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Viennale 2005 04.11.2005
 
 
 
Zwischen Volksbildung und Kasperl: Die Sterne
WHERE THE TRUTH LIES
Mercedes Alvarez' EL CIELO GIRA
 
 
 
 

Wer ein übertrieben gutes Gedächtnis für nutzloses Wissen hat, oder ein unnatürlich großes Interesse an artechock, mag sich vielleicht erinnern, dass meinereiner letztes Jahr erst verspätet zur Viennale angereist war und sich dann ausführlich darüber ausgelassen hat, wie sehr er das bereute. Dieses Jahr war's umgekehrt: Ich konnte nur zur ersten Festival-Hälfte nach Wien. Was aber auch nicht viel besser ist - nur ersetzt sich das Gefühl, schon viel zu viel verpasst zu haben, durch das Gefühl, noch viel zu viel zu verpassen. Und man kommt sich nicht vor wie einer, der in eine Party reinplatzt, bei der alle schon seit Stunden Spaß haben und sich näher gekommen sind und der dann dort immer etwas fremd bleibt. Sondern wie einer, der eine Party verlässt, wo der DJ grade erst die wirklich guten Platten rauskramt und seinen Flow findet.
Das klingt soweit nicht allzu verblüffend, ist es aber dennoch insofern, als ich vorab beim bloßen Studieren des Programms nie damit gerechnet hätte, wie schwer mir der Abschied in der Festival-Mitte dann tatsächlich fallen würde. Weil sich doch wieder einmal bewies: Ein Filmfest ist eben mehr als nur die Filme, die dort gezeigt werden. Und für die Viennale trifft das ganz besonders zu.

Das Wiener Filmfest hat eine ganz eigene Atmosphäre - die nicht nur die Sicht auf die Filme färbt sondern auch dazu führen kann, dass man sich plötzlich für ganz andere Arten von Kino interessiert als gewöhnlich.
Nicht, dass die diesjährige Viennale nicht auch mehr als genug zur Befriedigung meiner üblichen Film-Vorlieben geboten hätte - aber diesmal waren da die Überschneidungen mit Berlinale und Filmfest München extrem groß, so dass die Liste schon weitgehend "abgearbeitet" war: LAST DAYS, KEKEXILI - MOUNTAIN PATROL, ME AND YOU AND EVERYONE WE KNOW, DE BATTRE MON COEUR S'EST ARRÊTÉ, MANDERLAY - und Tsai Ming-Liangs THE WAYWARD CLOUD, auch wenn der mich dann unerwarteterweise kolossal enttäuscht und genervt hat. Dazu die Dokus PROFILS PAYASAN: LE QUOTIDIEN und FOLLOWING SEAN, die ursprünglich vielleicht mal nicht ganz oben auf meiner Wunschliste standen, sich aber beim Anschauen als kleine Juwelen erwiesen.

Wahrscheinlich war's sogar ein Glück, dass somit das Leinwand-Feld der Viennale schon ziemlich abgegrast aussah - es zwang dazu, sich ein bisschen weiträumiger nach Augenfutter umzusehen, den Blick offener zu haben für zunächst unscheinbarere Filmgewächse.
Wie um diese Notwendigkeit zu unterstreichen, erwiesen sich die paar vereinzelt noch herumstehenden Blüten im Gärtlein des heimischen Geschmacks als entweder fad oder distelig. Grade die Werke der üblichen Verdächtigen, auf die ich vorab am neugierigsten war, haben letztlich den am wenigsten bleibenden Eindruck hinterlassen:
Abel Ferrara hat in MARY seine schon immer mehr als latente Beschäftigung mit dem Katholizismus und dessen Ikonographie vollends nach außen gekehrt, so dass jetzt echte französische Mönche minutenlang theologische Fachdiskussionen mit Forrest Whittaker um feiner Punkte des Dogmas führen, nur damit sich letztlich aber doch alles in ein "Ach, Gott ist einfach irgendwie LIEBE!" aufzulösen scheint - zumindest konnte ich da bei aller verzweifelten Suche nach Brüchen im entscheidenden Moment keinen mehr finden. Klar, Ferrara schichtet den Film voll und voll von verschiedenen, gern auch medial selbstreflexiven Ebenen - soll ja keiner denken, er wär ein naiver Fundi-Christ. Aber das scheint am Ende nur viel postmoderne Mogelpackung um eine eher altbackene Botschaft. Was auch noch in Ordnung gegangen wäre, wenn das Ding sich wenigstens nach einem Film und nicht nach einem Theologie- und Medien-Seminar mit Starbesetzung anfühlen würde. Dass Ferrara Kinogespür hat, merkt man fast nur noch in ein paar stummen, nächtlichen Fahrten durch New York. Und so sehr man in den letzten Jahren die zunehmenden künstlerischen Ambitionen (und selbst Prätentionen) des einstigen Splatterfilmers schätzen gelernt hatte (NEW ROSE HOTEL ist und bleibt großartig), so sehr sehnt man sich bei MARY wieder zurück zu den Zeiten, als in Ferrara-Filmen noch mit Schlagbohrern Löcher in Köpfe gebohrt wurden und basta.

