|
Wer ein übertrieben gutes Gedächtnis für nutzloses
Wissen hat, oder ein unnatürlich großes Interesse
an artechock, mag sich vielleicht erinnern, dass meinereiner
letztes Jahr erst verspätet zur Viennale angereist war
und sich dann ausführlich darüber ausgelassen hat,
wie sehr er das bereute. Dieses Jahr war's umgekehrt: Ich
konnte nur zur ersten Festival-Hälfte nach Wien. Was
aber auch nicht viel besser ist - nur ersetzt sich das Gefühl,
schon viel zu viel verpasst zu haben, durch das Gefühl,
noch viel zu viel zu verpassen. Und man kommt sich nicht vor
wie einer, der in eine Party reinplatzt, bei der alle schon
seit Stunden Spaß haben und sich näher gekommen
sind und der dann dort immer etwas fremd bleibt. Sondern wie
einer, der eine Party verlässt, wo der DJ grade erst
die wirklich guten Platten rauskramt und seinen Flow findet.
Das klingt soweit nicht allzu verblüffend, ist es aber
dennoch insofern, als ich vorab beim bloßen Studieren
des Programms nie damit gerechnet hätte, wie schwer mir
der Abschied in der Festival-Mitte dann tatsächlich fallen
würde. Weil sich doch wieder einmal bewies: Ein Filmfest
ist eben mehr als nur die Filme, die dort gezeigt werden.
Und für die Viennale trifft das ganz besonders zu.
Das Wiener Filmfest hat eine ganz eigene Atmosphäre
- die nicht nur die Sicht auf die Filme färbt sondern
auch dazu führen kann, dass man sich plötzlich für
ganz andere Arten von Kino interessiert als gewöhnlich.
Nicht, dass die diesjährige Viennale nicht auch mehr
als genug zur Befriedigung meiner üblichen Film-Vorlieben
geboten hätte - aber diesmal waren da die Überschneidungen
mit Berlinale und Filmfest München extrem groß,
so dass die Liste schon weitgehend "abgearbeitet"
war: LAST DAYS, KEKEXILI - MOUNTAIN PATROL, ME AND YOU AND
EVERYONE WE KNOW, DE BATTRE MON COEUR S'EST ARRÊTÉ,
MANDERLAY - und Tsai Ming-Liangs THE WAYWARD CLOUD, auch wenn
der mich dann unerwarteterweise kolossal enttäuscht und
genervt hat. Dazu die Dokus PROFILS PAYASAN: LE QUOTIDIEN
und FOLLOWING SEAN, die ursprünglich vielleicht mal nicht
ganz oben auf meiner Wunschliste standen, sich aber beim Anschauen
als kleine Juwelen erwiesen.
Wahrscheinlich war's sogar ein Glück, dass somit das
Leinwand-Feld der Viennale schon ziemlich abgegrast aussah
- es zwang dazu, sich ein bisschen weiträumiger nach
Augenfutter umzusehen, den Blick offener zu haben für
zunächst unscheinbarere Filmgewächse.
Wie um diese Notwendigkeit zu unterstreichen, erwiesen sich
die paar vereinzelt noch herumstehenden Blüten im Gärtlein
des heimischen Geschmacks als entweder fad oder distelig.
Grade die Werke der üblichen Verdächtigen, auf die
ich vorab am neugierigsten war, haben letztlich den am wenigsten
bleibenden Eindruck hinterlassen:
Abel Ferrara hat in MARY seine schon immer mehr als latente
Beschäftigung mit dem Katholizismus und dessen Ikonographie
vollends nach außen gekehrt, so dass jetzt echte französische
Mönche minutenlang theologische Fachdiskussionen mit
Forrest Whittaker um feiner Punkte des Dogmas führen,
nur damit sich letztlich aber doch alles in ein "Ach,
Gott ist einfach irgendwie LIEBE!" aufzulösen scheint
- zumindest konnte ich da bei aller verzweifelten Suche nach
Brüchen im entscheidenden Moment keinen mehr finden.
