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Venedig 2005 03.09.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 2. Folge
Gut aussehen und lässig bleiben
WHERE THE TRUTH LIES
Der bisher beste Film:
GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK,
von und mit Weltstar George Clooney
 
 
 
 

Ausnahmezustände, Nachträge, Glück und Schaden Eskapismus sowie ein Blick auf das liberale Amerika - Venedig-Tagebuch, 2. Folge von Rüdiger Suchsland

"Ich guck mir dieses Jahr keinen einzigen Italiener an", begrüßt mich die Kollegin einer Berliner Zeitung. Recht hat sie, denkt man an die üblen Schinken des letzten Jahres, etwa LA CLAVE DI CASA. Drei italienische Filme drohen im Wettbewerb. Da hat man dann Zeit zum schreiben - oder man erinnert sich an die tolle, wenn auch verlorene Tradition des italienischen Kinos und hofft auf positiv Überraschungen. Wir werden berichten.

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Raumschiff Venedig - Mit Verzögerung erreichen mich erst am Freitag die Nachrichten aus den USA: "Anarchie", "1000 Tote" - wer weiß schon, was hier wahr ist, und was Hysterie? Man ertappt sich dabei, gleich wieder in Filmbildern weiterzudenken - Berufskrankheit? Jedenfalls fallen mir nur durch die Erzählungen am Telefon - Fernsehen und Radio gibt es hier nicht - Dannie Boyles 28 DAYS LATER ein, Edward Zwicks THE SIEGE und natürlich WAR OF THE WORLDS. Jetzt wird New Orleans zum Synonym. Wann wird man den ersten New Orleans-Film drehen?
Zugleich der - obszöne oder verständliche? - Gedanke, wie schön es ist, an einem Ort zu sein, der einen so wunderbar ablenkt vom Rest der Welt. Auch ein Filmfestival ist ein Ausnahmezustand, wenn auch einer der ganz anderen Art.

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So verschieden die Filme der Asien-Retrospektive über hundert Jahre chinesisches und japanisches Kino auch sein mögen - ein Eindruck stellt sich schon bei den ersten Besuchen überaus selten zu sehender Klassiker der 30er-Jahre übereinstimmend ein: Die Nähen und Berührungspunkte zwischen asiatischen und westlichen Filmen sind viel größer als man glaubt. Angesichts universeller Erfahrungen wie der Liebe, des Todes und dem Streben nach Freiheit, angesichts auch der historischen und technischen Menschheitsgeschichte verdampfen viele kulturelle Differenzen - so sehr jeder einzelne Film den Sinn für Differenzen schärft.

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Sieht man dann etwa den neuen Film des Japaners Takeshi Kitano, der hier an diesem Ort vor genau zehn Jahren mit HANA-BI triumphierte, erkennt man schnell, dass dieser auch von einem Europäer stammen könnte: TAKESHIS'S, als "Überraschungsfilm" am Freitag im Wettbewerb präsentiert, ist die stilistisch ehrgeizige Selbstreflexion des Regisseurs und Komikers, der in Japan so populär ist wie Chaplin. Er spielt sich selbst in einer Doppelrolle, die seine Persönlichkeit in den öffentlichen Takeshi und den privaten Kitano spaltet. Während Takeshi haufenweise surreale Erfahrungen mit Fans und Arbeitskollegen und dem universalen Wahnsinn macht und seiner Berühmtheit nicht entkommen kann, ist Kitano ein erfolgloser Schauspieler, der von Alpträumen heimgesucht wird. Um das anspruchsvolle, hervorragend inszenierte Spiel der Codes und Verweise angemessen zu verstehen und seine Selbstdekonstruktion zu schätzen, sollte man einige Kitano-Filme kennen. Aber auch ohne dieses Wissen wird deutlich, dass der Regisseur hier überraschend unverblümt auch die eigene Einsamkeit und Angst thematisiert. Etwa die Angst vor einem Attentat - als der private Kitano den öffentlichen Takeshi töten will. Zudem ein Film über das Leben als Hölle: Das Dilemma eines weltweit erfolgreichen Künstlers, der sich nicht wiederholen will, und versucht seinen Weg konsequent weiter zu gehen.

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TAKESHIS'S, dessen Screening erst am Donnerstag bekannt gegeben wurde, avancierte prompt - außer natürlich bei den gewohnt mäkeligen und Asian-skeptischen deutschen Kollegen - zu den großen Favoriten der Presse - gemeinsam mit OLD BOY-Regisseur PARK CHAN-WOOK, dessen SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE am Freitagabend läuft. Mal abwarten, denn Favoriten sterben schnell am Lido.

