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Das Filmfest zieht ja bekanntermaßen auch Publikum ins Kino, das sonst nie ins Kino geht. So wie andere nie in den Zirkus, aber auf’s Tollwood in die Zelte gehen, weil es nunmal stattfindet, so zelebriert das Münchner Publikum das Filmfest. Ein großer Jahrmarkt das Ganze, bei dem Filme, die als Wanderzirkus von Festival zu Festival ziehen, in München für eine Woche gastieren. Die Independents kommen vom Sundance-Filmfest, anderes konnte man schon letztes Jahr auf der Viennale in Wien sehen, wie den fast schon hypnotisierenden ROIS ET REINE von Arnaud Desplechin, aber alle Filme werden das erste Mal in München gespielt. Und so ist das Filmfest München, ähnlich wie das Münchner Dok.Fest, vor allen Dingen ein Publikumsfestival. Aber es versteht auch, das Fachpublikum mit etlichen Preisverleihungen und Empfängen bei Laune zu halten: Short Tiger Award, Cinemerit Award, Förderpreis Deutscher Film, alles muss begossen werden. Man kann also sehen und gesehen werden, beim Münchner Filmfest, und auch das ist eine seiner Attraktionen.
Da passt es nur zu gut, dass eine der Hauptspielstätten des Filmfestes der Maxx-Mulitplex ist, mit seinem Foyer, in dem einem Pop-Corn zum Selbermachen als Premiere-Werbegeschenk in die Hand gedrückt wird, man einen „kleinen“ halben Liter Cola erwerben kann und einem dann später im Kinosaal über die Belüftung Bratwurstgerüche in die Nase geblasen werden, während man die Filme sieht.
Den Unterhaltungseffekt allzu ernst genommen hat da aber wohl die Katalogredaktion, die sich dieses Jahr vor allem mit Entgleisungen in den Bildunterschriften hervorgetan hat. Nicht nur glozt einen, wenn man den Katalog aufschlägt, gleich beim ersten Film „4“ des russischen Experimentalfilmers Ilya Khrzhanovsky ein praller Busen entgegen, sondern man darf da auch lesen dass dies „Mütterchen Russland aus ungewöhnlicher Perspektive“ darstellen soll. Eine der Fragen vom Publikum zu diesem Film war, weshalb der Filmemacher denn den Film gemacht hätte, wenn er keine Message habe. Wenn natürlich vorher die Sex-Sells-Masche aufgeboten wird, dann muss man sich auch über solche Fragen nicht wundern. Fast noch besser, weil noch geschmackloser, aber ist die Bildunterschrift zu dem herausragenden THE JACKET von John Maybury im Internationalen Programm. Da darf man dann unter dem Bild, das den in eine Zwangsjacke gefesselten Golfskriegsveteranen Jack Starks zeigt, lesen: „Böse, wenn jetzt die Kopfhaut juckt“. Das ist weder böse noch witzig, sondern ganz auf dem Niveau von Mac-News und Co. Aber vielleicht fanden ja ein paar Kids die Bildunterschrift geil und haben sich abgelacht beim düsteren Science-Fiction-Albtraum des Zeitreisenden.
Dabei ist die Filmauswahl keinesfalls zum Ablachen, sondern streckenweise sehr ernst und von gutem Niveau. Und dies oftmals, wenn die Filme ganz schlicht erscheinen. L’ENFANT von den Belgiern Luc und Pierre Dardenne, die in Cannes die Goldene Palme für ihren Film erhielten, ist so ein Beispiel. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Paares der untersten Gesellschaftsschicht, von Bruno, einem Obdachlosen, der sich durch Diebstahl und Hehlerei finanziert und seiner Freundin Sonia, die soeben Jimmy zu Welt gebracht hat. Am Anfang schlagen sie sich so durch, erstehen einen Kinderwagen und ein Cabriolet, das eine glückliche, wilde Zukunft der grenzenlosen Verschwendung verheißen mag, und alles scheint seinen normalen Weg, nur eben etwas anders, zu gehen. Bis Bruno, der in dem zwanghaften Bedürfnis, alles zu Geld zu machen, um sich am Leben zu halten, den kleinen Jimmy verkauft. Die Dardenne-Brüder schaffen aus einer einfachen Ausgangslage eine hochspannende Geschichte zu erzählen, über die Grenzen des Handelns, über Werte und den ökonomischen Diskurs, der das Leben bestimmt, auch über Sympathie und Verurteilung und die Bereitschaft zur Versöhnung.