Klar, Ferrara schichtet den Film voll und voll von verschiedenen,
gern auch medial selbstreflexiven Ebenen - soll ja keiner
denken, er wär ein naiver Fundi-Christ. Aber das scheint
am Ende nur viel postmoderne Mogelpackung um eine eher altbackene
Botschaft. Was auch noch in Ordnung gegangen wäre, wenn
das Ding sich wenigstens nach einem Film und nicht nach einem
Theologie- und Medien-Seminar mit Starbesetzung anfühlen
würde. Dass Ferrara Kinogespür hat, merkt man fast
nur noch in ein paar stummen, nächtlichen Fahrten durch
New York. Und so sehr man in den letzten Jahren die zunehmenden
künstlerischen Ambitionen (und selbst Prätentionen)
des einstigen Splatterfilmers schätzen gelernt hatte
(NEW ROSE HOTEL ist und bleibt großartig), so sehr sehnt
man sich bei MARY wieder zurück zu den Zeiten, als in
Ferrara-Filmen noch mit Schlagbohrern Löcher in Köpfe
gebohrt wurden und basta.
Dass 'Beat' Takeshi Kitano sich mit TAKESHI'S zu weit von
seinen Wurzeln entfernt hätte, kann man ihm nicht vorwerfen
- eher das Gegenteil scheint der Fall. Der Film ist eine Auseinandersetzung
Kitanos mit seinem Image, ist eine bizarre Tour durch einen
ziemlich privaten Kosmos, voller Anspielungen auf die vielen
Stationen seiner Karriere, und wie kaum je zuvor bei seinen
Kino-Arbeiten kommt dabei der Komiker Takeshi zum Zug (in
Japan seine ursprünglich berühmte Rolle, uns in
Europa kaum vertraut). Mag sein, dass ich bei der Nachtvorstellung
schon zu müde war, aber bei aller grundlegender Sympathie
für den Film und bei allem Spaß, den er mir immer
wieder im Detail gemacht hat, schien mir TAKESHI'S insgesamt
doch eine zu hermetische, esoterische Kunstübung.
Aber in seiner kryptischen Verschrobenheit andererseits auch
wieder interessanter als z.B. KIKYO von Hagiuda Koji, der
gewiss ein insgesamt runderer, befriedigenderer Film war -
aber der mit manchem japanischen Film in letzter Zeit das
Problem teilt, dass in Nippon eine gewisse Art von ruhig-lakonisch
inszenierter, still-schmunzelnder Vorort-Dramödie schon
dermaßen zum Quasi-Genre erstarrt ist, dass spätestens
zwei Wochen nach einem Filmfestival sich all die entsprechenden
japanischen Beiträge im Hirn zu einer einzigen, unentwirrbaren
Origami-Figur zusammengefaltet haben, die zwei weitere Wochen
später dann fast aus der Erinnerung gepustet scheint,
nur noch ein paar sanfte Fitzelchen zurücklassend, die
im Gedächtnis schweben wie ein Hauch Parfümduft
in einem leeren Zimmer.
Das ist das seltsame am Wiener Filmfest: Am wenigsten spannend
wirken dort für mich Filme, die Wohlvertrautes redlich
und an sich befriedigend erfüllen. Nicht, dass ich mich
als alter Horror-Fan nicht freuen würde über einen
Streifen wie THE SHUTTER (SUTTER KODTID WINYAN), der zeigt,
dass im panasiatischen Rennen um das Filmland von internationalstem
Format langsam auch Thailand ein ernstzunehmends Wörtchen
mitzureden beginnt. Nein, wirklich, sehr hübsch, eine
durchaus brauchbare Variante der THE RING/JU-ON/ONE MISSED
CALL/DARK WATERS-bleiche-Mädchen-mit-gruselig-vors-Gesicht-gekämmten-Haaren-Schule
des Grauens, die's öfter als fast alle ihre Vorbilder
geschafft hat, mich immer mal wieder vor Schreck aus dem Sitz
zu heben, obwohl (aber manchmal auch: weil) man genau zu wissen
glaubt, wann man schon den inneren "5, 4, 3, 2, 1"-Countdown
starten kann zum nächsten Schock-"Buh!".
