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jahresrückblick 2005 28.12.2005
 
   
 

Der artechock-Jahresrückblick
Eine kaleidoskopische Zeitreise

 

 

     
 
 

Momente, die bleiben & Enttäuschungen, die vergehen - von Dunja Bialas
2 x 5: Die besten fünf Momente - und die schlimmsten - von Rüdiger Suchsland
Lob und Beschimpfungen - von Willibald Spatz
Enttäuschungen und Magie - von Michael Haberlander

 
 
 
 
 

MOMENTE, DIE BLEIBEN

Boy meets girl. Schon lange war dies nicht mehr so schön zu sehen wie in L'ESQUIVE, dem Banlieue-Spektakel von Abdellatif Kechiche. Lydia (Sarah Forestier) ist besessen vom Theater. Krimo (Sman Elkharraz) will nur Lydia. Um an sie heranzukommen, tauscht er heiße Ware gegen ein Harlekin-Kostüm. Wenn Lydia spricht, dann sieht Krimo zu. Für seinen Blick geht die Kamera ins Close-Up, nimmt die Lippen von Lydia in den Fokus, streift über ihre Haut. Und zeigt dem Theater die wahre Meisterschaft des Kinos: Anhalten, Verdichten, Stille, emotions.

Girl meets girl. Ein Mädchen liegt in einer Sommerwiese. Das allein ist schon schön genug. Dann kommt noch ein zweites Mädchen dazu, die ihr zeigt, was der Sommer sonst noch so schönes zu bieten hat. MY SOMMER OF LOVE von Pawel Pawlikowski ist die Geschichte von zwei Mädchen (Natalie Press und Emily Blunt), die sich nichts mehr gefallen lassen. Ein Film, in dem die Bilder unter Sonne, Jugend und Erotik zu flirren beginnen. Wild und gefährlich.

Gelbe Telefonzellen. Telefonzellen sind seit Hitchcock das Filmsujet überhaupt. Rainer Knepperges und Christian Mrasek schaffen in DIE QUEREINSTEIGERINNEN, sie zu heimlichen Helden zu machen. Ein Telekom-Manager wird entführt, soll erklären, wessen Lieblingsfarbe eigentlich Magenta war und sich für die Wiedereinsetzung der gelben Zellen einsetzen. Wird von seinen Entführern in Diskussionen über die Utopie von Urugay verwickelt, darf mit ihnen tanzen und sich betrinken, sich am Ende sogar verlieben. Dies alles gedreht von den Machern des Kölner Filmclubs 813 mit Gespür für Zwischentöne, Meisterschaft in Dialogen und Freude an der Anarchie. Der lustvollste deutsche Film des Jahres, an den man immer wieder denken kann. Jedesmal, wenn man eine gelbe Telefonzelle entdeckt.


ENTTÄUSCHUNGEN, DIE VERGEHEN

"Lass deine Tochter nie mehr allein!" lautete jüngst die Schlagzeile einer Münchener Boulevardzeitung, die bei der entführten und wieder freigekommen Susanne Osthoff wohl schlechtes Gewissen erzeugen sollte. Dazu, schlechtes Gewissen bei Müttern hervorzurufen, die ihre Kinder allein lassen, um eigene Wege zu beschreiten, nimmt sich NOBODY KNOWS von Hirokazu Kore-eda immerhin volle Filmlänge Zeit. Am Anfang ist es ja noch ganz entzückend, wie die Kinder aus dem Koffer kriechen, in den sie die Rabenmutter gesteckt hat, und sich vor der Nachbarschaft verstecken. Auch ist es ganz toll, wie sie, als die Mutter sie verlässt, das Leben allein meistern. Aber dass ausgerechnet das ganze Überlebenssystem zusammenbricht, als die Kinder Freunde zu sich einladen, und dann - natürlich - noch das süßeste, kleinste, unschuldigste Mädchen sterben muss, und die Nachbarschaft nichts, aber auch gar nichts mitkriegt, das war dann doch zu viel gewollt.

