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jahresrückblick 2005 29.12.2005
 
 
 
Begegnungen
Cannes 2005
Die wahre Mission des Kinos:
Der Fiktion eine Seele einhauchen - wie hier in Tim Burtons CORPSE BRIDE
 
 
 
 

Über die Angst vor der Bratpfanne, die Begegnung mit einem Jaguarhai und Filme, die es nicht auf deutsche Leinwände geschafft haben.

(Vorbemerkung: Einige meiner absoluten Lieblinge unter den 2005 offiziell in deutsche Kinos gekommenen Filme zählten für mich schon zum Filmjahr 2004 - als die da wären Wong Kar-Wais 2046, Scorseses THE AVIATOR und Jeunets UN LONG DIMANCHE DE FIANÇAILLES (dt. MATHILDE - EINE GROßE LIEBE), sowie (knapp unterhalb der Topfavoriten) DE-LOVELY.)

SCHÖNSTE MOMENTE

Die Begegnung mit dem Jaguarhai in Wes Andersons unendlich schöner Tauchexpedition zur verlorenen Zeit THE LIFE AQUATIC WITH STEVE ZISSOU (unsäglicher deutscher Titel: DIE TIEFSEETAUCHER): Der Moment, in dem Steve Zissou (Bill Murray) begreift, dass er loslassen muss, dass er all seinen Hass und seine Sehnsucht nach der Vergangenheit fahren lassen muss. Und - Wes Andersons großes Thema überhaupt - in dem er merkt, dass kein Mensch je allein ist, egal wie einsam er sich fühlt. Dass er (so nervenaufreibend und kompliziert und fernab aller institutionalisierter Vorstellungen das auch ist) Teil einer sehr eigenartigen Art von "Familie" ist.

"Die Bratpfanne, vor der hat er Angst!" Oder doch "Sag mal, wessen Lieblingsfarben waren eigentlich Grau und Rosa"? Oder nicht eigentlich "Ich komm dann mal besser mit"? Oder überhaupt die wunderbaren wortlosen Momente? Egal, Hauptsache DIE QUEREINSTEIGERINNEN waren mal wieder ein rundum glücklichmachender deutscher Film.

"Ja oder nein, ja oder nein," vollkommen in Rage die großartige Valeria Bruni Tedeschi: "Warum nicht BEIDES?!" Von manchen wurde CRUSTACÉS ET COQUILLAGE (dt. MEERESFRÜCHTE) vorgeworfen, er sei zu leichtgewichtig. Aber das war doch genau der Punkt! Zu zeigen, dass eben NICHT immer alles ein PROBLEM sein muss, sondern dass man bei allen Geschlechter- und Beziehungswirrungen auch mal beschließen kann, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und nach Lust und Laune und bestem Gewissen ohne den Erwartungsdruck der Gesellschaft das Schönste draus zu machen. MIT Musicaleinlagen. Bravo! Jawoll.

Das Asia-Filmfest, das dieses Jahr zum zweiten Mal im Mathäser stattfand und leider noch nicht den Zuschauerzustrom verbuchen konnte, der ihm zustände: Hatte dieses Jahr für mich von allen Festivals, die ich besucht habe, mit Abstand die höchste Dichte an cineastischen Glücksmomenten. Allein mit den Filmen KAMIKAZE GIRLS, VITAL, BORN TO FIGHT, KEKEXILI - MOUNTAIN PATROL, BLACK und, allen voran, CITIZEN DOG hätte sich locker auch diese komplette Jahresbestenliste bestreiten lassen.