Aber irgendwie ist das nicht die Art von Film, die für
mich die Viennale ausmachen. Es ist ein Festival, wo man sich
immer ein bisschen schämt, wenn man mal wieder cineastisch
versucht hat, auf Nummer Sicher zu gehen.
Gut, eine WIRKLICH sichere Nummer habe ich mir ohne einen
Funken schlechtes Gewissen gegönnt: Wong Kar-Wais HAPPY
TOGETHER auf der riesigen Gartenbaukino-Leinwand. Da kann
man nichst falsch machen, und das muss einfach sein.
Aber typisch Viennale: Der Anlass, den Film zu zeigen, war
keiner der naheliegenden. HAPPY TOGETHER lief in einer kleinen
Reihe, die nicht einem Regisseur oder Schauspieler gewidmet
war, nicht einem Produktionsland oder einer bestimmten Zeit.
Ein Tribut an Buenos Aires war es vielmehr, ein Versuch, den
Kino-Bildern, dem Kino-Mythos von dieser Stadt nachzuspüren.
Und da ging's dann schon wieder los: Einmal auf so eine Fährte
gebracht, hätte man sofort Lust bekommen, ihr intensiver
nachzugehen und sich unter diesem Blickwinkel ein paar der
Filme aus dieser Reihe anzuschauen, die einen für sich
genommen gar nicht besonders interessiert hätten, oder
die man (wie Charles Vidors GILDA) eigentlich schon ziemlich
gut kennt. Allein, die Zeit...
Und das Überangebot: Wohl kein anderes Filmfest mit nur
fünf Leinwänden hat ein derart großes und
diverses Angebot an Unter-Reihen, und beweist ein vergleichbares
Talent wie die Viennale, durch diese Reihen entweder auf Obskures
wirklich neugierig zu machen oder auf Bekanntes einen ganz
neuen Blick zu geben.
In der Atmosphäre der Viennale wirkt plötzlich vieles
nach spannendem Kino (und ich meine wirklich: KINO, nicht
schnöseliger (Kunst)Film), was mir anderswo viel zu gewollt
intellektuell, anstrengend, "politisch engagiert"
scheinen würde, um mich zu locken.
Wäre ich länger in Wien geblieben, ich wäre
vermutlich noch in der 11-stündigen (sic!) philippinischen
Familiensaga gelandet und hätte den Selbstversuch mit
Warhols EMPIRE und/oder SLEEP in voller Länge unternommen,
und es wäre mir ganz natürlich vorgekommen... Immerhin
hat's dazu gereicht, in der Warhol-Retro CAMP zu gucken, was
sich nicht zuletzt deshalb schwer gelohnt hat, weil da Warhol-Mitarbeiter
Gerard Malanga anwesend war - "Mitarbeiter" heißt
wie oft bei Warhol, dass Malanga (grade bei den Filmen) für
manches hauptverantwortlich war, auf das Andy dann das Label
'Warhol' gab -, und er ein bisserl erzählt hat, wie's
damals so war in der Factory.
Und wenn's was gibt, was zur Viennale gehört, dann ist
das eine ungezwungene, ungebrochene, gelebte Sehnsucht nach
dem Geist der späten Sechziger.
Die große, heimliche Vision der Viennale ist vielleicht,
dass das alles irgendwie doch nochmal zusammenpassen muss
im Kino, ohne einerseits bildungsbürgerliche, andererseits
zu glatt kommerzielle Scheuklappen - Experimentiermut, politisches
Bewusstsein und Spaß an Genres, Sex, Gewalt und was
sonst noch so dazugehört.
