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jahresrückblick 2005 05.01.2006
 
 
 
Jenseits der Krise
Ein persönlicher Rückblick auf das
Filmjahr 2005
Cannes 2005
Todeskampf: DAS MEER IN MIR
 
 
 
 

Die so genannte Kinokrise war eines der großen Themen des Kinojahres 2005 und so werden nun auch zahlreiche Rückblicke davon bestimmt. Sicher ist es interessant, darüber zu diskutieren, was die Ursache für den zum Teil dramatischen Besucherrückgang war. Lag es am Boom des Heimkinos? An der allgemeinen wirtschaftlichen Flaute? Am Fehlen der Blockbuster? Blieben diese wiederum aus, weil Hollywood "am Publikum vorbei produzierte" (mein Euphemismus des Jahres)?

So oder so muss man feststellen, dass es bei diesen Fragen um schlichte Umsatzzahlen eines Wirtschaftszweiges geht, die jedoch wenig über den Zustand der Kunstform Film aussagen.

Um den Filmkunst-Jahrgang 2005 zu beurteilen, sollte man sich zwei Dinge vor Augen halten.
Erstens: Die Zahl der Kinostarts ist ungebrochen hoch bzw. sogar leicht steigend. Auch wenn nicht jeder der anlaufenden Filme überall und sofort zu sehen ist und viel Gutes gar nicht in unsere Kinos kommt (was ebenfalls wirtschaftliche / strukturelle und keine künstlerischen Probleme sind), beweist es doch, dass allem Gejammere zum Trotz sehr viele Filme produziert werden, was das gerne gezeichnete Schreckensszenario vom schlechten Umsatz an der Kinokasse = kein Geld für neue Filme = Untergang des Kinos, durchaus in Frage stellt.

Zweitens: Eine große Zahl von produzierten Filmen muss natürlich noch lange nicht bedeuten, dass auch viele gute darunter waren.
Es gibt darum schlussendlich nur eine Möglichkeit, um sich vom Zustand der Filmkunst ein Bild zu machen und die besteht darin, die letztjährigen Kinoerlebnisse noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen, was ich hier gewohnt subjektiv und mit der Beschränkung auf das Gute, Wahre und Schöne tun möchte.

Kampfhandlungen

Trotz starken äußerlichen Unterschieden, wiesen die Dramen dieses Jahres doch alle ein unverkennbares Element des Kampfes auf.

Häuserkampf 1: HAUS AUS SAND UND NEBEL. Jennifer Connelly, Ben Kingsley, ein Haus, das Meer, ein Konflikt. Ein Film wie eine mächtige Welle, die sich schließlich mit großer Wucht an einem Felsen bricht.

Häuserkampf 2: DER WILDE SCHLAG MEINES HERZENS. Tom (Romain Duris) ist Miethai und Pianist. Für das eine zu sensibel, für das andere zu brutal, bleibt nur die Zerrissenheit.

Freiheitskampf: MANDERLAY. Die Freiheit ist nicht nur ein kostbares Gut, sondern auch eine tückische Angelegenheit. Zum Glück ist Lars von Trier ein Spezialist für das Tückische.

Arbeitskampf: KONTROLL. Eigentlich ein Horrorfilm und doch auch Komödie, existenzielles Drama und soziales Dokument. Ein guter Horrorfilm ist eben immer mehr als nur Leute erschrecken.

Überlebenskampf: WILLENBROCK. Würden Sie diesem Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen? Axel Prahl als glückloser Autohändler in einem gewohnt lakonischen Drama von Andreas Dresen.

Existenzkampf: CODE 46. Immer mehr sucht das Kino seine Geschichten in der Vergangenheit und die Zukunft scheint niemand mehr zu interessieren. Michael Winterbottom setzt diesem Trend einen vielschichtigen und visionären Film entgegen.