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Arg enttäuschend war dagegen INITIAL D, die Realverfilmung eines Rennfahrer-Comics aus Japan. Von Andrew Lau und Alan Mak, dem Team von INFERNAL AFFAIRS, hätte man viel mehr erwartet als diesen platten Schmarrn, der im Wettbewerb, auch außer Konkurrenz so überhaupt nichts verloren hat. Hongkong-Darsteller spielen Japaner, das ist als würden Franzosen Deutsche spielen, zum Beispiel Gerard Depardieu einen Nazi-Oberst Müller - dann aber statt "Achtung, Achtung!" "Attention, attention!" brüllen. Oder meinetwegen Joachim Fuchsberger als Scotland-Yard-Inspektor in einem Edgar-Wallace-Krimi. Es gibt Dinge, die gehen eben nicht.

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Ein paar kleine Nachträge zu SEVEN SWORDS, Tsui Harks furiosem Eröffnungsfilm: In seinen besten Momenten erinnert das überaus kurzweiliges Schwerkämpfer-Epos an einen Western. Zwar ist Tsui Hark kein John Ford, auch fehlt dem Film die Konsequenz und der Kunstwille von Zhang Yimous HERO, ebenso wie die Klarheit von Ang Lees vierfachem Oscar-Gewinner CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON, doch besticht SEVEN SWORDS durch seine vielen Facetten, durch fulminante Bildeinfälle und eine Lust an Verspieltheit, wie sie zur Zeit nur chinesischen Filmen eigen ist. Im Gespräch frage ich den Regisseur, ob man nach seiner Meinung das Martial-Arts-Genre eigentlich mit dem Western vergleichen könne? Nein, meint er, für ihn sei Martial-Arts eher wie Science-Fiction: Sie seien nicht auf eine enge historische Periode begrenzt, handelten vom Verhältnis des Menschen zur Technik und plünderten, Philosophie und Wissenschaft ähnlich, frei flottierend.
Die Schauspieler erzählen, dass weitaus mehr gedreht wurde, als im Film zu sehen ist. Nicht zuletzt Passagen, in denen die Charaktere deutlicher ausgearbeitet werden. Das verstärkt den Verdacht, man könne bald ein Sequel und ein Prequel zu sehen bekommen. Aber vielleicht behaupten so etwas Schauspieler auch immer.

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Die Atmosphäre in der "Pagoda" - der abgegrenzten Strandbar des ebenso alten wie luxuriösen Hotel des Bains, in dem einst Luchino Visconti den TOD IN VENEDIG drehte - ist bestechend. Da sitzen einige Superstars des chinesischen Kinos wie Donnie Yen, Charlie Young und die junge Zhang Jingchu, die im Februar auf der Berlinale mit ihrem Hauptrollendebüt PEACOCK prompt einen Preis gewann, hautnah neben einem, in überaus lockerer Atmosphäre, die es erlaubt, sich zumindest kurz miteinander zu unterhalten. Nur Fotos sind nicht erlaubt, darüber wachen aufmerksame Marketingagenten im Hintergrund. Dafür kann man Donnie Yen dabei zugucken, wie er frisiert wird - und ironische Scherze über die Situation macht. Stars aus dem Westen würde man so nie begegnen. Und für ein paar Sekunden denkt man, dass es so ungefähr vielleicht im Jahr 1940 gewesen sein könnte, wenn einem die jungen Cary Grant, Kathryn Hepburn und Laureen Bacall auf einem Festival über den Weg liefen. Das chinesische Kino erlebt, auch dafür ist SEVEN SWORDS ein Beweis, im Augenblick eine vergleichbare Gründerzeit, auf die man in einigen Jahrzehnten nostalgisch zurückblicken wird - wie jetzt schon auf die berühmte "Fünfte Generation."

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Ein Nachtrag auch zu den Reaktionen der (deutschen) Kritik auf SEVEN SWORDS: Erwartungsgemäß gab es das übliche Gemecker. Hätte man einen langweilig-verlaberten europäischen Film gezeigt, wäre die Einfühlungsbereitschaft unermesslich gewesen. Wenn man etwas nicht verstanden hätte, hätte man allerlei bedeutungsvolle Gedanken in die Bilder hineininterpretiert - einem Film aus China, einem - böse, böse - kommerziellen gar, gibt man soviel Kredit nicht. Da müssen schon wenigstens arme chinesische Bauern auf dem Land einem Fluss beim Fliessen zugucken und dabei unter dem Kaiser oder unter Mao leiden.