Zufall, aber ach so passend, dass die Publikums-Festivalszentrale
in der Urania untergebracht ist: Die wurde als Sternwarte
gebaut, beherbergt heute ein Volksbildungswerk, und zwischendurch
gab's dort mal ein Kasperltheater. Kann man das Spannungsfeld
Kino mit nur drei Punkten besser abstecken?
Für die Star-Gucker gab diesmal Jane Birkin den Part
des "Internationalen Glamours", und auch das war
eine wunderbare Wahl: Zum einen, weil die erstaunlich allürenfreie
Birkin sich prima in das generelle "Freunde unter sich"-Klima
der Viennale fügte. Zur Pressekonferenz erschien sie
in Cargohosen und einem schlabbrigen Top und stellte sich
glaubhaft als eine Frau dar, die jede Möglichkeit zur
künstlerischen Betätigung und zur Erweiterung ihres
kreativen Horizonts immer als glückliches Geschenk betrachtet
hat. Im Licht-unter-den-Scheffel-stellen war Birkin kaum zu
toppen - wann hat man von jemand von ihrem Format schon mal
mit dem Brustton voller Überzeugung schon Sätze
gehört wie: "I was just lucky because I was pretty."
Zum anderen passte Birkin so gut auf die Viennale, weil sie
als Schauspielerin eben genau jenen Brückenschlag lebt,
den auch das junge Kino der Sixties noch beherrschte, zwischen
einerseits Starglanz, Freude an schönen Frauen und Männern,
Liebe zum alten Hollywood und seinen Genres, und andererseits
dem Willen zur formalen und inhaltlichen Radikalität.
("All you need to make a movie is a girl and a gun,"
wurde Godard auf Werbeplakaten der Viennale zitiert - ein
Spruch aus seinen frühen Zeiten, bevor ihm alles Unterhaltsame,
Zugängliche, Amerikanische zum bösen, bösen
Schreckgespenst wurde...)
Jane Birkin hat in Pierre Richard-Komödien ebenso gespielt
wie für Jacques Rivette und Agnes Varda; sie gehört
noch jener Zeit an, wo man Sexsymbol und Avantgarde-Muse gleichzeitig
sein konnte. Überhaupt: Das ist es wohl, was dem Kino
wie der Kultur insgesamt am meisten abhanden gekommen ist
im Vergleich zu den Sixties - das Gefühl, dass Intellektualität
sexy sein kann und soll.
Mag sein, dass in dieser Gegend auch das Geheimnis der Viennale
zu suchen ist: Diesem Feeling, dass das Einlassen auf Kopfabenteuer
überhaupt kein Abwenden von virilem Leben und Genuss
sein muss.
Nehmen wir z.B. die diesjährige Mini-Reihe "Proletarisches
Kino". Das klingt, seien wir ehrlich, erstmal ganz grauslig:
Nach Alt-'68er-Spiegelfechten und Nachtarocken, nach salon-
und seminarsozialistischen Träumen von der guten, alten
Zeit.
Und in der Tat leidet zumindest der Titel unter einer gewissen
rhetorischen Bevormundung: Was der wahr Proletarier selbst
am liebsten im Kino sieht sind freilich genau jene Filme,
die die Bannerträger eines "Proletarischen Kinos"
für das übelste bürgerlich-reaktionäre
Volksopium halten. Gib einem Bauarbeiter aus der Wiener Vorstadt
die Wahl zwischen einem Eisenstein-Meisterwerk und Schwarzeneggers
dumpfsten Auftritt (sagen wir: COLLATERAL DAMAGE) - und dann
wart' lang drauf, dass er sich für PANZERKREUZER POTEMKIN
entscheidet...
Aber dem unbenommen, war die Reihe mit ihren historischen
Dokumenten vorwiegend aus den 1920er Jahren keineswegs eine
Angelegenheit von rein theoretischem oder musealem Interesse.