"Das Leben ist ein Wunder!" sagt der Balkanbauer, als das Küken aus dem Ei schlüpft. Kusturica hat sich im gleichnamigen Film mal wieder der Brachialität seiner Landsleute gewidmet, gesteigert in wundersame, poetische Fantasie. Ethnokitsch, Balkanverniedlichung, dreiste Männer und feiste Frauen tanzen gemeinsam den Milosevic, kriegen und bekriegen sich, bis die Liebe dann doch die Gemüter zart und empfänglich macht. Da tut einem nur der Esel leid, der auf dem Gleis steht und nicht mehr weitergeht, wartet bis ein Zug kommt und ihn überfährt, weil er Liebeskummer hat. Den möchte man gerne mitnehmen, in einen anderen Film.

Dunja Bialas

 
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2 x 5: DIE BESTEN FÜNF MOMENTE 2005 - UND DIE SCHLIMMSTEN

Kino - das sind Bilder; ziemlich viele sogar, 24 in der Sekunde. 2x5 Eindrücke, die haften bleiben werden, seien hier aufgelistet.

Dumplings - Die besten 5 Momente
1. Dumplings I.: Eine pro-Allende-Demonstration in Chile im Film MACHUCA. Drei Kinder gucken zu. Irgendwann hüpfen die Demonstranten im Rhythmus. Die Kinder hüpfen mit. Das reine Glück.
2. Dumplings II.: Miriam Yeung fährt in DUMPLINGS nach Hause, hält ihr Gesicht aus dem Fenster und lässt die Haare im Fahrtwind wehen. Schönheit pur.
3. Dumplings III.: Walter Kreye singt Karaoke in KATZE IM SACK. So sterben.
4. Dumplings IV.: Robert Downey Jr. in KISS KISS BANG BANG. Nicht ein Moment, sondern der ganze Film.
5. Dumplings V.: ZWEI ODER DREI DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS. Eine Schwester, die nicht wahrhaben will, dass ihr Vater ein Nazi und Mörder war, redet sich immer wieder gegenüber ihrem Bruder raus. Irgendwann kann man, will man nicht mehr hinhören, wenn diese Frau alle Untugenden des deutschen Bürgertums - Arroganz - in sich vereinigt und so dessen Tugenden - Wahrheitsliebe - verrät. Schön, weil es so schlimm ist.

Broken Flowers - Die schlimmsten 5 Momente
1. Broken Flowers I.: Bill Murray hat den Status erreicht, dass die Leute schon lachen, wenn er gar nichts macht. Als Provinz-Don Juan in Jarmuschs BROKEN FLOWERS soll er lustig sein, ist nur ätzend. Zudem ein Fall von Verschwendung von Schauspielerinnen. Der überschätzteste Film des Jahres.
2. Broken Flowers II.: Bill Murray in DIE TIEFSEETAUCHER soll lustig sein, ist eine Knallchargennummer für Nerds, Erbsenzähler und Plastik-U-Boot-Bastler. Der nervigste Film des Jahres.
3. Broken Flowers III.: SIDEWAYS: Kein Wein, sondern Asbach Uralt. Der ärgerlichste Film des Jahres.
4. Broken Flowers IV.: SPANGLISH. Der schlechteste Film des Jahres.
5. Broken Flowers V.: DIE WEISSE MASSAI. Der dümmste Film des Jahres.

Rüdiger Suchsland

 
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LOB UND BESCHIMPFUNGEN

Auch 2005 war ein Jahr der Bebilderung. Man glaubt schon nicht mehr an die Existenz von Personen oder Ereignissen, wenn sie nicht in einem Kinofilm noch mal fiktional vor Augen geführt werden. Der Gewinner war Gus Van Sant mit den LAST DAYS von Kurt Cobain, in dem Amerika seine groß gewordene innere Leere besummt.

