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Ausnahmezustände, Nachträge, Glück und Schaden
Eskapismus sowie ein Blick auf das liberale Amerika - Venedig-Tagebuch,
2. Folge von Rüdiger Suchsland
"Ich guck mir dieses Jahr keinen einzigen Italiener
an", begrüßt mich die Kollegin einer Berliner
Zeitung. Recht hat sie, denkt man an die üblen Schinken
des letzten Jahres, etwa LA CLAVE DI CASA. Drei italienische
Filme drohen im Wettbewerb. Da hat man dann Zeit zum schreiben
- oder man erinnert sich an die tolle, wenn auch verlorene
Tradition des italienischen Kinos und hofft auf positiv Überraschungen.
Wir werden berichten.
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Raumschiff Venedig - Mit Verzögerung erreichen mich
erst am Freitag die Nachrichten aus den USA: "Anarchie",
"1000 Tote" - wer weiß schon, was hier wahr
ist, und was Hysterie? Man ertappt sich dabei, gleich wieder
in Filmbildern weiterzudenken - Berufskrankheit? Jedenfalls
fallen mir nur durch die Erzählungen am Telefon - Fernsehen
und Radio gibt es hier nicht - Dannie Boyles 28 DAYS LATER
ein, Edward Zwicks THE SIEGE und natürlich WAR OF THE
WORLDS. Jetzt wird New Orleans zum Synonym. Wann wird man
den ersten New Orleans-Film drehen?
Zugleich der - obszöne oder verständliche? - Gedanke,
wie schön es ist, an einem Ort zu sein, der einen so
wunderbar ablenkt vom Rest der Welt. Auch ein Filmfestival
ist ein Ausnahmezustand, wenn auch einer der ganz anderen
Art.
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So verschieden die Filme der Asien-Retrospektive über
hundert Jahre chinesisches und japanisches Kino auch sein
mögen - ein Eindruck stellt sich schon bei den ersten
Besuchen überaus selten zu sehender Klassiker der 30er-Jahre
übereinstimmend ein: Die Nähen und Berührungspunkte
zwischen asiatischen und westlichen Filmen sind viel größer
als man glaubt. Angesichts universeller Erfahrungen wie der
Liebe, des Todes und dem Streben nach Freiheit, angesichts
auch der historischen und technischen Menschheitsgeschichte
verdampfen viele kulturelle Differenzen - so sehr jeder einzelne
Film den Sinn für Differenzen schärft.
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Sieht man dann etwa den neuen Film des Japaners Takeshi Kitano,
der hier an diesem Ort vor genau zehn Jahren mit HANA-BI triumphierte,
erkennt man schnell, dass dieser auch von einem Europäer
stammen könnte: TAKESHIS'S, als "Überraschungsfilm"
am Freitag im Wettbewerb präsentiert, ist die stilistisch
ehrgeizige Selbstreflexion des Regisseurs und Komikers, der
in Japan so populär ist wie Chaplin. Er spielt sich selbst
in einer Doppelrolle, die seine Persönlichkeit in den
öffentlichen Takeshi und den privaten Kitano spaltet.
Während Takeshi haufenweise surreale Erfahrungen mit
Fans und Arbeitskollegen und dem universalen Wahnsinn macht
und seiner Berühmtheit nicht entkommen kann, ist Kitano
ein erfolgloser Schauspieler, der von Alpträumen heimgesucht
wird. Um das anspruchsvolle, hervorragend inszenierte Spiel
der Codes und Verweise angemessen zu verstehen und seine Selbstdekonstruktion
zu schätzen, sollte man einige Kitano-Filme kennen. Aber
auch ohne dieses Wissen wird deutlich, dass der Regisseur
hier überraschend unverblümt auch die eigene Einsamkeit
und Angst thematisiert. Etwa die Angst vor einem Attentat
- als der private Kitano den öffentlichen Takeshi töten
will. Zudem ein Film über das Leben als Hölle: Das
Dilemma eines weltweit erfolgreichen Künstlers, der sich
nicht wiederholen will, und versucht seinen Weg konsequent
weiter zu gehen.
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TAKESHIS'S, dessen Screening erst am Donnerstag bekannt gegeben
wurde, avancierte prompt - außer natürlich bei
den gewohnt mäkeligen und Asian-skeptischen deutschen
Kollegen - zu den großen Favoriten der Presse - gemeinsam
mit OLD BOY-Regisseur PARK CHAN-WOOK, dessen SYMPATHY FOR
LADY VENGEANCE am Freitagabend läuft. Mal abwarten, denn
Favoriten sterben schnell am Lido.
