gehabt, darum könne man bei den beiden anderen A-Festivals in Cannes und Venedig auch viel mehr Filme dieser Länder sehen, nicht alle perfekt, aber viele zumindest interessant. Und außerdem sind Filmfestivals immer deutlicher zu Marketingplattformen mutiert. Wenn hier der Gastgeber seine Chance nicht nutzt, vernachlässigt er seine Aufgabe.
Insofern war die Überlegung, dem Nachwuchs des deutschen Kinos eine zusätzliche, ergänzende Plattform zu schaffen, nicht nur in sich stimmig, sondern auch zeitgemäß. Schließlich war Kosslick unter anderem auch gerade als Nachfolger des ewigen Berlinale-Leiters Moritz de Hadeln nach Berlin geholt worden, um dem deutschen Film mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Zwischen Konvention und Anspruch stimmt die Mischung

Seit ihrem Gründungsjahr hat sich die Sektion gut entwickelt: Sie ist jung, aufmerksam, manchmal mutig, und auch wo sie das nicht ist, spiegelt sie zumindest recht präzis den Stand der Dinge - und gerade das unterscheidet sie vom Forum, in der eher einige spezifische Ausnahmen zu sehen sind. Im Vergleich ist die "Perspektive", Holighaus räumt das ein, "etwas offener und etwas populärer - wenn wir das nicht als Schimpfwort nehmen." An zehn Abenden laufen hier erste oder zweite Regiearbeiten junger Regisseure. Manche kommen von Film- und Kunst-Hochschulen, andere sind Autodidakten und Quereinsteiger. Diese Offenheit ist der Vorteil. Die Mischung aus Spielfilm und Dokumentation, Konventionellem und Anspruch stimmt, und man ist für Experimente kaum weniger offen als das Forum. Und auch im Nachhinein hält die aufmerksame Auswahl der schnellen Vergänglichkeit stand - in der "Perspektive" waren zweifellos einige der besten deutschen Filme der letzten Jahre zu sehen. So zeigte man Franz Müllers ebenso originelles wie vergnügliches Weltverlust-Drama "Science Fiction", eine clever-absurde Mischung aus Realität und Fiktion. Auch Stefan Krohmers erster Kinofilm "Sie haben Knut", ein post-68er-Hüttenkammerspiel, das weitaus subtiler, abgründiger und weniger pubertär ist, als Weingartners "Die fetten Jahre sind vorbei", hatte hier Premiere, ebenso die deutsche Antibranchenkompilation "99 Euro-Films", und Martin Gypkens' herausragender episodischer Coming-Of-Age-Film "Wir". Zuletzt reichte die Spannbreite von dem Leipziger Neo-Noirthriller "Katze im Sack" bis zum Ostberliner Neo-Realismus von Robert Thalheims "Netto".

Gerade diese letztgenannte Stilrichtung setzt sich auch bei der heute beginnenden Berlinale fort: Der Anschluss an die Traditionen und den realitätshungrigen Blick des britischen Sozialrealismus, der allerdings - siehe auch Andreas Dresens SOMMER VOM BALKON oder IM SCHWITZKASTEN von Eoin Moore, die derzeit bzw. in vier Wochen im Kino laufen - seinen, in deutschen Filmen ungewohnten Humor damit erkauft, dass vieles im letzten Moment doch in die Harmonie oder eine gewisse Vagheit zurückzuckt.

SCHÖNER LEBEN ist so ein Beispiel. Das sehr interessante Debüt von Markus Herling, der zuvor viel als Regieassistent, unter anderem für Dominik Graf, gearbeitet hat, stellt ganz bewusst die neue Armut ins Zentrum. Herling schildert Zufallsbegegnungen an einem Weihnachtsabend und zeigt, wie seine Figuren nicht nur innerlich, sondern auch materiell Not leiden, etwa schlicht daran verzweifeln, dass sie ihren Kindern nichts schenken können. Besonders wird der episodisch erzählte Film, durch ein originelles Konzept und seine offene Dramaturgie, dadurch, dass er sehr viel den Schauspielern überlässt. Aber auch "Schöner leben" will zum Happy End und verrät damit zu guter Letzt fast ein wenig sein Sujet - wenn er auch vielleicht sein Publikum gerade auf diese Weise zufrieden stellt. "Für die Zuschauer ist das Happy End wichtig", weiß Holighaus. Mit zwei anderen Filmen, "Hochhaus" und "Vier Fenster", die sich ebenfalls auf der Matrix soziale Verwerfungen und des neuen "Hartz IV-Kinos" bewegen, macht er es seinem Publikum aber trotzdem bewusst etwas schwerer.