Todeskampf: DAS MEER IN MIR. Der viel zu frühe Tod von Raul Julia 1994 hat eine schmerzliche Lücke in die Reihe der guten Schauspieler gerissen. Javier Bardem beweist auch in diesem Film, dass er dabei ist, diese Lücke adäquat wieder zu schließen.

Widerstandskampf: PARADISE NOW. Haben wir Terror und Gewalt im Nahen Osten nicht täglich in den Nachrichten? Das schon, nur fehlt den Nachrichtenbildern die Geschichte hinter der Gewalt. Dieser Film zeigt sie.

Endkampf: THE STATEMENT. Ein akzeptabler Thriller mit politischem Einschlag aber wirklich beeindruckend ist Michael Caine als alter Naziverbrecher und Tilda Swinton kann man auch nicht oft genug im Kino sehen.

Klassenkampf: L'ESQUIVE. Manche Ereignisse verändern und verstellen unsere Sicht auf gewisse Dinge für immer. Wer den (keineswegs nur kaputten) Alltag in den französischen Banlieues kennen lernen will, bevor die Gewalt und vor allem eine Flut von Erklärungsversuchen über sie hereinbrachen, dem sei dieser Film empfohlen.

Nahkampf: HAUTNAH. 2 Männer, 2 Frauen in wechselnder Konstellation für-, mit- und gegeneinander. Sehr geistreich, sehr elegant und vor allem sehr gut gespielt.

Machtkampf: MY SUMMER OF LOVE. Bei Teenagern sind die Gefühle immer eine Nummer größer. Die Liebe total, der Weltschmerz endgültig, die Enttäuschung ultimativ. In der Wirklichkeit nervt das manchmal, im Film dagegen kann sehr Schönes daraus entstehen.

Einzelkämpfer: MATCH POINT. Ein Film von kaum zu übertreffendem Zynismus, der nur deshalb keinen Sturm der Entrüstung auslöst, weil alle glauben, dass Woody Allen wieder Witze macht. Tut er aber nicht.

Kampftrinken: FACTOTUM. Charles Bukowski war einer der wenigen glaubhaften Säufer, dies ist einer der wenigen glaubhaften Filme über Bukowski.

Liebe und Tod auf Um- und Abwegen

Beliebtes Missverständnis Nr. 1: Unterhaltung hat keinen Anspruch.
Beliebtes Missverständnis Nr. 2: Bei echter Filmkunst gibt es nichts zu lachen.
Die entsprechenden Gegenbeweise:

Auf die Suche nach Liebe und einer besseren Vergangenheit bzw. Zukunft machten sich auf ganz großartige Art und Weise BROKEN FLOWERS und GARDEN STATE sowie einen Tick weniger brillant SIDEWAYS und WO DIE LIEBE HINFÄLLT.

In sehr ungewohnte Regionen bei der Suche nach der Liebe begaben sich MATHILDE - EINE GROSSE LIEBE (Liebe im Krieg), PER ANHALTER DURCH DIE GALAXIE (Liebe im All), DIE TIEFSEETAUCHER (Liebe unter dem Meer) und Tim Burtons CORPSE BRIDE (Liebe bei den Toten).

Noch mal Tim Burton, nun aber über die Liebe zu Süßigkeiten in CHARLIE UND DIE SCHOKOLADENFABRIK. Die Liebe zu Gemüse und vor allem zu Käse erlebte man wiederum in WALLACE & GROMIT - THE CURSE OF THE WERE-RABBIT.

Die bedingungslose Liebe einer Frau und seine eigene Selbstverliebtheit werden einem Mann in CRIME FERPECTO zum Verhängnis, die Unfähigkeit zu echter Liebe bestimmt THE LIFE AND DEATH OF PETER SELLERS, während die Liebe zum Showbusiness in BEYOND THE SEA stärker ist als der Tod.

Eine Hassliebe verbindet ZWEI UNGLEICHE SCHWESTERN und eine äußerst bizarre kulinarische Vorliebe, die aus dem Wunsch nach ewiger Jugend entsteht, lernen wir in DUMPLINGS kennen.