Selbst wenn das Gefühl von Aktualität nicht noch
dadurch zugespitzt gewesen wäre, dass während der
Viennale grade Wahlkampf geführt und darum gerungen wurde,
dass die Stadtregierung rot bleibt, hätte man nicht übersehen
können, dass eine direkte Linie von diesen Filmen ins
heutige Wien führt.
In Wien spürt man tatsächlich noch (allerdings auch
zunehmend weniger) die Reste einer ganz anderen Kultur des
Proletariats als in Deutschland, und die ganzen schönen
alten Visionen von einem fürsorglich von oben organisierten
menschenwürdigen Leben für die Arbeiter prägen
in Form der allgegenwärtigen Gemeindebauten noch immer
unmittelbar das Stadtbild.
Wenn man dann in einer historischen Dokumentation sieht, wie
so ein riesiger Gemeindebau hochgezogen wurde, fast nur mit
Muskelkraft und simpelsten technischen Methoden, dann bekommt
man nochmal einen ganz anderen Respekt vor dem Mut und der
Größe dieses speziellen Wiener Gesellschaftsentwurfs.
Wobei freilich auch die Kehrseite - oder sagen wir besser:
die Gefahr des unguten Auswuchses - zu riechen war, in den
Aufnahmen von den gigantischen 1. Mai-Feiern. Der entscheidende
Unterschied zwischen diesen historischen proletarischen Filmdokumenten
und vergleichbaren faschistischen ist, dass die Sozis das
Massenturnen nicht so richtig synchron hinkriegen.
Okay, seien wir fair, auch wenn's der Pointe schadet: Das
IST letztlich wirklich ein entscheidender Unterschied; es
sagt viel über das Wie und Warum dieser Massenturnübungen
aus, das eben zumindest zu jener Zeit, an jenem Ort noch ein
signifikant anderes war als dann das bei Riefenstahl und Konsorten.
Aber was dennoch auffiel bei den Filmen: Ihr Blick, wo er
sich nicht auf irgendwelche (An)Führer und Helden der
Revolution richtete, war stets nur an der Masse interessiert.
Es war ein zumindest proto-totalitärer Blick, der die
einzelnen Leute, ihre Persönlichkeit, ihre Besonderheit,
ihr Schicksal, aus den Augen verlor, verdrängte.
Man sollte prinzipiell und immer jeder Ideologie (und Religion)
misstrauen, die der Menschheit das große Glück
verheißt, aber leichtfertig das Unglück von Menschen
in Kauf nimmt: Wer das Individuum nicht ehrt, ist der Masse
nicht wert.
So richtig fies greifbar wurde das bei einem Programm mit
zwei nichtdokumentarischen Filmen - dem Montagefilm IM SCHATTEN
DER MASCHINE (D 1928) von Albrecht Viktor Blum und Leo Lania,
und dem Spielfilm DER BLAUE EXPRESS (GOLUBOJ EKSPRESS, UdSSR
1929). Das Programm war dem österreichischen '20er-Jahre-Filmkritiker
Fritz Rosenfeld gewidmet, und vorab wurde ein Text von ihm
verlesen, in dem er gegen die Unmenschlichkeit des bürgerlichen
Unterhaltungskinos wetterte. Es war dann nur sehr schwierig,
in diesen beiden quasi als Gegenentwurf dazu gezeigten Filmen
viel Menschlichkeit auszumachen. IM SCHATTEN DER MASCHINE
hatte einen eindeutig sexuellen Unterton, vom Rein-Raus der
Kolben bis zum orgasmischen Stahlfunken-Spritzen am Höhe-
und Endpunkt; und bei aller Begeisterung über die mechanische
Körperlichkeit der Maschinen kam dann doch der Arbeiterkörper
ein bisserl kurz; wirkte, wenn er überhaupt vorkam, nur
als unzulänglicher Diener seiner perfekteren Nachfolger.
