|  | AMERIKANISCHE GEWALT UND FRANZÖSISCHE LEICHIGKEITEin subjektiver Durchmarsch durch die Reihen der 55. 
                    Berlinale 2005
 Das Wochenende gehört den Ausstellungen. Während 
                    die Berlinale sich daran erfreut, in übervolle Säle 
                    hinein zu drängen, ein dreitagebärtiger Keanu Reeves 
                    seine lieben Fans fast unbeachtet vor dem Berlinale Palast 
                    im Wintereinbruch stehen lässt, besucht man lieber den 
                    nahen Martin-Gropius-Bau. In der umfassenden Kubrick-Ausstellung 
                    erfährt man etwa, dass sein erster großer Hollywoodfilm 
                    "Wege zum Ruhm" 1957 in München gedreht wurde. 
                    Im Schloss Schleißheim und in den Bavaria Filmstudios. 
                    Das Schlachtfeld im Frankreich des ersten Weltkrieges wurde 
                    gar in den Westen nach Puchheim verlegt, nahe der Heimat des 
                    Autors. Das waren noch Zeiten, als die heimischen Äcker 
                    für Kirk Douglas umgegraben wurden...  Auch nebenan im Gropius-Bau herrscht Krieg. Dort zeigt die 
                    Retrospektive von Robert Capa wie man Tod und Zerstörung 
                    in einzelne Bilder packt, deren Statik aber von der Wucht 
                    der Motive permanent zum Einsturz gebracht wird. Capa wagte 
                    sich immer wieder in das gefährlichste Zentrum des Krieges, 
                    um mit seiner Kamera die sichtbaren und unsichtbaren Grausamkeiten 
                    zu dokumentieren. So war er etwa als einziger Fotograf bei 
                    der erste Welle bei der Landung an der Normandie dabei, schoss 
                    die wohl über hundert wichtigsten Bilder seines Lebens. 
                    Dass dann ein Laborarbeiter nicht ganz bei der Sache war, 
                    und bis auf 11 Bilder, die Filme bis zur Unbrauchbarkeit falsch 
                    belichtete, gehört zu den großen Schicksalen der 
                    Fotografie. Vielleicht das große Fatal für die Cinematographie 
                    stellte Michael Ciminos HEAVENS GATE dar, der am Montag die 
                    eigene Filmwoche eröffnet. 1980 für 44 Millionen 
                    Dollar statt der geplanten 7,5 Millionen gedreht, wurde er 
                    zum berühmtesten Flop der Filmgeschichte und kurz darauf 
                    auch für das Studio United Artists zum desaströsen 
                    Verhängnis. In Berlin ist der Film als Europapremiere 
                    in einer restaurierten 225-Minuten-Fassung zu sehen. Die Geschichte 
                    des Westerns geht über Amerika im Jahre 1892, wo eine 
                    Siedler-Gemeinde europäischer Immigranten von Kopfgeldjägern 
                    bedroht wird, weil auf einer Todesliste 125 Namen dieser Immigranten 
                    auftauchen. Von einer Liebe zum Detail zu sprechen, ist wäre 
                    pure Untertreibung. Cimino hatte gerade einen Regie-Oscar 
                    für THE DEER HUNTER erhalten, und ergötzt sich in 
                    HEAVENS GATE nun in aller Ruhe an den gar nicht so zahlreichen 
                    Szenen. Allein wenn der Siedler-Marshall Kris Kristofferson 
                    am Bahnhof des benachbarten Dorfes ankommt, sich besoffen 
                    aus der ersten Klasse quält, am Bahnsteig den bekannten 
                    Bahnwärter begrüßt, im Waffenladen ein paar 
                    üble Gesellen argwöhnisch beäugt, anschließend 
                    draußen zwei Amerikaner verprügelt, weil die sich 
                    an gerade angekommen Osteuropäern vergehen, dann liegt 
                    in diesen bestimmt zwanzig Minuten so viel Lust des filmischen 
                    Erzählens, wie man sie selten zu sehen bekommt. Dass 
                    nicht nur Kristofferson die französische Bordellbesitzerin 
                    Isabelle Huppert liebt, sondern auch der Kopfgeldjäger 
                    Christopher Walken, sorgt für emotionale Dramatik. Neben 
                    den furios ins endlose mäandernden Genreszenen beim Baden 
                    am Fluss oder beim Roller-Skating in der Gemeinde Halle, ist 
                    vor allem das Blutbad beim halbstündigen Kampf-Finale 
                    ungeheuerliche Filmkost. Beim Gespräch danach gibt Produzent 
                    Stephen Bach zu, einige Dialoge gerade zum ersten Mal gehört 
                    zu haben. Die Stimmen waren in der Originalfassung wohl oft 
                    nicht aus dem Hintergrundslärm heraus zu verstehen. Außerdem 
                    meint Bach, er habe damals Cimino deshalb ungestört sein 
                    Ding machen lassen, weil er nicht nur mit Woody Allens MANHATTEN, 
                    Scorseses RAGING BULL oder dem neuen Pink Panther mit Peter 
                    Sellers genug Blockbuster auf seinem Tisch gehabt hätte. 