Und dann sind da noch die Filme, die in vielerlei Hinsicht klar über dem Kinodurchschnitt liegen aber wegen enttäuschten Erwartungen oder verschenkten Möglichkeiten vielleicht härter abgeurteilt wurden, als sie es verdient haben. Somit sehenswert aber nicht komplett gelungen fand ich:
KISS KISS, BANG BANG, weil er sein ironisches Potential durch kindische Übertreibung selbst untergräbt. A HISTORY OF VIOLENCE, weil Cronenbergs Mischung aus klassischem Gangsterfilm, verstörendem Familienpsychogramm, Gesellschaftskritik bzw. -satire und harter Rachegeschichte keine wirkliche Einheit ergibt. MILLIONS, weil der Film zu brav und unverbindlich bleibt. BATMAN BEGINS, weil sich Christopher Nolan aufmacht, Batman seine Düsternis zurückzugeben und dann mit einer alles erklärenden Geschwätzigkeit vieles wieder einbüsst.
Und natürlich SIN CITY, über den auf diesen Seiten ja bereits sehr ausführlich diskutiert wurde.

Das Gegenstück zu diesen Filmen sind die in erster Linie unterhaltsamen SAHARA und HOCHZEITS-CRASHER, die mich bei geringer Erwartungshaltung positiv überraschten und mir deshalb im Gedächtnis geblieben sind.

Jetzt mit noch mehr Realität!

Einen nicht unerheblichen Anteil an der hohen Zahl der Kinostarts 2005 hatten Dokumentarfilme, die im Vergleich zu früheren Jahren geradezu inflationär auftraten. Worauf diese erfreuliche Entwicklung zurückzuführen ist, lässt sich schwer sagen, hat aber sicher etwas mit dem zunehmenden Interesse der Zuschauer an Dokus zu tun. Höhere Besucherzahlen in Verbindung mit verhältnismäßig geringen Produktionskosten machen die Dokus dann auch für Verleiher und Produzenten attraktiv und viele Filmemacher haben begriffen, dass der Einstieg ins große Filmgeschäft auch über eine gelungene Dokumentation möglich ist, sich eine solche aber im Gegensatz zu einem Spielfilm viel einfacher realisieren lässt.

Neuer - aber auch leicht zu verschmerzender - negativer Nebeneffekt dieses Booms ist der Umstand, dass zunehmend auch belanglose oder gar schlechte Dokus in die Kinos gelangen. Während früher nur ausgewählte und oft preisgekrönte Filme ausgewertet wurden, werfen die Verleiher heute offensichtlich auf gut Glück vieles ins Kino, was im Fernsehen besser aufgehoben wäre (und ursprünglich oft auch dafür produziert wurde).

Vielleicht als unbewusste Gegenreaktion auf die große Zahl von sehr schlichten, wackeligen, ungekünstelt abgefilmten Realitäten, zeichneten sich meine Doku-Favoriten neben inhaltlichen Qualitäten durch eine "schöne" Gestaltung aus. Es waren dies THE NOMI SONG, CROSSING THE BRIDGE (wobei ich auf Alexander Hackes Kommentare im Ton von Janosch' kleinem Bären hätte verzichten können), RIZE, FROZEN ANGELS und RIDING GIANTS.

Angesichts dieser sehenswerten Filme (von denen, die ich nicht gesehen habe, ganz zu schweigen), die alle in Münchner Kinos außerhalb von Festivals zu sehen waren, kann man beim besten Willen nicht davon sprechen, dass das Kino (im Gegensatz zu den Kinos) in einer Krise steckt.
Darum wage ich sogar die Vorhersage, dass auch das Filmjahr 2006 wieder viele schöne, spannende, bewegende, lustige und dramatische Momente bereithalten wird. Man muss dazu nur mit offenen Augen durch das Leben und in die Kinos gehen.


Michael Haberlander

 

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