HOCHHAUS vom Ludwigsburger Filmstudent Nikias Chryssos erzählt von zwei Kindern; die ohne Erwachsene in irgendeinem Häuserblock einer anonymen Peripherie aufwachsen, auf die Hügel der Umgebung blicken und in den Tag hinein leben. Dabei hängen sie ihren Tagträumen nach und spielen sich und den Nachbarn kleinere und größere Streiche. Mit viel Stilwillen, ohne Ken Loachschen Realismusanspruch, wird die Alternative zur alltäglichen Depression nicht so sehr im Humor angeboten, sondern in den Fluchten der Fantasie.

VIER FENSTER von Christian Morris Müller gehört zu den stilistisch interessantesten Filmen der diesjährigen Auswahl. Auch hier ein Hochhausleben. In vier Abschnitten stellt der Film einen vierköpfigen Haushalt vor. In Varianten des alten Spiels Vater, Mutter, Kind offenbart sich die Familie (und mit ihr die Gesellschaft) "als Terrorzusammenhang" (Alexander Kluge) und trotz aller Risse nicht zu retten. Story, starre Struktur und ein - vielleicht - unnötig offenes Ende sind noch das Schwächste an diesem rundum gelungenen Film, den man sich auch in anderen Berlinale-Reihen leicht vorstellen könnte. Hochinteressant besetzt, hervorragend und intensiv gespielt, lakonisch und präzis inszeniert lebt der Film von seiner sehr geschlossenen Form, von auffallend guter Ausstattung und einer ausgezeichneten Kamera. Allein schon die sehr schöne letzte Einstellung, nicht die erste lange in diesem Film, ist den Besuch wert.

Vergleichsweise wenig geglückt ist dagegen Jules Herrmanns AUSZEIT. Formal stimmig funktioniert er Film deshalb nicht weil die Story abseits von überkomplexem Aufbau und Erzählweise einfach nicht interessant genug ist.

Schließlich wirft auch DER LEBENSVERSICHERER des dffb-Studenten Bülent Akinci ein besonders präzises, um Wahrhaftigkeit bemühtes Schlaglicht auf die Gegenwart. Gleichfalls mit großem Stilwillen geht es hier um einen Versicherungsvertreter (dem aus dem Theater bekannte Jens Harzer, der auch in Hans Christian Schmids Wettbewerbsbeitrag "Requiem" mitspielt, scheint dieser Auftritt auf den Leib geschrieben), der tagaus tagein über die Autobahnen zieht, und mit den Versicherungen den Menschen auch Träume verkauft - falls sie seinem routiniert-vorgestanzten, ihn selbst am meisten langweilenden Gequatsche denn überhaupt zuhören. Ähnlich wie der Fliegende Holländer kann er nicht mehr nach Hause zurückkehren, und der Zuschauer begleitet ihn zwischen Einsamkeit und unerfüllter Sehnsucht - die New Economy wird mythologisch grundiert. Eine starke Geschichte, mit fantastischen Elementen - irgendwann beginnt der Vertreter zu singen -, und mit großem Stilwillen erzählt.

Was verbindet alle diese Geschichten, von einem gewissen sozialen Engagement und einem frischen Gespür für die Brüche im Alltäglichen einmal abgesehen? Während man einige Zeit den Eindruck haben musste, Debütfilme handeln naturnotwendig von nichts als vom Abschied von den Eltern, von den Schwierigkeiten erwachsen und entjungfert zu werden und vom Wunsch, Teil einer Jugendbewegung zu sein, hat die Nabelschau nun ein Ende, gehen Regisseure gelassener und distanzierter mit sich selber um, und sagen weniger penetrant als früher "Ich". Ebenso geht es auch stilistisch weitaus ruhiger zu. Das muss aber nicht notwendig in lange Kameraeinstellungen münden, wie bei VIER FENSTER oder in Dietrich Brüggemanns NEUN SZENEN. Dieses hochinteressante Experiment erzählt in nur neun Einstellungen von seinen Figuren und von Generationskonflikten. Der Film lebt mehr als von seinem etwas angestrengten Formkonzept von sehr guten Dialogen, einer Menge Witz.