Überhaupt Amerika. Lars von Trier wird nicht müde draufzuschauen, sein MANDERLAY beweist aber, das wir mittlerweile mit denen da drüben nichts mehr zu tun haben. Wir wollen nicht mehr dasselbe wie die, wir sind politisch und sexuell anders denkend. Wenn die Filme machen über ein Problem, das sie umtreibt, wie L. A. CRASH einer über den Rassismus war, dann wirkt das Thema darin seltsam unreif und oberflächlich abgearbeitet. Kino, das intellektuell gar keinen Zugang mehr findet in unsere Köpfe und uns so kalt zurücklässt im Kinosessel.

Besser war's, wenn die Blicke von Fremden auf Amerika als ein fremdes Land fielen, in dem die versuchen zu leben und Filme zu drehen. Wim Wenders' DON'T COME KNOCKING und auch Ang Lees BROKEBACK MOUNTAIN handeln von nichts anderem als der Suche nach der Liebe, die in dieser Weite schwerer zu finden ist als ein Klumpen Gold - und plötzlich ist Amerika wieder die Kulisse, in der sich Träume verbergen. Auch Walter Salles kam von außen und lieferte mit DARK WATER einen der zwei schönsten Horrorfilme dieses Jahres ab. Das Grauen braucht nichts Übernatürliches, sondern steckt in der Großstadt als Gebilde. Wie auch im anderen Horrorjuwel THE DESCENT von Neil Marshall ging es um das Kämpfen und Scheitern großer Frauen, was bemerkenswert ist, denn entweder sind die Männer inzwischen zu schwach und korrumpiert für die Herausforderungen des Bösen oder man hat immer noch mehr Mitleid mit den weiblichen Helden.

Dafür hat ein anderer Film, den man gar nicht genug schimpfen konnte heuer, DER KÖNIG VON NARNIA, mit Tilda Swinton die tollste Bösefrau überhaupt. Wie gern hätte man den debilen Löwen mit seinen bescheuerten Kindsoldaten ihr unterliegen sehen.

In Deutschland gab es mit NETTO, dem Spielfilmdebüt von Robert Thalheim, und WILLENBROCK von Andreas Dresen zwei glänzend traurige Ostfilme. Und wenn das der wahre Grund der Wiedervereinigung war, solche Filme möglich zu machen, dann hätte sie sich schon gelohnt.

Willibald Spatz

 
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ENTTÄUSCHUNGEN...

Wenn in einer Filmbeschreibung Begriffe wie abgründiger Humor, Zugfahrt, Nachkriegsdeutschland und Schwarzweißfilm vorkommen, dann weckt das in mir sofort die positivsten Assoziationen. Der so umschriebene VERSCHWÖRUNG IM BERLIN EXPRESS war aber leider nur ein belangloses Kasperltheater und somit eine herbe Enttäuschung. Zum Glück wurde dieses Jahr auch Lars von Triers EUROPA erneut aufgeführt und schon war die Welt wieder in Ordnung.

Von vielen Kritikern geliebt und mit Preisen dekoriert, war DARWINS ALPTRAUM für mich weniger eine Enttäuschung als ein Ärgernis. Der Dokumentarfilm über die Verbindung von Fischfang, Waffenhandel und Armut am Victoriasee erschien mir wie eine außer Kontrolle geratene Kampagne von Greenpeace. Mag sein, dass sozial gesehen manchmal der Zweck die Mittel heiligt (um eben auf einen Missstand aufmerksam zu machen) aber künstlerisch / filmisch ist so ein Vorgehen mehr als bedenklich. Obwohl mindestens genau so populistisch und parteiisch wie Michael Moore, gibt sich DARWINS ALPTRAUM doch als sachlicher und unbeteiligter Beobachter aus und gerät dadurch zu sehr in die Nähe von schlichter Propaganda.

Trotz gebremster Erwartungshaltung (da Fortsetzungen immer ein schwieriges Terrain sind) hat es BE COOL geschafft, mich zu enttäuschen. GET SHORTY war ein durch und durch intelligenter und gut gemachter Komödienspaß. BE COOL dagegen ist eine flache Aneinanderreihung von Klischees, Versatzstücken und Skurrilitäten. Da helfen auch unzählige Stars in großen und kleinen Rollen nichts.