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Arg enttäuschend war dagegen INITIAL D, die Realverfilmung
eines Rennfahrer-Comics aus Japan. Von Andrew Lau und Alan
Mak, dem Team von INFERNAL AFFAIRS, hätte man viel mehr
erwartet als diesen platten Schmarrn, der im Wettbewerb, auch
außer Konkurrenz so überhaupt nichts verloren hat.
Hongkong-Darsteller spielen Japaner, das ist als würden
Franzosen Deutsche spielen, zum Beispiel Gerard Depardieu
einen Nazi-Oberst Müller - dann aber statt "Achtung,
Achtung!" "Attention, attention!" brüllen.
Oder meinetwegen Joachim Fuchsberger als Scotland-Yard-Inspektor
in einem Edgar-Wallace-Krimi. Es gibt Dinge, die gehen eben
nicht.
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Ein paar kleine Nachträge zu SEVEN SWORDS, Tsui Harks
furiosem Eröffnungsfilm: In seinen besten Momenten erinnert
das überaus kurzweiliges Schwerkämpfer-Epos an einen
Western. Zwar ist Tsui Hark kein John Ford, auch fehlt dem
Film die Konsequenz und der Kunstwille von Zhang Yimous HERO,
ebenso wie die Klarheit von Ang Lees vierfachem Oscar-Gewinner
CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON, doch besticht SEVEN SWORDS
durch seine vielen Facetten, durch fulminante Bildeinfälle
und eine Lust an Verspieltheit, wie sie zur Zeit nur chinesischen
Filmen eigen ist. Im Gespräch frage ich den Regisseur,
ob man nach seiner Meinung das Martial-Arts-Genre eigentlich
mit dem Western vergleichen könne? Nein, meint er, für
ihn sei Martial-Arts eher wie Science-Fiction: Sie seien nicht
auf eine enge historische Periode begrenzt, handelten vom
Verhältnis des Menschen zur Technik und plünderten,
Philosophie und Wissenschaft ähnlich, frei flottierend.
Die Schauspieler erzählen, dass weitaus mehr gedreht
wurde, als im Film zu sehen ist. Nicht zuletzt Passagen, in
denen die Charaktere deutlicher ausgearbeitet werden. Das
verstärkt den Verdacht, man könne bald ein Sequel
und ein Prequel zu sehen bekommen. Aber vielleicht behaupten
so etwas Schauspieler auch immer.
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Die Atmosphäre in der "Pagoda" - der abgegrenzten
Strandbar des ebenso alten wie luxuriösen Hotel des Bains,
in dem einst Luchino Visconti den TOD IN VENEDIG drehte -
ist bestechend. Da sitzen einige Superstars des chinesischen
Kinos wie Donnie Yen, Charlie Young und die junge Zhang Jingchu,
die im Februar auf der Berlinale mit ihrem Hauptrollendebüt
PEACOCK prompt einen Preis gewann, hautnah neben einem, in
überaus lockerer Atmosphäre, die es erlaubt, sich
zumindest kurz miteinander zu unterhalten. Nur Fotos sind
nicht erlaubt, darüber wachen aufmerksame Marketingagenten
im Hintergrund. Dafür kann man Donnie Yen dabei zugucken,
wie er frisiert wird - und ironische Scherze über die
Situation macht. Stars aus dem Westen würde man so nie
begegnen. Und für ein paar Sekunden denkt man, dass es
so ungefähr vielleicht im Jahr 1940 gewesen sein könnte,
wenn einem die jungen Cary Grant, Kathryn Hepburn und Laureen
Bacall auf einem Festival über den Weg liefen. Das chinesische
Kino erlebt, auch dafür ist SEVEN SWORDS ein Beweis,
im Augenblick eine vergleichbare Gründerzeit, auf die
man in einigen Jahrzehnten nostalgisch zurückblicken
wird - wie jetzt schon auf die berühmte "Fünfte
Generation."
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Ein Nachtrag auch zu den Reaktionen der (deutschen) Kritik
auf SEVEN SWORDS: Erwartungsgemäß gab es das übliche
Gemecker. Hätte man einen langweilig-verlaberten europäischen
Film gezeigt, wäre die Einfühlungsbereitschaft unermesslich
gewesen. Wenn man etwas nicht verstanden hätte, hätte
man allerlei bedeutungsvolle Gedanken in die Bilder hineininterpretiert
- einem Film aus China, einem - böse, böse - kommerziellen
gar, gibt man soviel Kredit nicht. Da müssen schon wenigstens
arme chinesische Bauern auf dem Land einem Fluss beim Fliessen
zugucken und dabei unter dem Kaiser oder unter Mao leiden.