Auch experimentell, aber im Vergleich vor allem die bessere Publikumserziehung ist NICHTS WEITER ALS. Gleich mehrere Regisseure verfilmen exakt das gleiche Drehbuch - ein Film, den man eigentlich nur auf einem Festival zeigen kann, der viel davon verrät, was ein Film ist, wie wichtig die Phantasie der Machers ist. Nach wie vor ist das Interesse an Formexperimenten stark, zugleich richtet sich der Focus dabei deutlicher auf das Alltägliche. So auch in WHOLETRAIN, einem Drama über vier Kids aus der Graffitti-Sprayer-Szene. Mit viel Herz taucht der Erstlingsfilm von Quereinsteiger Florian Gaag mit seinen Figuren gemeinsam in die Nacht, die ihnen ihr Leben bedeutet - in der dann aber auch, wie das im Kino so ist, unverhoffte Nachtseiten zum Vorschein kommen.

Eröffnet wird mit ESPERANZA von Zsolt Bács, einem Film, der mit am wenigsten repräsentativ für das Programm der Perspektive ist, aber auch Beispiel für stilistische Vielfalt. Ein Film, der unbedingt an die Liebe glauben will, dominiert von alteuropäischem Charme, wie er einem heute fast nur noch im osteuropäischen Kino begegnet, und von einem wildgewordenen Erzähler. Aber überaus gern sieht man Anna Thalbach, Frank Giering, Mavie Hörbiger und den DDR-Winnetou Gojko Mitic dabei, wie sie so richtig auf die Tube drücken dürfen - bis an die Grenze zur Rampensau. As Eröffnungsfilm ist ESPERANZA eine gute Wahl, wegen seinem Optimismus, seiner Besetzung und der dominanten guten Laune - die Hoffnung stirbt nicht nur zuletzt, es fängt mit ihr an.

Einen weitaus interessanteren Anfang verspricht DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT. Hierbei handelt es sich um das Regiedebüt von der Schauspielerin Franka Potente: Ein Stummfilm in Schwarzweiß, eine Liebesgeschichte, die sich nicht darum herum drückt, das eigene Sujet zu reflektieren. Holighaus: "Einerseits eine Verbeugung vor der Filmgeschichte, andererseits ein ironisches Spiel damit."

Zwei sehr unterschiedliche Farben bringen die beiden Dokumentationen in die Sektion: "KATHARINA BULLIN - UND ICH DACHT ICH WÄR' DIE GRÖSSTE von Marcus Welsch lebt von seiner in aller Gebrochenheit starken Hauptfigur. Bullin gewann als Mitglied der DDR-Volleyball-Olympiaauswahl Silber, war eine Vorzeige-Sportlerin - doch die Zeit hat sie fürs Leben gezeichnet. Den Film trägt auch die Sinnlichkeit des alten Archiv-Materials aus der DDR. WARUM HALB VIER von Lars und Axel Pape ist der Fußballfilm der im Programm in diesem WM-Jahr wohl nicht fehlen darf. Ein intensives Soziogramm des Sports, der in strenger Form nicht zeigt, was auf dem Spielfeld passiert, dafür aber vieles vom Drumherum. Unter anderem begegnet man dem Schauspieler Joachim Król, der als Fußballphilosoph im leeren Stadion darüber räsoniert, was Fußball wirklich für ihn und für die Menschheit bedeutet.

Auffällig ist, dass die diesjährigen Perspektive-Filme von zum Teil namhaften Produzenten verantwortet werden. zwei von ihnen wetteifern Anfang Mai gar um den Auslandsoscar: WHOLETRAIN stammt von Sven Burgemeister und Christoph Mueller, den Münchner Produzenten von "Sophie Scholl", der im letzten Jahr im Wettbewerb zweifach ausgezeichnet wurde. Dort gewann auch PARADISE NOW" einen Preis, dessen Berliner Produzenten Gerhard Meixner und Roman Paul nun DER LEBENSVERSICHERER verantworten.