                    Nur die sechsstündige Rohfassung von HEAVENS GATE, bei 
                    der allein das Gefecht am Ende zwei Stunden gedauert hätte, 
                    sei ihm damals doch zu viel gewesen. John Kirk, der den Film 
                    nun farblich und tontechnisch überarbeitet hat, berichtet 
                    enttäuscht von den USA, wo die neue Fassung Ende 2004 
                    gerade mal ein Woche in einem kleinen New Yorker Kino gezeigt 
                    wurde. Die New York Times wusste nichts besseres zu tun, als 
                    einfach ihre vernichtende Rezension aus dem Jahr 1980 noch 
                    einmal abzudrucken. Noch immer scheint Amerika nichts mit 
                    der gewalttätigen Zelebrierung seiner Historie anfangen 
                    zu können.
 Kubricks WEGE ZUM RUHM beendet den Tag der eigensinnigen amerikanischen 
                    Filmexperimente über Krieg und Gewalt. Hier will ein 
                    französischer General 1916 an der Westfront die Eroberung 
                    der uneinnehmbaren deutschen Stellungen erzwingen, richtet 
                    dann die Artillerie auf die eigene Truppe, und lässt 
                    später drei willkürlich ausgewählte Soldaten 
                    wegen Feigheit hinrichten. Kirk Douglas als Colonel und Anwalt 
                    der Soldaten kommt in einem irrwitzigen Prozess nicht gegen 
                    die Vorgesetzten an. Es geht um den von Sinnlosigkeit und 
                    persönlicher Vorteilnahme gekennzeichneten Krieg. Christiane 
                    Susanne Harlan hat am Ende als einzige Frau einen kurzen Gesangsauftritt. 
                    Schon Wochen zuvor war aber schon Stanley Kubrick ganz unverkleidet 
                    in einen Münchner Faschingsball geplatzt, um seine Christiane 
                    zu besuchen, die er aus dem Fernsehen kannte. All das erzählt 
                    die strahlende Christiane Kubrick auf der Bühne im CinemaxX. 
                    Damals wurde sie zur Frau des Regisseurs.
 Am Dienstag weiter mit der Retrospektive. Alain Resnais bringt 
                    den modernen Kinozuschauer mit seinem MURIEL OU LE TEMPS D'UN 
                    RETOUR (1962/63) völlig aus der Fassung. Die Familien- 
                    und Liebesgeschichte, die zentral in einem mit Antiquitäten 
                    voll gestopften Apartment spielt, reißt Resnais noch 
                    extremer als in LETZTES JAHR IN MARIENBAD mit stakatohaften 
                    Detailaufnahmen, Rückblenden oder Parallelmontagen auf. 
                    Das künstliche Filmgebilde, das dem Phänomen Zeit 
                    mit großer Symbolkraft und viel Subjektivität auf 
                    den Leib rückt, lässt einen erstaunt zurück. 