Durch besonders ärgerliche Ignoranz glänzte diesmal
der Autor einer Frankfurter Zeitung für kluge Köpfe,
zu dessen Gunsten man nur sagen kann, dass er eigentlich gar
kein Filmkritiker, sondern der Venedig-Korrespondent des Blattes
ist. Der "Kung-Fu-Film" sei ein "reaktionäres
Genre" schreibt er und verwechselt damit einmal mehr
Nationbuilding mit rechter Gesinnung. Den Unterschied zwischen
Hongkong und China scheint er nicht zu kennen und behauptet,
das Wu Xia-Genre sei "nach dem Kollektivrausch der Kulturrevolution"
entstanden. Falsch: Der erste Martial-Arts-Film stammt aus
dem Jahr 1928 und heißt THE BURNING OF THE RED LOTUS
MONASTERY. Die Welt des Wu Xia ist ein zentraler Teil der
chinesischen Kultur und lässt sich noch viel weiter auf
die Tradition der Peking-Oper und des Zirkus zurückführen.
Und auch "Flugnummern" sind nichts Neues, keine
modernen Special Effekts, es gibt sie schon in frühen
Filmen, in denen der Flugeffekt etwa durchs Rückwärts-Abspielen
des Films erzeugt wurde. Der ganze Artikel strotzt nur so
von Klischees einer Fernost-Wahrnehmung, die ihren Gegenstand
allein aus der Zeitung kennt, und ist recht repräsentativ
für eine Filmkritik, die glaubt, bei asiatischen Filmen
auch ohne Minimal-Kompetenz auskommen zu können. Zugleich
bestätigt sie damit noch einmal, wie nötig es ist,
dass hier viele chinesische Filme gesehen werden - nicht weil
SEVEN SWORDS ein ach so genialer Film wäre, sondern damit
sich kein Autor mehr eine Kinoerfahrung mit ein paar Stereotypen
vom Leib halten kann.
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Der bisher beste Film kam aus den USA: Mit GOOD NIGHT, AND
GOOD LUCK, der zweiten Regiearbeit von Weltstar George Clooney,
begann der Wettbewerb auf überaus hohem Niveau: Clooney,
selbst Sohn eines bekannten TV-Journalisten, verfasste auch
das Drehbuch, und erzählt hier von Edward R Murrow, der
in den 50er Jahren mit seiner täglichen eigenen CBS-Sendung
zum TV-Star und zur Legende des investigativen Journalismus
wurde. Murrow kämpfte zunächst einen einsamen Kampf
gegen die Machenschaften des berüchtigten rechtskonservativen
Senators McCarthy und dessen Hexenjagd aufs liberale Amerika.
In Aufsehen erregenden Beiträgen wies Murrow McCarthy
schließlich verschiedene Manipulationen und Verfassungsbruch
nach, und hatte so wesentlichen Anteil an dessen Sturz. Die
Hauptrollen spielen neben David Strathairn als Murrow, Clooney
selbst als dessen Redaktionsleiter und ein absolut wunderbarer,
phänomenaler, immer unterspielender Robert Downey Jr.
als Journalistenkollege.
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GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK ist schon deswegen überaus
aktuell, weil er an die guten, selbstkritischen und liberalen
Traditionen Amerikas erinnert, die man heute, in einer der
McCarthy-Ära ähnlichen Ära, leicht übersieht.
Zudem verbindet Clooney seinen Film mit der Anklage einer
Fernsehkultur, die von "Dekadenz und Eskapismus"
- so Murrow im Film - dominiert ist, neudeutsch: des "Unterschichtsfernsehens"
(Harald Schmidt).
Nicht weniger überzeugt Clooneys Film stilistisch: Gedreht
in schwarz-weiß und mit vielen Nahaufnahmen aus leichter
Unterperspektive, wie sie für die 50er-Jahre typisch
sind, lässt er den Betrachter in eine verlorene Zeit
eintauchen. Man sieht Männer in zeittypischen Gesten
und Kleidung, die unheimlich viel rauchen und Scotch trinken
- Männerbilder einer vergangenen Epoche. Mit seiner Coolness
ohne Nostalgie wirkt GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK wie das realistische
Pendant zu Soderberghs OCEAN'S ELEVEN und OCEAN'S TWELVE,
in denen Clooney die Hauptrolle spielte: Auch hier ist ein
"Ratpack" am Werk, eine verschworene Gemeinschaft,
die für das Gute kämpft, und weiß, dass man
dafür auch gut aussehen und lässig bleiben muss.
Rüdiger Suchsland
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