Dass 'Beat' Takeshi Kitano sich mit TAKESHI'S zu weit von seinen Wurzeln entfernt hätte, kann man ihm nicht vorwerfen - eher das Gegenteil scheint der Fall. Der Film ist eine Auseinandersetzung Kitanos mit seinem Image, ist eine bizarre Tour durch einen ziemlich privaten Kosmos, voller Anspielungen auf die vielen Stationen seiner Karriere, und wie kaum je zuvor bei seinen Kino-Arbeiten kommt dabei der Komiker Takeshi zum Zug (in Japan seine ursprünglich berühmte Rolle, uns in Europa kaum vertraut). Mag sein, dass ich bei der Nachtvorstellung schon zu müde war, aber bei aller grundlegender Sympathie für den Film und bei allem Spaß, den er mir immer wieder im Detail gemacht hat, schien mir TAKESHI'S insgesamt doch eine zu hermetische, esoterische Kunstübung.
Aber in seiner kryptischen Verschrobenheit andererseits auch wieder interessanter als z.B. KIKYO von Hagiuda Koji, der gewiss ein insgesamt runderer, befriedigenderer Film war - aber der mit manchem japanischen Film in letzter Zeit das Problem teilt, dass in Nippon eine gewisse Art von ruhig-lakonisch inszenierter, still-schmunzelnder Vorort-Dramödie schon dermaßen zum Quasi-Genre erstarrt ist, dass spätestens zwei Wochen nach einem Filmfestival sich all die entsprechenden japanischen Beiträge im Hirn zu einer einzigen, unentwirrbaren Origami-Figur zusammengefaltet haben, die zwei weitere Wochen später dann fast aus der Erinnerung gepustet scheint, nur noch ein paar sanfte Fitzelchen zurücklassend, die im Gedächtnis schweben wie ein Hauch Parfümduft in einem leeren Zimmer.

Das ist das seltsame am Wiener Filmfest: Am wenigsten spannend wirken dort für mich Filme, die Wohlvertrautes redlich und an sich befriedigend erfüllen. Nicht, dass ich mich als alter Horror-Fan nicht freuen würde über einen Streifen wie THE SHUTTER (SUTTER KODTID WINYAN), der zeigt, dass im panasiatischen Rennen um das Filmland von internationalstem Format langsam auch Thailand ein ernstzunehmends Wörtchen mitzureden beginnt. Nein, wirklich, sehr hübsch, eine durchaus brauchbare Variante der THE RING/JU-ON/ONE MISSED CALL/DARK WATERS-bleiche-Mädchen-mit-gruselig-vors-Gesicht-gekämmten-Haaren-Schule des Grauens, die's öfter als fast alle ihre Vorbilder geschafft hat, mich immer mal wieder vor Schreck aus dem Sitz zu heben, obwohl (aber manchmal auch: weil) man genau zu wissen glaubt, wann man schon den inneren "5, 4, 3, 2, 1"-Countdown starten kann zum nächsten Schock-"Buh!".
Aber irgendwie ist das nicht die Art von Film, die für mich die Viennale ausmachen. Es ist ein Festival, wo man sich immer ein bisschen schämt, wenn man mal wieder cineastisch versucht hat, auf Nummer Sicher zu gehen.