An einer Stelle wurde demonstriert, wie die menschlichen Hände
durch die Maschine aus dem Prozess des Biegens von Kettengliedern
eliminiert werden, und dann zum Beweis, dass dies eine gute
Sache sei, horrorfilmartige Großaufnahmen von (der Schluss
wurde impliziert: beim Kettengliedbiegen) verstümmelten
Händen einmontiert. Dass der Arbeiter vielleicht gar
nicht so rasend glücklich ist, wenn er nicht mehr hat,
was ihn per definitionem erst ausmacht, nämlich ARBEIT,
war offenbar keine Überlegung wert.
Alles aber noch harmlos gegen den BLAUEN EXPRESS - eine Art
PANZERKREUZER POTEMKIN auf Schienen; ein schwer allegorisches
Revolutionsdrama im Zug (der, man beachte die Subtilität!,
wie die Welt eine Drei-Klassen-Gesellschaft kennt). Heute
ist das schon ein großes Vergnügen zum Anschauen,
wie oftmals solch reichlich überhitzte, rabiate Propaganda
aus vergangenen Zeiten, zumal der Regisseur Ilja Trauberg
als einstiger Eisenstein-Assistent vor großartigen Montage-Ideen
nur so sprüht. Aber genauso war's halt auch sehr beklemmend
von seiner Ideologie her - auf Einzel- wie auf Massenschicksale
kann keine Rücksicht genommen werden, es zählt allein
das Ziel der Revolution, deren Feinde allesamt häßliche,
lebensunwürdige Karrikaturen sind und deren Helden sich
nur zu gern opfern für die Bessere Welt im fernen Dereinst.
Wo da jetzt der grundlegende Struktur-Unterschied zu Nazi-Propaganda
sein soll, ist mir schleierhaft; man muss schon das Ziel eines
Sowjetstaats als übermenschlich hohes Gut ansehen, um
das eine prinzipiell anders oder besser zu finden als das
andere.
Aber da ist mir dann doch das bürgerliche Erzählkino
lieber, in dessen Gefilden sich von Sternberg durch den BLAUEN
EXPRESS zu seinem SHANGHAI EXPRESS inspirieren ließ.
Wenn ich was zum Sterben schön finden soll, dann doch
bitte eher die Traurigkeit der Marlene Dietrich im Pelzmantel
als das kommende Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
der Arbeiterklasse...
Das erste "Proletarisches Kino"-Programm erwies
sich als ziemlich dankbare Startrampe in den Rest des Festivals
- weil es einer Blickrichtung, einem Themenkomplex nachdrücklich
Fokus verlieh, die ohnehin auf der Viennale in der Luft lagen.
Man guckt auf Festivals ja noch viel mehr als sonst nie einfach
nur einen Film, sondern auch immer einen Kontext. Und selbst
HAPPY TOGETHER bekam durch diese Viennale-Blickschärfung
nochmal eine andere Note, die Szene mit Maos Tod in den Abendnachrichten
ein viel stärkeres Gewicht.
Das alles war ein fruchtbarer Hintergrund, vor dem man EVERLASTING
REGRET (CHANGHEN GE) von Stanley Kwan schauen konnte - eine
Shanghai-Saga von den 1930ern bis in die späten '80er,
und ein sehr gelungener Versuch zu zeigen, dass das Politische
immer auch Privat ist. Wo dümmere Filme stets versuchen,
sich historischen Kontext übers Dekor zu konstruieren,
schafft dieser es, die große Welt draußen und
ihren Wandel der Zeiten fast ausschließlich über
unscheinbare Innenräume, und mehr noch: fast ausschließlich
über Großaufnahmen seiner Figuren zu transportieren.
Das funktioniert freilich nicht zuletzt deshalb, weil man
die schöne (und schauspielerisch tiefer als erwartete)
Sammi Cheng und den allzeit großgenialen und attraktiven
Tony Leung einfach gern anschaut - EVERLASTING REGRET ist
nicht zuletzt Star-Kino, wenn auch ungewöhnliches. Aber
es basiert auch auf dem durchaus profunden Gedanken, dass
Politik, Ökonomie und Geschichte sich letztlich in ihrer
Wirkung auf das Individuum erkennen und messen lassen müssen.
