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Cannes 2005 14.05.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 1. Folge
Dostojewski in London, die Wahrheit und andere Kleinigkeiten
WHERE THE TRUTH LIES
WHERE THE TRUTH LIES
 
 
 
 

Die Show ist verlogen. Man sieht es den Gesichtern von Lanny und Vince an, Sekunden bevor sie auf die Bühne treten, und ihr routiniertes Lächeln aufsetzen: Sie sind am Ende. Aber noch einmal muss ihr Auftritt beginnen, bevor das Komiker-Duo sich trennen wird.

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So beginnt der neue Film von Atom Egoyan im Wettbewerb von Cannes. Zum ersten Mal hat Egoyan einen Kostümfilm gedreht, doch auch die Zeitreise in die Goldene Zeit der TV -Unterhaltung zwischen den späten 50er und den frühen 70er-Jahren ändert nichts daran, dass WHERE THE TRUTH LIES ein typischer Egoyan-Film geworden ist, in seinen verschiedenen Erzählebenen und Zeitsprüngen so verschachtelt und hinreißend unübersichtlich wie die Herkunft des von ägyptischen Armeniern abstammenden Kanadiers. Identität, die Frage, was die Wahrheit eines Lebens ausmacht, ist sein großes Thema. Diesmal geht es um das Geheimnis hinter der Karriere und der überraschenden Trennung des Erfolgsduos. Einst fand man die nackte Leiche einer jungen Frau im Bad ihrer Hotelsuite . Nichts schienen sie damit zu tun zu haben, doch die junge Journalistin Karen kommt der Wahrheit auf die Spur. Es ist eine Detektivgeschichte zwischen Sein und Schein, mit viel nostalgischem Touch - und hervorragend gespielt: Kevin Bacon und Colin Firth sind das Komikerduo , die Überraschung aber ist die 25jährige Alison Lohman, die mit diesem Auftritt ihren Ruf als einer der zukünftigen großen Stars am Filmhimmel untermauert. Vielleicht reicht es am Ende gar für einen Schauspielpreis.
Chancen auf die Goldene Palme dürfte Atom Egoyan (EXOTIKA, THE SWEET HEREAFTER), durchaus ein Liebling der Kritiker und der französischen Filmszene diesmal aber nicht haben - so schön und spannend anzuschauen WHERE THE TRUTH LIES ist - ihm fehlt doch der letzte Biss, der einen Sieger ausmacht.

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"Sie ist eine, die den Blick aushält und lange zurückguckt." sagt der Frauenkenner Josef Schnelle über Lohman - und hat natürlich mal wieder recht.

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Genug Biss hat LAST DAYS von Gus van Sant, der hier vor zwei Jahren mit ELEPHANT triumphierte. Wieder portraitiert der Amerikaner eine Gruppe von Jugendlichen. Im Mittelpunkt steht Blake ein Rockmusiker. Man sieht dem ständig bedröhnten, fortwährend zumeist unverständliche Sätze vor sich hin Murmelnden einige Tage bei seinem Leben zu - schnell ist klar, dass dieser Mensch offenbar gerade eine schwere psychische Krise durchlebt. Aber erst allmählich erschließt sich in Fragmenten, worum es sich handeln könnte.
Ganz offen spielt Van Sant mit seiner Geschichte auf das Schicksal des "Nirvana"-Sängers Kurt Cobain an, der sich vor 11 Jahren selbst erschoß - und so ahnt man schon früh, wie das Ganze enden muss. Weitaus unklarer, als bei dem engagiert -bewegenden ELEPHANT ist freilich bis zum Schluß, was der Film eigentlich erzählen will. Was LAST DAYS trotzdem zu einer aufregenden Erfahrung macht, ist seine Bildsprache: Immer wieder kommt es zu meditativen Einstellungen, zu Momenten hoher Konzentration, und jederzeit hat Van Sant eine eigene, unverwechselbare Bildsprache. Hier versucht ein Regisseur etwas Neues, und das ist spannend.

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Etwas konturlos wirkt dieser Wettbewerb zu Beginn, der von der Papierform her enorm stark ist:
Allein fünf ehemalige Sieger sind mit ihren neuen Filmen zu sehen. Zugleich ist der Anfangseindruck: Es sind zwar tolle Namen, aber die Filme sind nicht ihre besten. Bisher gab es noch keinen Film, der einen wirklich überrascht. Oder einfach umhaut. Aber die Erfahrung sagt: Irgendetwas nimmt man amEnde immer aus Cannes mit, das einen das ganze Jahr über begleitet. Also abwarten.

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Mit MATCH POINT lief Woody Allens neuer Film außer Konkurrenz. Wie immer bei Allen ist alles wunderbar anzuschauen, und wie immer gibt es gute Darsteller und herrliche Witze - genug Gründe für einen unterhaltsamen Kinobesuch. Zugleich ist dies - und dies meinen wir als Lob - kein "woody-Allen-Film", sondern einfach ein Film. Mit einem Thema, einer Geschichte, Bezug zu unserer Gegenwart: Paul ist ein Aufsteiger in London . Dummerweise ist die Ehe, die ihn auf der sozialen Leiter im Eiltempo nach oben befördert hat, unglücklich. Noch dümmer ist, dass er mit der Freundin seines besten Freundes, dem Bruder seiner Frau, fremdgeht, und am allerdümmsten ist, dass diese Nora (gespielt von Scarlett Johannsson) schwanger wird. Damit ist die Ausgangssituation für ein Drama gelegt, das eine bei Allen überraschende bittere Note bekommt. Dass Paul Dostojewskis " Schuld und Sühne" liest, ist schon früh Zeichen genug. Denn MATCH POINT erinnert an den pessimistischen Allen von VERBRECHEN UND ANDERE KLEINIGKEITEN, ist aber leider nicht ganz so boshaft. Auch die Inszenierung ist weit weniger aufregend - trotzdem ist Allen bei aller Routine immer noch einer der witzigsten Gegenwartsregisseure.

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Nach schleppendem Auftakt kommt der Wettbewerb zum Pfingstwochenende nun in Fahrt. Da laufen die Filme von Haneke und Cronenberg, heimliche Favoriten wie BATALLA EN EL CIELO vom Mexikaner Carlos Reygadas und außer Konkurrenz die letzte STAR WARS-Folge. In Cannes liegt auch in diesem Jahr wieder für alle das Mekka des Kinos.

Rüdiger Suchsland

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