Gut, eine WIRKLICH sichere Nummer habe ich mir ohne einen Funken schlechtes Gewissen gegönnt: Wong Kar-Wais HAPPY TOGETHER auf der riesigen Gartenbaukino-Leinwand. Da kann man nichst falsch machen, und das muss einfach sein.
Aber typisch Viennale: Der Anlass, den Film zu zeigen, war keiner der naheliegenden. HAPPY TOGETHER lief in einer kleinen Reihe, die nicht einem Regisseur oder Schauspieler gewidmet war, nicht einem Produktionsland oder einer bestimmten Zeit. Ein Tribut an Buenos Aires war es vielmehr, ein Versuch, den Kino-Bildern, dem Kino-Mythos von dieser Stadt nachzuspüren.
Und da ging's dann schon wieder los: Einmal auf so eine Fährte gebracht, hätte man sofort Lust bekommen, ihr intensiver nachzugehen und sich unter diesem Blickwinkel ein paar der Filme aus dieser Reihe anzuschauen, die einen für sich genommen gar nicht besonders interessiert hätten, oder die man (wie Charles Vidors GILDA) eigentlich schon ziemlich gut kennt. Allein, die Zeit...
Und das Überangebot: Wohl kein anderes Filmfest mit nur fünf Leinwänden hat ein derart großes und diverses Angebot an Unter-Reihen, und beweist ein vergleichbares Talent wie die Viennale, durch diese Reihen entweder auf Obskures wirklich neugierig zu machen oder auf Bekanntes einen ganz neuen Blick zu geben.
In der Atmosphäre der Viennale wirkt plötzlich vieles nach spannendem Kino (und ich meine wirklich: KINO, nicht schnöseliger (Kunst)Film), was mir anderswo viel zu gewollt intellektuell, anstrengend, "politisch engagiert" scheinen würde, um mich zu locken.
Wäre ich länger in Wien geblieben, ich wäre vermutlich noch in der 11-stündigen (sic!) philippinischen Familiensaga gelandet und hätte den Selbstversuch mit Warhols EMPIRE und/oder SLEEP in voller Länge unternommen, und es wäre mir ganz natürlich vorgekommen... Immerhin hat's dazu gereicht, in der Warhol-Retro CAMP zu gucken, was sich nicht zuletzt deshalb schwer gelohnt hat, weil da Warhol-Mitarbeiter Gerard Malanga anwesend war - "Mitarbeiter" heißt wie oft bei Warhol, dass Malanga (grade bei den Filmen) für manches hauptverantwortlich war, auf das Andy dann das Label 'Warhol' gab -, und er ein bisserl erzählt hat, wie's damals so war in der Factory.
Und wenn's was gibt, was zur Viennale gehört, dann ist das eine ungezwungene, ungebrochene, gelebte Sehnsucht nach dem Geist der späten Sechziger.

Die große, heimliche Vision der Viennale ist vielleicht, dass das alles irgendwie doch nochmal zusammenpassen muss im Kino, ohne einerseits bildungsbürgerliche, andererseits zu glatt kommerzielle Scheuklappen - Experimentiermut, politisches Bewusstsein und Spaß an Genres, Sex, Gewalt und was sonst noch so dazugehört.
Zufall, aber ach so passend, dass die Publikums-Festivalszentrale in der Urania untergebracht ist: Die wurde als Sternwarte gebaut, beherbergt heute ein Volksbildungswerk, und zwischendurch gab's dort mal ein Kasperltheater. Kann man das Spannungsfeld Kino mit nur drei Punkten besser abstecken?
Für die Star-Gucker gab diesmal Jane Birkin den Part des "Internationalen Glamours", und auch das war eine wunderbare Wahl: Zum einen, weil die erstaunlich allürenfreie Birkin sich prima in das generelle "Freunde unter sich"-Klima der Viennale fügte. Zur Pressekonferenz erschien sie in Cargohosen und einem schlabbrigen Top und stellte sich glaubhaft als eine Frau dar, die jede Möglichkeit zur künstlerischen Betätigung und zur Erweiterung ihres kreativen Horizonts immer als glückliches Geschenk betrachtet hat. Im Licht-unter-den-Scheffel-stellen war Birkin kaum zu toppen - wann hat man von jemand von ihrem Format schon mal mit dem Brustton voller Überzeugung schon Sätze gehört wie: "I was just lucky because I was pretty."
Zum anderen passte Birkin so gut auf die Viennale, weil sie als Schauspielerin eben genau jenen Brückenschlag lebt, den auch das junge Kino der Sixties noch beherrschte, zwischen einerseits Starglanz, Freude an schönen Frauen und Männern, Liebe zum alten Hollywood und seinen Genres, und andererseits dem Willen zur formalen und inhaltlichen Radikalität. ("All you need to make a movie is a girl and a gun," wurde Godard auf Werbeplakaten der Viennale zitiert - ein Spruch aus seinen frühen Zeiten, bevor ihm alles Unterhaltsame, Zugängliche, Amerikanische zum bösen, bösen Schreckgespenst wurde...)
Jane Birkin hat in Pierre Richard-Komödien ebenso gespielt wie für Jacques Rivette und Agnes Varda; sie gehört noch jener Zeit an, wo man Sexsymbol und Avantgarde-Muse gleichzeitig sein konnte. Überhaupt: Das ist es wohl, was dem Kino wie der Kultur insgesamt am meisten abhanden gekommen ist im Vergleich zu den Sixties - das Gefühl, dass Intellektualität sexy sein kann und soll.

