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Venedig 2005 07.09.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 4. Folge
"Überstehen ist alles"
WHERE THE TRUTH LIES
Kitsch für die Dümmeren? - CASANOVA von Lasse Hallström
 
 
 
 

Venedig, die Stadt, die auf Pfählen steht, welche ständig vor sich hin faulen, und die in ihrer stinkenden Lagune so etwas wie der steingewordene Untergang des Abendlandes ist - aber gleichzeitig auch seine steingewordene Vermeidung - liebt die Apokalypse.

Zu jedem Jahr der Filmfestspiele gehört daher auch das apokalyptische Gerücht. Irgendwann nach den ersten Tagen hört man vom drohenden Untergang, jedenfalls der völligen Veränderung des Festivals, einem neuen, hybriden Projekt, das "ganz schnell" schon im nächsten Jahr verwirklicht werden würde und nach dem das Festival nicht mehr das Gleiche sein werde. Vor ein paar Jahren war es der Eingriff von Berlusconis Kettenhund Urbani, inzwischen Kulturminister geworden, ins Festival-Programm, das "populärer" und "italienischer" werden sollte. Vor zwei Jahren hieß es, die Mostra werde unter Moritz de Hadeln vom Lido in das neue Messegelände in der Stadt Venedig selbst umziehen. Im letzten Jahr hieß es, der neue Leiter Marco Müller werde die Mostra "an die Amerikaner verkaufen." In diesem Jahr nun steht im Zentrum der Gerüchteküche "der neue Festivalpalast", der den alten, noch unter Mussolini errichteten Palast ersetzen solle. Die Pläne für ein Kino mit 2700 Plätzen und das hübsche Modell eines hypermodernen Glaskastens kann man besichtigen, und in Interviews träumt Marco Müller von einem Film-Markt und "viel mehr Platz."

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Jede Wette, dass Müller längst nicht mehr im Amt ist, sollte tatsächlich je ein neuer Festivalpalast gebaut werden. Denn ganz schnell passiert hier aller Erfahrung nach sowieso nichts. Und schon vor Beginn der Mostra meldete sich der gerade wieder neu ins Amt gewählte Ex-Bürgermeister Massimo Cacciari, nicht nur Philosoph, sondern auch Architekturkritiker, zu Wort, und meinte, die Pläne seien "verrückt und zu teuer", er jedenfalls sei dagegen. "Überstehen ist alles", schrieb Rilke. Auch so ein Venedig-Liebhaber.

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Vor der Apokalypse kommt erst mal das Gewitter. Am Samstag war es diesmal soweit - der Wolkenbruch, der zu diesem Festival gehört wie der Schneematsch zur Berlinale pladderte hernieder und überraschte alle, die gerade aus dem Kino kamen, in das sie noch bei Sonnenschein eingetreten waren. Im Nu war die Schwüle verjagt, die sich an den Tagen vorher breit gemacht hatte, frische Luft zog durch die Straßen, und frisch schienen auch die Filme zu sein.

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Zu Venedig passt auch Casanova. Lasse Hallström hat die neueste Version des Lebens des Venezianer Lebemanns verfilmt. Zur Erinnerung, dass es eigentlich schon genug Verfilmungen dieser Figur gibt, zeigte man gleich noch mal den grandiosen IL CASANOVA DI FEDERICO FELLINI, mit dem noch viel grandioseren Donald Sutherland in der Hauptrolle Um den Unterschied zwischen beiden Filmen zu markieren, muss man gar nicht CHOCOLAT und andere unfreiwillige Horrorfilme des Schweden erinnern - "Seit CHOCOLAT bekommt mich keiner mehr in einen Hallström-Film", lästerte ein Kollege. Es genügt die Vorstellung, wie undenkbar es wäre, dass der Film LASSE HALLSTRÖMS CASANOVA heißen könnte. Kurz und gut also: Kitsch für die Dümmeren unter den Amerikanern und den schnellen Ramsch an der DVD-Kasse.