                    Dagegen gewinnt direkt im Anschluss daran natürlich Jacques 
                    Tatis MON ONCLE sofort jedes Herz. Eine Weltpremiere ist die 
                    wiederaufgefundene englische Fassung des Films, die Tati als 
                    eine Version für die Academy Awards drehen ließ, 
                    die anschließend aber verloren ging. Der in Komik und 
                    Groteske so liebenswert vorgetragene Kampf Monsieur Hulot 
                    gegen die Moderne - in Form des futuristischen Haus seiner 
                    Schwester und der Fabrik seines Schwagers - bekommt so eine 
                    ganz neue Wendung: die unterkühlte Moderne spricht englisch, 
                    natürlich britisch, das warmherzige Alte verständigt 
                    sich französisch. Auf großer Leinwand ist MON ONCLE 
                    aber vor allem eine von Tatischer Präzision angetriebene, 
                    begeisternd humorvolle Fabel über die Liebe zum Leben.Am Abend der dritte französische Film, und wieder eine 
                    Film für das Leben. CRUSTACÉS ET COQUILLAGES von 
                    Oliver Ducastel und Jacques Martineau läuft im Panorama, 
                    hätte aber auch dem allzu ernsthaften Wettbewerb gut 
                    getan. Eine berauschende Komödie über die Liebe 
                    zum gleichen und zum anderen Geschlecht. Über Vorurteile 
                    und deren Innerstes. In einem Ferienhaus. Über alle Generationen. 
                    Mit einer verführerischen Valeria Bruni-Tedeschi an der 
                    Spitze des lustvollen Treibens. Getanzt und Gesungen wird 
                    natürlich auch, aber im Gegensatz etwa zu 8 FRAUEN von 
                    Ozon, mit dem ja auch Bruni-Tedeschi zuletzt wieder großes 
                    Kopf-Kino drehte, kommt hier alles direkt aus dem Bauch. Oder 
                    von noch etwas weiter drunter.
 Mittwoch dann Asien. Ein ganz außerordentlicher Film 
                    ist "KAKUSHI KEN - ONI NO TSUME" von Yoji Yamada. 
                    Die Ära der Samurai ist zu Ende. Sie sollen in Reih und 
                    Glied für den Krieg marschieren. Wer meutert, wird eingesperrt. 
                    Munezo kann schon mit dem todbringenden Job des Samurai nicht 
                    mehr viel anfangen, der Militärdienst ist ihm ganz fern. 
                    Zuhause hat er die ehemalige Bedienstete Kie wieder angestellt, 
                    nachdem sie sich bei der Familie ihres Mannes fast zu Tode 
                    schuften musste. Heimlich liebt Munezo Kie, aber die Standesunterschiede 
                    verbieten die Heirat. Als sein ehemaliger Freund Yaichiro, 
                    der Hochverrat begangen hat, aus seinem Kerker flieht, soll 
                    Munezo, der als stärkster Kämpfer des Clan gilt, 
                    den flüchtigen Yaichiro im Zweikampf stellen. Yamada 
                    nimmt den speziellen Ausschnitt aus dem Ende der Samurai-Geschichte 
                    und filmt ihn in schönster Mizoguchi-Manier. Kein Dialog, 
                    der jemals in der bekannten Schnitt-Gegenschnitt-Folge mit 
                    jeweils der gleichen Einstellung der beiden Partner gedreht 
                    wäre. Die Kamera dreht sich stets in den Räumen 
                    - und auch außerhalb - um das Geschehen, fasst in immer 
                    neuen Perspektiven immer neue Interpretationen. Dabei entstehen 
                    zahlreiche herrlich poetische Bilder. Wenn die Frau von Yaichiro 
                    nacht bei Munezo um Yaichiros Leben bittet, dann folgen allein 
                    hier sieben verschiedene Einstellungen: vom Raum, von der 
                    verzweifelt ihren Körper anbietenden und dem souveränen 
                    Samurai, vom Gang dahinter; erst dann wiederholt sich eine 
                    Einstellung. Und wenn am Ende Munezo und Kei auf einem Hügel 
                    vor einem Wald sitzen, und er ihr seine schönen Pläne 
                    kaum zu erzählen traut, dann dreht sich die Kamera ganz 
