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"Wenn in diesem Jahr nicht endlich wieder ein italienischer
Film gewinnt, ist Marco Müller weg vom Fenster."
sagt Kollege Josef Schnelle über den Festivalleiter.
Sollte er Recht behalten, dürften Müllers Tage gezählt
sein, denn man kann sich nicht vorstellen, dass LA BESTIA
NEL CUORE von Cristina Comencini und LA SECONDA NOTTE DIE
NOZZE von Pupi Avati hier mehr gewinnen, als allenfalls einen
Anstandspreis, weil man den Gastgeber nicht brüskieren
möchte. Zugegeben: Wir verlassen uns in diesem Urteil
auf andere, Kollegen, denen man trauen kann - sollte doch
einer der Fime einen wichtigen Preis gewinnen, können
wir ihn nachholen. Wir wollten lieber noch mal in die Asiaten-Retro,
oder einfach mal ausschlafen am Morgen. Denn offenbar ist
Müller von der Qualität der beiden Filme auch nicht
besonders überzeugt, besonders günstig, das muss
man zugeben, hat er sie jedenfalls nicht programmiert: Sie
liefen frühmorgens an den letzten beiden Tagen, an denen
die ersten Gäste bereits wieder nach Hause gereist sind.
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"Es ist doch völlig unwichtig, wer hier den Preis
gewinnt, sagt Schnelle weiter, "vielleicht gewinnt ja
Abel Ferrara, der ist doch auch fast ein Italiener".
MARY heißt der Film des eigenwilligen Italoamerikaners.
Darin spielt Juliette Binoche eine Schauspielerin, die Maria
Magdalena spielt, und ein, nun ja, religiöses Erlebnis
hat. Die Film im Film-Szenen des Films sind peinlich schlecht,
der Rest dagegen dicht und gar nicht uninteressant, nur etwas
konfus erzählt: Der Moderator einer religiösen TV-Show
hat Eheprobleme, geht fremd, woraufhin die schwangere Ehefrau
fast das Kind verliert - ein Wink Gottes? MARY ist, das geben
wir gerne zu, vielleicht etwas behäbig inszeniert. Das
Hauptproblem des Films ist für uns aber, dass sich Ferrara
nicht entscheiden will, ob er uns jetzt einen Horrorfilm erzählt,
oder eine religiöse Erweckungsarie. Darum tut er beides,
und das klappt nicht.
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Es ist die Stunde der "voci", jener obskuren Quellen,
die in der anschwellenden Spekulation über den Sieger
dann von jeder italienischen Zeitung zitiert werden. Im Internet
ist die Stunde von indiscrezione.it gekommen, den zahllosen
Bloggern, die es ganz genau wissen wollen. Eine Quelle will
wissen, Ang Lee bekomme den Hauptpreis, David Strathairn den
Darstellerpreis. Hinzu kommt das Lido-Getuschel: Angeblich
so heißt es seien George Clooney, Philippe Garell und
Park Chan-wook nach Venedig zurückgekommen - ein sicheres
Indiz dafür, dass sie einen Preis erhalten. "Das
hat noch nie gestimmt", meint Michael Althen, "Diese
Gerüchte gibt es jedes Jahr." Aber das sagt er auch
jedes Jahr.
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Der letzte Film im Wettbewerb war die John-Le-Carré-Verfilmung
THE CONSTANT GARDENER von Fernando Mereilles, dem Brasilianer,
der durch CITY OF GOD bekannt geworden ist. Gleich wird man
hineingezogen, man merkt schnell, dass der Film funktioniert
und einigermaßen gut ist.
Es geht um einen britischen Diplomaten in Afrika - Ralph Fiennes
wieder mal als Englischer Patient, ein groß Liebender,
groß Leidender, der am Ende aus Liebe in den Tod geht
-, dessen Frau nach einer Reise ins Landesinnere ermordet
aufgefunden wird. Während er den mysteriösen Begleitumständen
der Tat nachgeht, lernt er die Frau erst wirklich kennen,
erneuert ihre Liebe, und vollendet ihr - selbstverständlich
hochhumanistisches - Werk, den Kampf gegen ein schurkisches
Pharmaunternehmen, das Afrika als menschliche Guinea-Schweine
für Medikamententests missbraucht. Die Gutmenschin und
der Realist. Natürlich ist es einfach, hier über
manches zu spotten. Der Film strotzt vor Ethnoklischees, freilich
bildet er damit einfach nur den Blick der Europäer auf
Afrika ab, versucht sich nicht künstlich mit dem der
Afrikaner gemein zu machen. Am besten ist er trotzdem, wo
er sich aus Afrika entfernt und ins diplomatische Milieu eindringt,
in die Cocktailpartys und kühlen Büros, wo er diese
Szenerien mit den Zynismen und Sarkasmen der Dialoge Le Carrés
würzt. Zum Beispiel: "Diplomats have to go, where
they are send." - "So do Labradors."
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Einmal mehr hervorragend: Danny Huston, John Hustons Sohn,
in der Rolle eines opportunistischen, schwachen, darum aber
erfolgreichen Diplomaten. Stilistisch erinnern die Bilder
mit den leicht überbelichteten, irgendwie wie auf alten
Kodak-Fotografien giftig leuchtenden, matten, ausgeblichenen
Farben an CITY OF GOD. Kollegen fanden den Film nicht gut,
zum Teil richtig Scheiße - auch wegen angeblichen Moralkitsches.
Man könnte es aber auch umgekehrt verstehen: Mereilles/Le
Carré erzählen vom Untergang des simplen Idealismus.
Denn es ist ja nicht völlig von der Hand zu weisen, wenn
Danny Hustons Figur argumentiert: "We are not killing
people. We treat ill people, which would die anyway."
So schildert der Film ein moralisches Dilemma und ist überdies
sehr katholisch, eigentlich eher wie von Graham Greene, wenn
er einen Menschen ins Zentrum stellt, der sich moralisch reinigt
und dann seine letzte Reinigung und Erlösung dadurch
erhält, dass er sich ermorden lässt. Wir sind übrigens
auch nicht katholisch.
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Eine Frage aus der Heimat: "Wer sind die anderen?"
Ob es sich beim "wir" dieses Tagebuchs um Ichvermehrung
oder um pluralis majestatis handle? Ichvermeidung natürlich!
Und pluralis majestastis. Aut Caesar aut nihil.
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Zum Abschluss gab es ein Musical auch aus China: Peter Chans
PERHAPS LOVE, ein gut gelungenes Melo, konventionell wie vieles,
was hier aus China im Wettbewerb läuft, aber eben auch
schön anzusehen und gut gemacht.
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Insgesamt zeigte der Wettbewerb viele gute Filme, aber zu
wenig Überraschendes, und wirkte so ein bisschen konturlos.
Die ersten Preise wurden schon vergeben: Der Kritikerspiegel
des Festival-Journals votierte für GOOD NIGHT. AND GOOD
LUCK, das Publikum, wer immer da befragt wurde, ebenso. Zweiter
wurde gleichfalls bei beiden SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE.
Die FIPRESCI-Jury gab ihre Preise ebenfalls an Clooney und
an Werner Herzog - für seine verfilmte Space-Night.
Rüdiger Suchsland
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