Vom Flugzeug aus wirkt alles noch friedlich: Venedig, der
Markusplatz und den Campanile sieht man beim Ladeanflug, und
ganz dahinten ist er, der kleine Sandstreifen, auf dem von
heute Abend an zum 62. Mal die "mostra internazionale
d'arte cinematografica" stattfinden wird. Das erste,
was man vom Lido sieht, ist eine große "CAMPARI"-Werbung,
auf dem Riviera-Hotel, direkt am Landeplatz. Campari oder
wahlweise auch Aperol wird hier zu "Spritz" verarbeitet,
dem Leib- und Magengetränk nicht nur der Lido-Rentner,
sondern auch vieler Festivalbesucher, vor allem der weiblichen.
Die Berliner Kollegin trank einen, nachdem sie die Akkreditierungsprozedur
endlich überstanden hatte, und berichtete on ihrem Hotel,
das aussieht "wie ein DDR-Ferienwohnheim." Und sie
weiß, wovon sie spricht.
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Endlich am Festivalgelände angekommen, ist der Anblick
ernüchternd. Man hat sich daran gewöhnt, dass dieses
Gelände hier in jedem Jahr etwas voller ist als im letzten,
dass der schöne offene Platz vor dem Casino, in dem das
Festivalzentrum und der Presseraum liegen, längst zugestellt
ist von Bretterbuden und Plastikzelten, in denen irgend ein
Tand weit überteuert verkauft wird, oder Sponsoren irgendeinen
kostenlosen Mist und unzählige Zettel verteilen, die
allen auf den nächsten 50 Metern im Müll landen.
Diesmal allerdings hat man das Casino und sämtliche Kinos
mit einem Metallzaum umstellt, zu dem es nur an mehreren Eingängen
Zugang gibt. Dort hat man eine Art weiß umkleidete Triumphbögen
errichtet, die aussehen, wie Miniaturen von Albert-Speer-Entwürfen.
Auf denen klebt ein meterhoher Plastiklöwe, der hoffentlich
bald von irgendeinen Windstoß mitgerissen wird, und
einen der viel zu zahlreich herumstehenden Sicherheitsdeppen
erschlägt. Denn diese und ihre "cazzi di porti",
Türsteher, haben sich in diesem Jahr das Festival unter
den Nagel gerissen. Sicherheitswahn wie noch nie, angeblich
wegen "London", sprich die Attentate vom Juli, und
am Anfang denkt man, dass Rucksackträger jetzt die neuen
Outcasts sind.
Es heißt, man dürfe nur mit den durchsichtigen
Festivaltaschen ins innere Gelände. "Besorgen Sie
sich doch einen durchsichtigen Rucksack", sagt lachend
die Pressefrau, die alles wohl auch eher albern findet, auf
meinen Einwand, man müsse schließlich sein Arbeitsmaterial
mitnehmen können.
Letztlich aber sind wir hier in Italien und darauf ist noch
immer Verlaß. Wer schimpft kommt irgendwann doch hinein,
und schon nach wenigen Stunden war alles nicht so gemeint.
Der ZDF-Kollegin Antje Pieper sagt Festivalchef Marco Müller
dann im Interview, da würde sich die Polizei wohl etwas
"aufplustern."
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Richtig los ging das Festival dann am Mittwochabend: Man
sah galoppierende Reiter vor weiten Landschaftspanoramen,
spektakuläre Schwertkämpfe und natürlich große
Gefühle: SEVEN SWORDS vom Hongkong-Regisseur Tsui Hark
ist das absolute Kontrastprogramm zum letztjährigen Eröffnungsfilm
TERMINAL von Steven Spielberg: Wildes, schnelles, modernes
Kino auf der Höhe unserer Zeit. Gewiß ein kommerzieller
Film, aber auch wenn der 55-jährige Tsui Hark sicher
nicht als der John Ford des Martial-Arts-Genres in die Filmgeschichte
eingehen wird, ist dies doch in der Machart eindeutig auch
Filmkunst - ein optimaler Eröffnungsfilm, kein Abklatsch,
sondern ein Werk aus eigenem Recht.
