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Venedig 2005 10.09.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 7. Folge
Die Stunde der "voci"
WHERE THE TRUTH LIES

Horrorfilm oder religiöse Erweckungsarie? MARY von Abel Ferrara

 
 
 
 

"Wenn in diesem Jahr nicht endlich wieder ein italienischer Film gewinnt, ist Marco Müller weg vom Fenster." sagt Kollege Josef Schnelle über den Festivalleiter. Sollte er Recht behalten, dürften Müllers Tage gezählt sein, denn man kann sich nicht vorstellen, dass LA BESTIA NEL CUORE von Cristina Comencini und LA SECONDA NOTTE DIE NOZZE von Pupi Avati hier mehr gewinnen, als allenfalls einen Anstandspreis, weil man den Gastgeber nicht brüskieren möchte. Zugegeben: Wir verlassen uns in diesem Urteil auf andere, Kollegen, denen man trauen kann - sollte doch einer der Fime einen wichtigen Preis gewinnen, können wir ihn nachholen. Wir wollten lieber noch mal in die Asiaten-Retro, oder einfach mal ausschlafen am Morgen. Denn offenbar ist Müller von der Qualität der beiden Filme auch nicht besonders überzeugt, besonders günstig, das muss man zugeben, hat er sie jedenfalls nicht programmiert: Sie liefen frühmorgens an den letzten beiden Tagen, an denen die ersten Gäste bereits wieder nach Hause gereist sind.

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"Es ist doch völlig unwichtig, wer hier den Preis gewinnt, sagt Schnelle weiter, "vielleicht gewinnt ja Abel Ferrara, der ist doch auch fast ein Italiener". MARY heißt der Film des eigenwilligen Italoamerikaners. Darin spielt Juliette Binoche eine Schauspielerin, die Maria Magdalena spielt, und ein, nun ja, religiöses Erlebnis hat. Die Film im Film-Szenen des Films sind peinlich schlecht, der Rest dagegen dicht und gar nicht uninteressant, nur etwas konfus erzählt: Der Moderator einer religiösen TV-Show hat Eheprobleme, geht fremd, woraufhin die schwangere Ehefrau fast das Kind verliert - ein Wink Gottes? MARY ist, das geben wir gerne zu, vielleicht etwas behäbig inszeniert. Das Hauptproblem des Films ist für uns aber, dass sich Ferrara nicht entscheiden will, ob er uns jetzt einen Horrorfilm erzählt, oder eine religiöse Erweckungsarie. Darum tut er beides, und das klappt nicht.

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Es ist die Stunde der "voci", jener obskuren Quellen, die in der anschwellenden Spekulation über den Sieger dann von jeder italienischen Zeitung zitiert werden. Im Internet ist die Stunde von indiscrezione.it gekommen, den zahllosen Bloggern, die es ganz genau wissen wollen. Eine Quelle will wissen, Ang Lee bekomme den Hauptpreis, David Strathairn den Darstellerpreis. Hinzu kommt das Lido-Getuschel: Angeblich so heißt es seien George Clooney, Philippe Garell und Park Chan-wook nach Venedig zurückgekommen - ein sicheres Indiz dafür, dass sie einen Preis erhalten. "Das hat noch nie gestimmt", meint Michael Althen, "Diese Gerüchte gibt es jedes Jahr." Aber das sagt er auch jedes Jahr.

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Der letzte Film im Wettbewerb war die John-Le-Carré-Verfilmung THE CONSTANT GARDENER von Fernando Mereilles, dem Brasilianer, der durch CITY OF GOD bekannt geworden ist. Gleich wird man hineingezogen, man merkt schnell, dass der Film funktioniert und einigermaßen gut ist.
Es geht um einen britischen Diplomaten in Afrika - Ralph Fiennes wieder mal als Englischer Patient, ein groß Liebender, groß Leidender, der am Ende aus Liebe in den Tod geht -, dessen Frau nach einer Reise ins Landesinnere ermordet aufgefunden wird. Während er den mysteriösen Begleitumständen der Tat nachgeht, lernt er die Frau erst wirklich kennen, erneuert ihre Liebe, und vollendet ihr - selbstverständlich hochhumanistisches - Werk, den Kampf gegen ein schurkisches Pharmaunternehmen, das Afrika als menschliche Guinea-Schweine für Medikamententests missbraucht. Die Gutmenschin und der Realist. Natürlich ist es einfach, hier über manches zu spotten. Der Film strotzt vor Ethnoklischees, freilich bildet er damit einfach nur den Blick der Europäer auf Afrika ab, versucht sich nicht künstlich mit dem der Afrikaner gemein zu machen. Am besten ist er trotzdem, wo er sich aus Afrika entfernt und ins diplomatische Milieu eindringt, in die Cocktailpartys und kühlen Büros, wo er diese Szenerien mit den Zynismen und Sarkasmen der Dialoge Le Carrés würzt. Zum Beispiel: "Diplomats have to go, where they are send." - "So do Labradors."

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Einmal mehr hervorragend: Danny Huston, John Hustons Sohn, in der Rolle eines opportunistischen, schwachen, darum aber erfolgreichen Diplomaten. Stilistisch erinnern die Bilder mit den leicht überbelichteten, irgendwie wie auf alten Kodak-Fotografien giftig leuchtenden, matten, ausgeblichenen Farben an CITY OF GOD. Kollegen fanden den Film nicht gut, zum Teil richtig Scheiße - auch wegen angeblichen Moralkitsches. Man könnte es aber auch umgekehrt verstehen: Mereilles/Le Carré erzählen vom Untergang des simplen Idealismus. Denn es ist ja nicht völlig von der Hand zu weisen, wenn Danny Hustons Figur argumentiert: "We are not killing people. We treat ill people, which would die anyway." So schildert der Film ein moralisches Dilemma und ist überdies sehr katholisch, eigentlich eher wie von Graham Greene, wenn er einen Menschen ins Zentrum stellt, der sich moralisch reinigt und dann seine letzte Reinigung und Erlösung dadurch erhält, dass er sich ermorden lässt. Wir sind übrigens auch nicht katholisch.

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Eine Frage aus der Heimat: "Wer sind die anderen?" Ob es sich beim "wir" dieses Tagebuchs um Ichvermehrung oder um pluralis majestatis handle? Ichvermeidung natürlich! Und pluralis majestastis. Aut Caesar aut nihil.

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Zum Abschluss gab es ein Musical auch aus China: Peter Chans PERHAPS LOVE, ein gut gelungenes Melo, konventionell wie vieles, was hier aus China im Wettbewerb läuft, aber eben auch schön anzusehen und gut gemacht.

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Insgesamt zeigte der Wettbewerb viele gute Filme, aber zu wenig Überraschendes, und wirkte so ein bisschen konturlos. Die ersten Preise wurden schon vergeben: Der Kritikerspiegel des Festival-Journals votierte für GOOD NIGHT. AND GOOD LUCK, das Publikum, wer immer da befragt wurde, ebenso. Zweiter wurde gleichfalls bei beiden SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE. Die FIPRESCI-Jury gab ihre Preise ebenfalls an Clooney und an Werner Herzog - für seine verfilmte Space-Night.

Rüdiger Suchsland

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