Nicht die schönsten, aber einige der heftigsten und nachhaltigsen Momente hatte THE DEVIL'S REJECTS. War der nicht minder brillante Vorgänger HOUSE OF 1000 CORPSES noch eine muntere, bizarr-karnevaleske Geisterbahnfahrt durch 100 Jahre amerikanisches Entertainment, war hier weitgehend Schluss mit lustig, war das mehr THE LAST HOUSE ON THE LEFT statt THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE. DEVIL'S REJECTS fuhr sehr fies und sehr bewusst Achterbahn mit den Publikumssympathien. Und war wohl der einzige konsequent gottlose Horrorfilm inmitten der von neuentdeckter Spiritualität heimgesuchten US-Genrelandschaft. Überhaupt gebührte Rob Zombie der Titel des wichtigsten gegenwärtigen US-Horrorregisseurs - wenn der nicht mangels Kandidaten für die folgenden Plätze ziemlich sinnlos wäre.

À propos gottlos: Wie der Brenner (Josef Hader) in SILENTIUM buchstäblich sein Kreuz zu tragen hatte, das war eins der vielen dunkelböse funkelnden Highlights in diesem herrlich unheiligen Salzburg-Panorama. Das auch noch die kongeniale Verfilmung eines eigentlich unverfilmbaren Buchs war.

2005 war das Jahr, in dem dem Kino das Publikum in Scharen abhandenkam. Und selbst als eingefleischter Cineast mit einem Pensum von bis zu zwei-, dreihundert Filmen im Jahr konnte man es ihm nicht immer verdenken - streckenweise schien das Kino wirklich etwas von seiner Seele verloren zu haben, schien es mehr ein "going through the motions". "Animation" heißt wörtlich "Beseelung" - und sowohl WALLACE & GROMIT IN THE CURSE OF THE WERE-RABBIT als auch TIM BURTON'S CORPSE BRIDE haben genau das geschafft: Beides nicht nur in ihrem Genre Filme des Jahres - beide hatten alles an Fantasie, Emotion, Liebe und Begeisterung für's Medium, die einen das Kino wirklich wieder als Ort der Träume und des Zaubers erleben ließen.

Und schließlich: Die "Artechock präsentiert"-Matineen. Nein, das ist jetzt nicht wirklich Eigen-Schleichwerbung; ich spreche hier ganz als Zuschauer. Und da habe ich mich immer wieder gefreut, dass es ein paar überaus sehenswerte Filme nach München geschafft haben, die im regulären Verleih außen vor blieben - und habe genossen, dass dies zudem in einer Atmosphäre von Kino als echtem Gemeinschafts- und Diskussionserlebnis stattfand. Also ein dickes "Danke!" an Magali - der wir die Reihe letztendlich verdanken.


ENTTÄUSCHUNGEN

Warum sich die Stimmung verderben, indem man sich noch lang erinnert an solch im eigentlichen Sinn enttäuschende, fast schon vorhersehbar vergeigte oder aus diversen Gründen ärgerlichen Filme wie SIN CITY, STAR WARS: EPISODE III, KINGDOM OF HEAVEN, CRASH, THE GRUDGE, LAND OF THE DEAD, L'ENFANT, GESPENSTER oder THE WAYWARD CLOUD?

Nein, die Enttäuschungen, die wirklich der Aufregung lohnen, waren mal wieder all die Filme, die NICHT zu sehen waren.
Als halbwegs fleißiger Festivalbesucher hatte man wenigstens kein Problem, Gus Van Sants großartige Kurt Cobain-Fantasie LAST DAYS zu erwischen. Aber noch immer warten wir hierzulande (und wohl endgültig vergeblich) auf Woody Allens HOLLYWOOD ENDING, können wenig Hoffnung haben, dass John Waters' A DIRTY SHAME uns je erreicht, und müssen voraussichtlich auch auf Neil Jordans jüngstes Werk, die Patrick McCabe-Verfilmung BREAKFAST ON PLUTO verzichten.
Und das ist nur eine kleine Auswahl, und nur von Regisseuren, die in Deutschland auch durchaus einem Mainstream-Publikum ein Begriff sind. Was es alles z.B. in Asien noch gäbe, was dringend auf hiesige Leinwände gehörte, davon wollen wir gar nicht erst anfangen...

Thomas Willmann

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