Mag sein, dass in dieser Gegend auch das Geheimnis der Viennale zu suchen ist: Diesem Feeling, dass das Einlassen auf Kopfabenteuer überhaupt kein Abwenden von virilem Leben und Genuss sein muss.
Nehmen wir z.B. die diesjährige Mini-Reihe "Proletarisches Kino". Das klingt, seien wir ehrlich, erstmal ganz grauslig: Nach Alt-'68er-Spiegelfechten und Nachtarocken, nach salon- und seminarsozialistischen Träumen von der guten, alten Zeit.
Und in der Tat leidet zumindest der Titel unter einer gewissen rhetorischen Bevormundung: Was der wahr Proletarier selbst am liebsten im Kino sieht sind freilich genau jene Filme, die die Bannerträger eines "Proletarischen Kinos" für das übelste bürgerlich-reaktionäre Volksopium halten. Gib einem Bauarbeiter aus der Wiener Vorstadt die Wahl zwischen einem Eisenstein-Meisterwerk und Schwarzeneggers dumpfsten Auftritt (sagen wir: COLLATERAL DAMAGE) - und dann wart' lang drauf, dass er sich für PANZERKREUZER POTEMKIN entscheidet...
Aber dem unbenommen, war die Reihe mit ihren historischen Dokumenten vorwiegend aus den 1920er Jahren keineswegs eine Angelegenheit von rein theoretischem oder musealem Interesse. Selbst wenn das Gefühl von Aktualität nicht noch dadurch zugespitzt gewesen wäre, dass während der Viennale grade Wahlkampf geführt und darum gerungen wurde, dass die Stadtregierung rot bleibt, hätte man nicht übersehen können, dass eine direkte Linie von diesen Filmen ins heutige Wien führt.
In Wien spürt man tatsächlich noch (allerdings auch zunehmend weniger) die Reste einer ganz anderen Kultur des Proletariats als in Deutschland, und die ganzen schönen alten Visionen von einem fürsorglich von oben organisierten menschenwürdigen Leben für die Arbeiter prägen in Form der allgegenwärtigen Gemeindebauten noch immer unmittelbar das Stadtbild.
Wenn man dann in einer historischen Dokumentation sieht, wie so ein riesiger Gemeindebau hochgezogen wurde, fast nur mit Muskelkraft und simpelsten technischen Methoden, dann bekommt man nochmal einen ganz anderen Respekt vor dem Mut und der Größe dieses speziellen Wiener Gesellschaftsentwurfs.
Wobei freilich auch die Kehrseite - oder sagen wir besser: die Gefahr des unguten Auswuchses - zu riechen war, in den Aufnahmen von den gigantischen 1. Mai-Feiern. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen historischen proletarischen Filmdokumenten und vergleichbaren faschistischen ist, dass die Sozis das Massenturnen nicht so richtig synchron hinkriegen.
Okay, seien wir fair, auch wenn's der Pointe schadet: Das IST letztlich wirklich ein entscheidender Unterschied; es sagt viel über das Wie und Warum dieser Massenturnübungen aus, das eben zumindest zu jener Zeit, an jenem Ort noch ein signifikant anderes war als dann das bei Riefenstahl und Konsorten.
Aber was dennoch auffiel bei den Filmen: Ihr Blick, wo er sich nicht auf irgendwelche (An)Führer und Helden der Revolution richtete, war stets nur an der Masse interessiert. Es war ein zumindest proto-totalitärer Blick, der die einzelnen Leute, ihre Persönlichkeit, ihre Besonderheit, ihr Schicksal, aus den Augen verlor, verdrängte.
Man sollte prinzipiell und immer jeder Ideologie (und Religion) misstrauen, die der Menschheit das große Glück verheißt, aber leichtfertig das Unglück von Menschen in Kauf nimmt: Wer das Individuum nicht ehrt, ist der Masse nicht wert.