Die schmerzhafteste Enttäuschung im letzten Jahr bot SIN CITY, da er das Potential für ein wahres Meisterwerk gehabt hätte und es dann nicht einlösen konnte (der Kollege Willmann hat an dieser Stelle ausführlich und sehr treffend geschildert woran es scheitert).
Irgendwie lässt mich dabei der Gedanke nicht los, dass einem asiatischen Regisseur unter den gleichen Bedingungen dieses Kunststück bzw. -werk gelungen wäre. Spontan denke ich da etwa an Chan-wook Park (OLDBOY) oder gar Takashi Miike (AUDITION).


...UND MAGIE

Schon erstaunlich, welch unglaublicher Aufwand beim Film oft betrieben wird, um eine packende Szene zu inszenieren. Dabei können schon wenige Blicke die Leinwand zum Leuchten bringen.

So etwa in HAUS AUS SAND UND NEBEL, worin sich Jennifer Connelly und Ben Kingsley um ein Haus streiten. Wenn sich beide gegenüber stehen und sich anschauen, wird einem ohne große Worte ihre jeweilige Notlage und die Tragik der Gesamtsituation bewusst. Als ein amerikanischer Polizist in den Streit eingreift, um für "Recht und Ordnung" zu sorgen, endet alles (wie könnte es anders sein) in einer blutigen Katastrophe.

Äußerst komplex und wechselhaft sind die Machtverhältnisse in MANDERLAY und so kommt es dann, dass der von Danny Glover gespielte Sklave Wilhelm erst zum Ende hin seinen stoisch servilen Gesichtsausdruck ablegt und mit einer ganz besonderen Mischung aus Zynismus, Intelligenz und Autorität der glücklosen Freiheitskämpferin Grace ins Gesicht schaut, um sie von ihrer Funktion als neuer Herrin über Manderlay in Kenntnis zu setzen. Der Blick von Grace (Bryce Dallas Howard) lässt wenig Zweifel darüber, wie entsetzt sie über diese Entscheidung und deren Bedeutung ist.

Einmal mehr auf der Höhe seines Könnens erlebte man Michael Caine in THE STATEMENT als alter Kriegsverbrecher auf der Flucht. Mühelos wechselt er zwischen bigottem Frömmler, jammernden Feigling und gewissenlosen Mörder. Besonders großartig die Szene, in der er auf seine von Charlotte Rampling gespielte Ex-Frau trifft und diese mit wenigen Worten und brutalen Blicken einschüchtert. Ramplings wissender und verstehender Blick macht dem Zuschauer klar, wie ernsthaft und gefährlich diese Drohung ist.

Um die schöne neue Welt der Reproduktionsmedizin am Beispiel von Los Angeles geht es in dem visuell beeindruckenden Dokumentarfilm FROZEN ANGELS. Kinder kriegen ist da ein Geschäft wie fast jedes andere, entsprechend professionell geben sich Leihmütter, Ei-Spenderinnen, Samenbankbetreiber und Schwangerschaftsvermittler. Geschickt lässt einen der Film hinter diese vermeintlich (emotionell, ethisch, technisch) problemlose Praxis blicken, so z.B. nach einer Entbindung, die Leihmutter im Bett, unsicher daneben ihr Mann, das Kind separat, dazwischen die zukünftigen Eltern. Freundliche Worte werden gewechselt, doch aus den Blicken spricht etwas ganz anderes, etwa Unsicherheit, Angst, Scham und Misstrauen.

Dass Blicke manchmal wirklich mehr sagen als Worte, beweisen ausgerechnet zwei stumme Plastilinhunde. In WALLACE & GROMIT - THE CURSE OF THE WERE-RABBIT liefert sich der stets ruhig intelligente Gromit einen regelrechten "Dogfight" mit Philip, dem bösartigen Hund von Wallace' großem Widersacher Victor Quatermaine. Als dieser Kampf durch das Fehlen einer Münze im benutzten Karussellflugzeug unterbrochen wird, zückt Philip zur Fortsetzung seine mehr als peinliche Geldtasche. Gromits Augen sprechen Bände, Philips ebenso, der Rest ist Lachen.

Michael Haberlander

 
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