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Nach einer alten Legende erzählt der Film eine Art chinesische
Version von Kurosawas SEVEN SAMURAI: Sieben Helden helfen
einem armen Bauerdorf und einer Gruppe von Kindern gegen schurkische
Unterdrücker - ein zweieinhalbstündiges, überaus
kurzweiliges Schwerkämpfer-Epos aus dem Reich mit der
Mitte, in dem auch die wilde Natur des chinesischen Nordens
zum Mitspieler wird.
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Ein paar Kollegen aus Hongkong finden den Film "ok",
aber auch nicht mehr. Sie erzählen, aber, was für
eine "große Ehre" es sei, dass die alte Filmtraditionsstadt
Hongkong hier den Eröffnungs- und den Abschlussfilm stellt.
Deutlicher hätte das Signal von Marco Müller nicht
sein können: In seinem zweiten Festival richtet der studierte
Sinologe den Blick nach Fernost. "Das neue Hollywood
liegt in Asien!" verkündete er gestern zur Eröffnung,
"Hongkong, Tokio und Seoul heißen die derzeitigen
Kinohauptstädte." Die Einsicht, dass aus Fernost
das heute beste Kino kommt, ist zwar nicht mehr ganz neu,
Müller allerdings zieht aus ihr die Konsequenzen. Nicht
allein, dass neun Wettbewerbs- Filme (davon drei außer
Konkurrenz) sowie viele weitere in den Nebenreihen aus Asien
kommen, Müller zeigt unter dem Titel "Die verborgene
Geschichte des asiatischen Kinos" auch in der Retrospektive
unbekannte Klassiker aus Asien. "Unser Wissen dieser
überaus reichen Kinolandschaft ist stark unterentwickelt",
so Müller. Einen Ehrenlöwen für sein Lebenswerk
erhält überdies der japanische Animationsmeister
Hayao Miazaki, dessen neuester Film DAS WANDELNDE SCHLOSS
gerade in den deutschen Kinos läuft.
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So steht hier alles im Zeichen asiatischer Ästhetik.
Die meisten Wettbewerbsfilme allerdings stammen aus Europa,
darunter allein drei aus Frankreich, während das amerikanische
Kino die Konkurrenz um den "Goldenen Löwen"
offenbar scheut und überwiegend nur außer Konkurrenz
seine Weltpremiere am Lido feiert. Ausnahmen: der Independent-Filmer
Abel Ferrara und die Schauspieler John Turturro und George
Clooney mit ihren neuen Regiearbeiten. Auch ein deutscher
Film war in den Wettbewerb geladen: Hans-Christian Schmids
REQUIEM lehnte die Einladung allerdings ab und zog die Teilnahme
an der Berlinale vor. Immerhin laufen in den Nebenreihen die
neuen Filme von Werner Herzog und Philip Gröning sowie
eine Dokumentation über das erste deutsche Supermodel
Veruschka von Lehndorff - insofern gibt es keinen Grund, wie
gleich wieder reflexartig manche Filmfunktionäre über
fehlendes Venedig-Interesse zu klagen.
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Mehrere tausend Besucher haben sich wieder am Lido eingefunden
- nach Cannes und neben Berlin gilt Venedig trotz verschärfter
Konkurrenz (Toronto, San Sebastian) weiterhin als wichtigstes
Filmfestival der Welt. Sie erwartet an den kommenden zwölf
Tagen eine brisante Mischung aus Kunst und Glamour, Stars
und Neuentdeckungen - bis am Ende die Goldenen und Silbernen
Löwen verteilt werden.
Das "Riviera" kostet übrigens 60 Euro pro Nacht,
gar nicht so viel für ein Lido-Hotel, während des
Festivals allerdings dann 215.-, und das ist schon der Preis
für diejenigen, die die ganzen 12 Tage bleiben. Es geht
auch hier also zunächst ums Geschäft, das sollten
wir nicht vergessen. Kommt man aus Deutschland denkt man aber
zunächst einmal daran, endlich der Kälte und dem
Regen, dem Wahlkampf und der Flut entronnen zu sein, in 30
Grad Wärme und ziemlich viel Luftfeuchtigkeit. Gutes
Wetter und zwölf Tage lang Top-Kino an einem der schönsten
Plätze der Welt - was kann man noch mehr wünschen?
Rüdiger Suchsland
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