So richtig fies greifbar wurde das bei einem Programm mit zwei nichtdokumentarischen Filmen - dem Montagefilm IM SCHATTEN DER MASCHINE (D 1928) von Albrecht Viktor Blum und Leo Lania, und dem Spielfilm DER BLAUE EXPRESS (GOLUBOJ EKSPRESS, UdSSR 1929). Das Programm war dem österreichischen '20er-Jahre-Filmkritiker Fritz Rosenfeld gewidmet, und vorab wurde ein Text von ihm verlesen, in dem er gegen die Unmenschlichkeit des bürgerlichen Unterhaltungskinos wetterte. Es war dann nur sehr schwierig, in diesen beiden quasi als Gegenentwurf dazu gezeigten Filmen viel Menschlichkeit auszumachen. IM SCHATTEN DER MASCHINE hatte einen eindeutig sexuellen Unterton, vom Rein-Raus der Kolben bis zum orgasmischen Stahlfunken-Spritzen am Höhe- und Endpunkt; und bei aller Begeisterung über die mechanische Körperlichkeit der Maschinen kam dann doch der Arbeiterkörper ein bisserl kurz; wirkte, wenn er überhaupt vorkam, nur als unzulänglicher Diener seiner perfekteren Nachfolger. An einer Stelle wurde demonstriert, wie die menschlichen Hände durch die Maschine aus dem Prozess des Biegens von Kettengliedern eliminiert werden, und dann zum Beweis, dass dies eine gute Sache sei, horrorfilmartige Großaufnahmen von (der Schluss wurde impliziert: beim Kettengliedbiegen) verstümmelten Händen einmontiert. Dass der Arbeiter vielleicht gar nicht so rasend glücklich ist, wenn er nicht mehr hat, was ihn per definitionem erst ausmacht, nämlich ARBEIT, war offenbar keine Überlegung wert.
Alles aber noch harmlos gegen den BLAUEN EXPRESS - eine Art PANZERKREUZER POTEMKIN auf Schienen; ein schwer allegorisches Revolutionsdrama im Zug (der, man beachte die Subtilität!, wie die Welt eine Drei-Klassen-Gesellschaft kennt). Heute ist das schon ein großes Vergnügen zum Anschauen, wie oftmals solch reichlich überhitzte, rabiate Propaganda aus vergangenen Zeiten, zumal der Regisseur Ilja Trauberg als einstiger Eisenstein-Assistent vor großartigen Montage-Ideen nur so sprüht. Aber genauso war's halt auch sehr beklemmend von seiner Ideologie her - auf Einzel- wie auf Massenschicksale kann keine Rücksicht genommen werden, es zählt allein das Ziel der Revolution, deren Feinde allesamt häßliche, lebensunwürdige Karrikaturen sind und deren Helden sich nur zu gern opfern für die Bessere Welt im fernen Dereinst. Wo da jetzt der grundlegende Struktur-Unterschied zu Nazi-Propaganda sein soll, ist mir schleierhaft; man muss schon das Ziel eines Sowjetstaats als übermenschlich hohes Gut ansehen, um das eine prinzipiell anders oder besser zu finden als das andere.
Aber da ist mir dann doch das bürgerliche Erzählkino lieber, in dessen Gefilden sich von Sternberg durch den BLAUEN EXPRESS zu seinem SHANGHAI EXPRESS inspirieren ließ. Wenn ich was zum Sterben schön finden soll, dann doch bitte eher die Traurigkeit der Marlene Dietrich im Pelzmantel als das kommende Reich und die Kraft und die Herrlichkeit der Arbeiterklasse...