Eine einfache Ausgangssituation bennent auch Christoph Hochhäusler für seine Gratwanderung zwischen Realem und Imaginären in FALSCHER BEKENNER. Da ist ein überbehütendes Elternhaus, das dem 18jährigem Armin zusetzt. Er soll eine Lehrstelle finden, was er nur halbherzig verfolgt, und deshalb mit allerhand guten Ratschlägen bedacht wird. Morgens wird ihm vom Vater das Marmeladenbrot geschmiert, und die Mutter greift beherzt ein, wenn Sohnemann die Knödel für die Familie formen soll, aber wieder an seinem inneren Widerstand scheitert. Das Nebeneinander dann aber, von Mutter und Sohn in der Küche, der kleine beiläufige Dialog, da springt einem unmittelbar die kleine, ach so heimelige und bisweilen auf ihre unaussprechliche Art zärtliche Welt deutschen Kleinbürgertums entgegen. Wo Hochhäusler hier dem Leben direkt auf die Finger guckt und eine klare Sozialstudie der Generation gelingt, deren Mütter eigentlich immer nur genervt haben, findet er auf der anderen Seite emotionale Bilder der inneren Zustände von Armin, die zwar in der Realität verankert sind, immer aber auf die Evasion in ein Imaginäres hindeuten. Wenn Armin in seinem stereotypen Jugendzimmer – Poster, Stereoanlage, Single-Bett, Computer – von einem Biker sodomiert wird, dann ist das so ein Moment des Realwerdens von einem inneren, zur Brutalität gesteigerten Verlangen nach Realitätserfahrung. Wer so weich gebettet wird wie Armin, kann sich sich in seinen Sehnsüchten bis in die falsche Identität eines Mörders und Brandstifters hineinträumen. In der Klarheit dieser Emotions-Konstruktion ist Hochhäuslers Film bisweilen allzu plakativ; in der Unbestimmtheit der evasiven Momente hinsichtlich ihres Realitätsstatus jedoch verführerisch und rätselhaft. Constantin von Jascheroff wurde für seine Darstellung des unwirschen Armin Steeb zu Recht mit dem Föderpreis Deutscher Film ausgezeichnet.
Wie aus einfachen Figurenkonstellationen größte Heiterkeit entstehen kann, zeigt LES SOEURS FACHÉES (DIE UNGLEICHEN SCHWESTERN) von Alexandra Leclère. In ihrem Debütfilm zieht sie bewährte Register der Charakterkomödie: Die Schwestern Martine (Isabelle Huppert) und Louise (Catherine Frot) bilden das klassische Paar der Gegensätze, an dem sich der komödiantische Effekt entzünden kann. Martine ist eine vertrocknete, verbiesterte und frustrierte Hausfrau der Pariser Upper-Class. Louise ist die charmant-tolpatschige, immer ein wenig zu laute und überschäumende Provinzpomeranze, die äußerst erfolgreich bei den Editions Grasset ihren ersten Roman unterbringt, den Mann ihres Lebens gefunden hat und durch ihre hinreißende Art alle zu verzaubern weiß. Sie trägt die Provinzposse nach Paris, wedelt mit ihrem übergroßem Stadtplan, staunt wie einst ZAZIE DANS LE MÉTRO über die Pariser Architektur und zeigt der verklemmten Erwachsenenwelt eine lange Nase. Alexandra Leclère hat einen wunderbaren Bildwitz, der sich ganz frei in kleinen Details entfalten kann. Und bisweilen weiß man wirklich nicht mehr, wer unerträglicher ist, die an ihrem Leben leidende und um sich giftende Martine, oder Louise, der alles gelingt und in ihrer Tolpatschigkeit einfach nur perfekt ist.
Drei Beispiele für Filme, die einen beschäftigt haben in den Filmfesttagen, die einen nicht losließen und bei denen auch, wie im Fall von FALSCHER BEKENNER, das Für und Wider lange überlegt sein wollte, ein Beweis für seine schillernde Uneindeutigkeit und tiefgründige Vielschichtigkeit, die dann letztlich über die plakative Konstruktion hinwegretten konnte.
Nicht immer aber können Filme sich selbst retten, weil sie einem zusetzen oder nicht mehr loslassen. Ganz und gar abgründig war EROS, ein Episodenfilm in der Co-Regie von Antonioni, Soderbergh und Wong Kar-wai. Ein herbeiphantasierter Softporno die erste Episode, die zweite, schon besser, wie der psychoanalytische Kommentar dazu, und schließlich Wong Kar-wai mit der einzigen sehenswerten Episode „Il Mano“. Die Erzählung von einem Schneiderlehrling, der eine Frau der höher stehenden Gesellschaft, für die er Kleider fertigt, begehrt, gibt Raum für eine subtile und sehr wahr erscheinende Männererotik. Wong Kar-wai aber scheint sich der Dimension des Projekts bewusst gewesen zu sein, bei dem er mitmacht: in äußerst bewährter Manier (Hotelflure, schönste Frauenkleider, betörende Musik) entwickelt sich seine Erzählung, vermutlich locker aus dem Ärmel geschüttelt vom Meister der in den Bann ziehenden Atmosphären.
Eigentlich nur ein Fragezeichen bleibt nach DIE HÖHLE DES GELBEN HUNDES von Byambasuren Davaa. Zwar will die Geschichte von dem kleinen Mädchen Nansaa, die in einer Höhle einen kleinen Hund findet, die mongolische Legende des Gelben Hundes nacherzählen und den Zuschauer in märchenhafte Stimmung versetzen, übrig bleibt am Ende jedoch allein die Geschichte von dem Mädchen, das gegen den Willen der Eltern einen Hund behalten möchte. Aber immerhin, der Stimmungstopf ist gut angerührt bei Davaa: die Weite der mongolischen Landschaft, die farbprächtigen Kleider der Nomadenfamilie, die einsam in ihrem wunderschön ausgestattetem Zelt lebt, die süßen Kinder mit ihren netten Zöpfen und roten Backen, das einfache Leben, in dem Dung ein heißbegehrtes Spielzeug ist. All das summiert sich zu einem Ethno-Kitsch, der umso unerträglicher wird, als uns hier auch noch dokumentarische Wahrheit vorgegaukelt wird.
Aber wenn das Filmfest ein Jahrmarkt ist, dann gibt es auf diesem auch Gaukler. Und so war dieses Jahr wieder für jeden was dabei.
Dunja Bialas |