Das gewisse Irgendwie

Sie alle sind für Holighaus Parade-Beispiel jener Generation der 30 bis 40-jährigen Macher, die das jüngere deutsche Kino dominieren und im Augenblick beginnen, das Zepter in die Hand zu nehmen. "Diese 30-Jährigen sind überall, nicht nur auf der 'Perspektive', präsent", so Holighaus. Aber kann man diese Generation auch charakterisieren, kann man einen gemeinsamen Stil, gemeinsame Interessen, auch für filmhistorische Traditionen benennen? Man kann es kaum. "Weg vom Autorenfilm" allein ist noch nicht einmal ein negatives Kriterium, das wollte schließlich auch schon Doris Dörrie vor 20 Jahren. Heute schwärmen ein paar für Frankreich, andere wieder wollen "amerikanisch" sein; Asien beeindruckt viele und der eine oder andere will als Filmemacher spezifisch nach "deutscher Identität" und Traditionen suchen.

Auch Holighaus, der bei den Filmemachern deutlich "ein gestiegenes Selbstbewusstsein" konstatiert, bleibt seltsam ratlos, wenn man ihn nach eingrenzbaren Tendenzen, stilistischen Haltungen, nach Traditionsbildungen, die über persönliche Freundschaften oder gemeinsamen Filmhochschulbesuch hinausgehen, fragt. "Das ist nicht eindeutig. Die Grundtendenz, die ich in den letzten fünf Jahren festgestellt habe, ist die thematische und stilistische Vielfalt." Zumindest ein identifikatorischer Effekt, den auch Holighaus gern hätte, ist von der "Perspektive" noch nicht ausgegangen. "Vielleicht kommt der noch. Aber vielleicht gibt es den auch gar nicht."

So liegt trotz allem ein gewisses Irgendwie, ein Mehltau der Haltungslosigkeit und Beliebigkeit über den meisten jüngeren deutschen Filmen - das ist gar nicht Schuld der "Perspektive", aber es spiegelt sich auch in den hier gezeigten Arbeiten. Jeder macht für sich etwas vor sich hin; vieles ist besser, nicht nur professioneller, als vor fünf oder zehn Jahren, aber eine Richtung ist noch nicht erkennbar. Es gibt nicht mehr und noch keine Personen, an denen man sich ausrichtet, oder abarbeitet. Wim Wenders ist das schon länger nicht mehr, Doris Dörrie war es nie, Christian Petzold ist es nur für wenige, Hans Christian Schmid oder Oskar Roehler sind es immer noch nicht.

Auch in dieser Hinsicht spiegelt das Programm wieder, wohin sich der deutsche Film in den letzten Jahren hin entwickelt hat - und wohin nicht. Hier laufen Filme, die neugierig machen, die mitunter von einem besonderen, unverwechselbaren Ton geprägt sind, und in den besten Fällen ein Geheimnis bewahren. Die "Perspektive" hat sich etabliert. Sie ist tatsächlich so etwas wie der Brutkasten für jüngere Filmemacher geworden, Schutzraum und zugleich Ort der Vorbereitung für größere Aufgaben. Wollte man darüber hinaus auch Haltungen bilden, nicht nur abbilden, wollte man das Publikum auch erziehen, nicht nur neugierig machen, müsste die Reihe aber mehr Streit riskieren, provozieren und manchmal ihre Gutgelauntheit abstreifen. Holighaus ist das, bei aller persönlichen Gemütlichkeit, durchaus zuzutrauen. Den einen oder anderen Film, dem das schon hätte gelingen können, hat er aber zum eigenen Verdruss nicht bekommen - im Vorjahr etwa das umstrittene Neonazi-Drama "Kombat 16". Genau solche Filme, die etwas mehr riskieren, das sichere Terrain verlassen, sind aber in Zukunft noch nötig, damit die "Perspektive" ihre Möglichkeiten wirklich ausreizt.

 

Rüdiger Suchsland

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