Das erste "Proletarisches Kino"-Programm erwies sich als ziemlich dankbare Startrampe in den Rest des Festivals - weil es einer Blickrichtung, einem Themenkomplex nachdrücklich Fokus verlieh, die ohnehin auf der Viennale in der Luft lagen.
Man guckt auf Festivals ja noch viel mehr als sonst nie einfach nur einen Film, sondern auch immer einen Kontext. Und selbst HAPPY TOGETHER bekam durch diese Viennale-Blickschärfung nochmal eine andere Note, die Szene mit Maos Tod in den Abendnachrichten ein viel stärkeres Gewicht.
Das alles war ein fruchtbarer Hintergrund, vor dem man EVERLASTING REGRET (CHANGHEN GE) von Stanley Kwan schauen konnte - eine Shanghai-Saga von den 1930ern bis in die späten '80er, und ein sehr gelungener Versuch zu zeigen, dass das Politische immer auch Privat ist. Wo dümmere Filme stets versuchen, sich historischen Kontext übers Dekor zu konstruieren, schafft dieser es, die große Welt draußen und ihren Wandel der Zeiten fast ausschließlich über unscheinbare Innenräume, und mehr noch: fast ausschließlich über Großaufnahmen seiner Figuren zu transportieren. Das funktioniert freilich nicht zuletzt deshalb, weil man die schöne (und schauspielerisch tiefer als erwartete) Sammi Cheng und den allzeit großgenialen und attraktiven Tony Leung einfach gern anschaut - EVERLASTING REGRET ist nicht zuletzt Star-Kino, wenn auch ungewöhnliches. Aber es basiert auch auf dem durchaus profunden Gedanken, dass Politik, Ökonomie und Geschichte sich letztlich in ihrer Wirkung auf das Individuum erkennen und messen lassen müssen. Kwans Film ist bewusst ein Melodram (und ein ziemlich schönes noch dazu), eine Geschichte von zweien, die hätten füreinander bestimmt sein können, die aber immer wieder gerade nicht zusammen kommen. Aber dass es ihm um Gefühle und Einzelschicksale geht, macht ihn nicht weniger, sondern mehr politisch.

Nochmal einen Dreh weiter ging die Dokumentation EL CIELO GIRA von Mercedes Alvarez. Auch in diesem Film gibt es einen Wahlkampf: Mal kommen die jungen Wahlkampfhelfer von der einen Partei mit lautem Parolen-Gedöns angefahren und kleistern ihre Plakate an die Wand, dann kommen die von der anderen und tun es ihnen gleich. Aber das Dorf, in das sie da einfallen, hat nurmehr 14 Einwohner; es ist der Geburtsort der Filmemacherin inmitten einer ärmlichen, ländlichen Regions Spaniens, gar nicht mal so weit weg von Madrid. Und die meisten dieser Einwohner sind steinalt und sehen weder einen großen Unterschied zwischen den Parteien, noch, wie sich die ferne Regierung auf ihr zeitloses Dorfleben groß auswirken soll.
EL CIELO GIRA denkt in größeren Zeiträumen als in Legislaturperioden: Gleich zu Beginn lässt er eine der alten Damen des Dorfes versteinerte Dinosaurierskelette präsentieren, die nahe der Ortschaft aus der Erde kommen wie anderswo Steinbrocken auf dem Feld nach dem Winter. Die Implikation ist fast schon plakativ deutlich: Da führt ein vom Aussterben bedrohtes Wesen ein bereits ausgestorbenes vor, zeigt ein (lebendes) Fossil das andere. (Für eine Dokumentation ist der Film formal und filmisch verdächtig streng komponiert, vieles muss definitiv inszeniert sein statt beobachtet.)
Aber es geht EL CIELO GIRA um mehr als nur das Aussterben, das Verschwinden eines Dorfes, einer Kultur. Die Gegend um das Dorf ist reich an diversen archäologischen Schichten; neben Dinosauriern finden sich an oder unmittelbar unter der Oberfläche genauso Überreste der Römerzeit wie die späterer Besatzer und Siedler. EL CIELO GIRA gibt ein gutes Gefühl dafür, dass in seiner Landschaft schon unzählige Leben, Generationen ihre mühselige oder freudvolle Bahn durchgemacht haben, und dass sie hier fernab der kulturellen und technologischen Zentren sich alle gar nicht so fundamental unterschieden haben, egal welches politische System herrschte. Aus der geologischen, in Äonen denkenden Perspektive waren all die Kämpfe und Visionen ziemlich unbedeutend, ziemlich klein.
EL CIELO GIRA ist deshalb kein sonderlich nostalgischer Film, er hebt kein großes Greinen und Aufbegehren gegen das potentielle Verschwinden des Dorfs an. Alvarez folgt in ihrem Werk einem Jahreskreis, und das alles vergänglich ist, ist in ihm eine banale (aber halt auch letztgültige, tiefe) Altherrenweisheit. Aber auf das Sterben folgt die Geburt von etwas Neuem, auf den Winter der Frühling. Für alles, was untergegangen, verschwunden ist, ist auch immer wieder etwas anderes nachgekommen. Der Film erreicht damit einen seltsamen Waffenstillstand zwischen Trauer und Trost.
Und tröstlich auch für unsereins der Gedanke: Auf die vergangene Viennale wird nächstes Jahr, so das Schicksal will, wieder eine neue folgen. Und dann kann man ja erneut den Versuch angehen, sie endlich mal wieder komplett zu besuchen...

Thomas Willmann

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