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Die Hauptrolle spielt immerhin Heath Ledger, und auch Hallström gelingt es nicht, den guten Eindruck, den dieser in BROKEBACK MOUNTAIN hinterließ zu zerstören. Überhaupt ist Ledger so etwas wie der "Man of this Year's Festival" - in drei Wettbewerbsfilmen spielt er Hauptrollen und war auf der gestrigen Pressekonferenz schon ganz heiser.

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Vielleicht waren wir gestern gar zu streng - oder gar zu homophob - mit Ang Lees schwulem Western umgegangen. Nein, besser ist der Eindruck eigentlich nicht geworden, nur muss man zugeben, dass der erste Teil schon ganz schön und interessant ist. Und noch interessanter ist die Beobachtung, dass der Film eigentlich allen Frauen, mit denen man spricht, gefällt, nur vielen Männern nicht. Das ist Grund genug, um Verdacht zu schöpfen, dass es in diesen Urteilen nicht nur um den Film geht, sondern um heimliche Ängste der Männer - und um heimliche Sehnsüchte der Damenwelt. Denn natürlich sind die Hauptdarsteller Heath Ledger und Jake Gyllenhall zwei höchst attraktive junge Männer - und wir finden ja auch alle Filme irgendwie gut, in denen Julie Delpy, Sophie Marceau, Maggie Cheung und Zhang Ziyi mitspielen.

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Empfang zu Ehren von Takeshi Kitano. Keine Einlasskontrolle, wer's weiß und Zeit hat, geht eben hin. Kitano, der leider im Verhältnis zum Besuch vor zwei Jahren ziemlich gealtert aussieht, redet zehn Minuten. Auf Japanisch, ohne Übersetzung. Alle Japaner lachen, alle Westler gucken freundlich. Nur unsere geschätzte Kollegin Anke Westphal von der Berliner Zeitung - die zu ihrem größten Bedauern das Büffet kaum genießen konnte, da sie schon eine Abend-Lasagne verdrückt hatte, bevor sie die Einladung erhielt - lacht auch bei jedem Witz. "Verstehst Du denn Japanisch?" frage ich. "Kein Wort, aber ich liebe Kitano einfach, und finde alles toll und witzig, was er macht. Da bin ich ganz parteiisch." In Zukunft lachen wir auch.

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TAKESHI'S, Kitanos Film wirkt auch nach drei Tagen nach, als einer der besten und schönsten des bisherigen Festivals. Das oft sarkastische, manchmal bittere Portrait seines Lebens scheint der Realität zu entsprechen. Eine japanische Kollegin, die Kitano persönlich kennt, erzählt, dass er hauptsächlich im Hotel wohnt, oder bei seinen wechselnden, ca. 20-Jährigen Freundinnen. "Würden wir doch auch machen, an seiner Stelle", sind Anke und ich uns einig. "Klar, ich hätte gern so eine kleine Farm voller Jake Gyllenhalls. Aber ein, zwei Heath Ledgers wären auch dabei", träumt sie.

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Und Orlando Bloom sei auch toll. Na gut, das können wir jetzt nicht ganz nachvollziehen, aber Kirsten Dunst und Cameron Crowe sind Grund genug uns auf ELIZABETHTOWN zu freuen. Und wie wollten wir diesen Film gut finden! Leider, leider klappt es nicht, trotz wunderbarer Szenen, einer wunderbaren Kirsten Dunst und einem geradezu genialen Soundtrack. Aber diesmal fügen sie sich nicht zu einem Ganzen, will sich der Sog und die geschlossene Atmosphäre nicht einstellen, die nötig sind, um sich im Kino zu verlieren. Und Crowe war schon immer ein Regisseur der Emotionalität, nach der Story sollte man lieber nicht fragen. Trotzdem ist ELIZABETHTOWN immer noch der beste unter den bisherigen US-Mainstrem-Filmen, die hier außer Konkurrenz laufen.

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Der beste Film bisher kommt wieder einmal aus Asien: SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE, der Abschluss von Park Chan-wooks Rachetrilogie. Ein großer Film, beeindruckend und leider aber zugleich eine Enttäuschung angesichts von Parks vorherigen Filmen SYMPATHY FOR MR VENGEANCE und OLD BOY. Warum und wieso? Dazu demnächst mehr - jetzt geht's erst mal ins Kino.

Rüdiger Suchsland

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