Kwans Film ist bewusst ein Melodram (und ein ziemlich schönes
noch dazu), eine Geschichte von zweien, die hätten füreinander
bestimmt sein können, die aber immer wieder gerade nicht
zusammen kommen. Aber dass es ihm um Gefühle und Einzelschicksale
geht, macht ihn nicht weniger, sondern mehr politisch.
Nochmal einen Dreh weiter ging die Dokumentation EL CIELO
GIRA von Mercedes Alvarez. Auch in diesem Film gibt es einen
Wahlkampf: Mal kommen die jungen Wahlkampfhelfer von der einen
Partei mit lautem Parolen-Gedöns angefahren und kleistern
ihre Plakate an die Wand, dann kommen die von der anderen
und tun es ihnen gleich. Aber das Dorf, in das sie da einfallen,
hat nurmehr 14 Einwohner; es ist der Geburtsort der Filmemacherin
inmitten einer ärmlichen, ländlichen Regions Spaniens,
gar nicht mal so weit weg von Madrid. Und die meisten dieser
Einwohner sind steinalt und sehen weder einen großen
Unterschied zwischen den Parteien, noch, wie sich die ferne
Regierung auf ihr zeitloses Dorfleben groß auswirken
soll.
EL CIELO GIRA denkt in größeren Zeiträumen
als in Legislaturperioden: Gleich zu Beginn lässt er
eine der alten Damen des Dorfes versteinerte Dinosaurierskelette
präsentieren, die nahe der Ortschaft aus der Erde kommen
wie anderswo Steinbrocken auf dem Feld nach dem Winter. Die
Implikation ist fast schon plakativ deutlich: Da führt
ein vom Aussterben bedrohtes Wesen ein bereits ausgestorbenes
vor, zeigt ein (lebendes) Fossil das andere. (Für eine
Dokumentation ist der Film formal und filmisch verdächtig
streng komponiert, vieles muss definitiv inszeniert sein statt
beobachtet.)
Aber es geht EL CIELO GIRA um mehr als nur das Aussterben,
das Verschwinden eines Dorfes, einer Kultur. Die Gegend um
das Dorf ist reich an diversen archäologischen Schichten;
neben Dinosauriern finden sich an oder unmittelbar unter der
Oberfläche genauso Überreste der Römerzeit
wie die späterer Besatzer und Siedler. EL CIELO GIRA
gibt ein gutes Gefühl dafür, dass in seiner Landschaft
schon unzählige Leben, Generationen ihre mühselige
oder freudvolle Bahn durchgemacht haben, und dass sie hier
fernab der kulturellen und technologischen Zentren sich alle
gar nicht so fundamental unterschieden haben, egal welches
politische System herrschte. Aus der geologischen, in Äonen
denkenden Perspektive waren all die Kämpfe und Visionen
ziemlich unbedeutend, ziemlich klein.
EL CIELO GIRA ist deshalb kein sonderlich nostalgischer Film,
er hebt kein großes Greinen und Aufbegehren gegen das
potentielle Verschwinden des Dorfs an. Alvarez folgt in ihrem
Werk einem Jahreskreis, und das alles vergänglich ist,
ist in ihm eine banale (aber halt auch letztgültige,
tiefe) Altherrenweisheit. Aber auf das Sterben folgt die Geburt
von etwas Neuem, auf den Winter der Frühling. Für
alles, was untergegangen, verschwunden ist, ist auch immer
wieder etwas anderes nachgekommen. Der Film erreicht damit
einen seltsamen Waffenstillstand zwischen Trauer und Trost.
Und tröstlich auch für unsereins der Gedanke: Auf
die vergangene Viennale wird nächstes Jahr, so das Schicksal
will, wieder eine neue folgen. Und dann kann man ja erneut
den Versuch angehen, sie endlich mal wieder komplett zu besuchen...
Thomas Willmann
|