Durch besonders ärgerliche Ignoranz glänzte diesmal der Autor einer Frankfurter Zeitung für kluge Köpfe, zu dessen Gunsten man nur sagen kann, dass er eigentlich gar kein Filmkritiker, sondern der Venedig-Korrespondent des Blattes ist. Der "Kung-Fu-Film" sei ein "reaktionäres Genre" schreibt er und verwechselt damit einmal mehr Nationbuilding mit rechter Gesinnung. Den Unterschied zwischen Hongkong und China scheint er nicht zu kennen und behauptet, das Wu Xia-Genre sei "nach dem Kollektivrausch der Kulturrevolution" entstanden. Falsch: Der erste Martial-Arts-Film stammt aus dem Jahr 1928 und heißt THE BURNING OF THE RED LOTUS MONASTERY. Die Welt des Wu Xia ist ein zentraler Teil der chinesischen Kultur und lässt sich noch viel weiter auf die Tradition der Peking-Oper und des Zirkus zurückführen. Und auch "Flugnummern" sind nichts Neues, keine modernen Special Effekts, es gibt sie schon in frühen Filmen, in denen der Flugeffekt etwa durchs Rückwärts-Abspielen des Films erzeugt wurde. Der ganze Artikel strotzt nur so von Klischees einer Fernost-Wahrnehmung, die ihren Gegenstand allein aus der Zeitung kennt, und ist recht repräsentativ für eine Filmkritik, die glaubt, bei asiatischen Filmen auch ohne Minimal-Kompetenz auskommen zu können. Zugleich bestätigt sie damit noch einmal, wie nötig es ist, dass hier viele chinesische Filme gesehen werden - nicht weil SEVEN SWORDS ein ach so genialer Film wäre, sondern damit sich kein Autor mehr eine Kinoerfahrung mit ein paar Stereotypen vom Leib halten kann.

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Der bisher beste Film kam aus den USA: Mit GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK, der zweiten Regiearbeit von Weltstar George Clooney, begann der Wettbewerb auf überaus hohem Niveau: Clooney, selbst Sohn eines bekannten TV-Journalisten, verfasste auch das Drehbuch, und erzählt hier von Edward R Murrow, der in den 50er Jahren mit seiner täglichen eigenen CBS-Sendung zum TV-Star und zur Legende des investigativen Journalismus wurde. Murrow kämpfte zunächst einen einsamen Kampf gegen die Machenschaften des berüchtigten rechtskonservativen Senators McCarthy und dessen Hexenjagd aufs liberale Amerika. In Aufsehen erregenden Beiträgen wies Murrow McCarthy schließlich verschiedene Manipulationen und Verfassungsbruch nach, und hatte so wesentlichen Anteil an dessen Sturz. Die Hauptrollen spielen neben David Strathairn als Murrow, Clooney selbst als dessen Redaktionsleiter und ein absolut wunderbarer, phänomenaler, immer unterspielender Robert Downey Jr. als Journalistenkollege.

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GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK ist schon deswegen überaus aktuell, weil er an die guten, selbstkritischen und liberalen Traditionen Amerikas erinnert, die man heute, in einer der McCarthy-Ära ähnlichen Ära, leicht übersieht. Zudem verbindet Clooney seinen Film mit der Anklage einer Fernsehkultur, die von "Dekadenz und Eskapismus" - so Murrow im Film - dominiert ist, neudeutsch: des "Unterschichtsfernsehens" (Harald Schmidt).
Nicht weniger überzeugt Clooneys Film stilistisch: Gedreht in schwarz-weiß und mit vielen Nahaufnahmen aus leichter Unterperspektive, wie sie für die 50er-Jahre typisch sind, lässt er den Betrachter in eine verlorene Zeit eintauchen. Man sieht Männer in zeittypischen Gesten und Kleidung, die unheimlich viel rauchen und Scotch trinken - Männerbilder einer vergangenen Epoche. Mit seiner Coolness ohne Nostalgie wirkt GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK wie das realistische Pendant zu Soderberghs OCEAN'S ELEVEN und OCEAN'S TWELVE, in denen Clooney die Hauptrolle spielte: Auch hier ist ein "Ratpack" am Werk, eine verschworene Gemeinschaft, die für das Gute kämpft, und weiß, dass man dafür auch gut aussehen und lässig bleiben muss.

Rüdiger Suchsland

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