                    langsam um beide herum - bis am Ende nur noch der weite Himmel 
                    hinter ihnen erstrahlt.  Ein Schweizer Autorenfilm mal zwischendurch. DIE VOGELPREDIGT 
                    ODER DAS SCHREIEN DER MÖNCHE von Clemens Klopfenstein 
                    ist ein Low-Budget-Experiment, bei dem zwei Schauspieler auf 
                    dem Weg nach Umbrien zu einem Produzenten, und anschließend 
                    auch dort, über skurrile Filmprojekte debattieren, sich 
                    Metro-Verkäuferinnen in Sex-und-Blut-Visionen herbei 
                    fantasieren, und zwischendurch Ursula Andress als Mutter Gottes 
                    sich über den heiligen Vater beklagt. Viel Spott über 
                    die Filmwirtschaft und die sinnfreie Handlung vieler Blockbuster 
                    sind beißend komisch: So ist etwa das wichtigste am 
                    Projekt der beiden Schauspieler, das eine Verfolgungsgeschichte 
                    durch den ganzen Afrikanischen Kontinent werden soll, der 
                    einwöchige Urlaub nach Drehschluss in Kapstadt. Schwarzhumorig 
                    sind auch die Kommentare von Klopfenstein im Gespräch 
                    danach. Beim letzten Film hätte Bruno Gans einen Gastauftritt 
                    gehabt, sei aber danach gar nicht darüber erfreut gewesen, 
                    auch scheinbar neben der Kamera gemachte Äußerungen 
                    im Film wieder gefunden zu haben. Als Antwort darauf lässt 
                    Klopfenstein im neuen Film einfach die Ganz Bruno braten.  Abends noch ein Experiment im Forum, wieder Asien, und wieder 
                    mit besonderem Augenmerk auf das filmische Auge. In 23 festen 
                    Einstellungen zeigt die 1981 geborene Chinesin Liu Jiayin 
                    mit NIU PI das Leben ihrer Familie. In winzigen, dunklen Räumen 
                    hockt Liu mit ihren beiden Eltern aufeinander, isst zusammen, 
                    streitet viel. Wie der Vater seine Taschen fertigt, sieht 
                    man, und wie er schimpft, dass er wohl nur ein Bruchteil davon 
                    verdient, wie der Mann, der in seiner Bude die gegrillten 
                    Spieße verkauft. Die 110 Minuten vergehen langsam, die 
                    Intimität mit den Menschen ist oft erschreckend nah. 
                    Nachher erklärt Jiayin, sie hätte mit ihren Eltern 
                    die Szenen genau durchgesprochen - davon ist in dem starken 
                    Film aber nichts zu spüren. Am Donnerstag läuft im Panorama OMIROS von Constantinos 
                    Giannaris. Die auf wahren Begebenheiten beruhende Entführungsgeschichte 
                    um einen Albaner, der in Griechenland einen Linienbus in seine 
                    Gewalt bringt, und nachdem ihm nicht alle Forderungen erfüllt 
                    werden damit nach Albanien flüchtet. Ein mit rauen Bildern 
                    ausgestatteter Film, der anfangs sehr gleichmäßig 
                    mit Rückblenden das für den Entführer so schmerzhafte 
                    Vorspiel in Griechenland bloßlegt und mit den Ängsten 
                    der Businsassen verschränkt. Harte Sounds forcieren die 
                    Dramatik, brechen aber bei jeder sehnsuchtsvollen Erinnerung 
                    für kurze Zeit ab. Gegen Ende gewinnt OMIROS an Eindringlichkeit, 
                    Gewalt schießt plötzlich hinein ins sichergeglaubte 
                    Geschehen. Insgesamt ein durchweg vibrierender Film mit einigen 
                    Ecken und Kanten.  Abschließend zur Retrospektive von Im Kwon-Taek. CHUKJE 
                    heißt sein Film von 1996, in dem sich eine Großfamilie 
                    zur Beerdigung der Oma einfindet und viele verdrängte 
                    Probleme zu Tage treten. CHUKJE ist ein herrliches Sittenbild 
                    der Koreanischen Gesellschaft. Sämtliche Riten der Beerdigung 
                    werden meditativ gezeigt. Dazwischen gibt es Konflikte und 
                    Prügeleien innerhalb der Familie, oder die Sargträger 
                    saufen und zocken um die Wette. Neben diesen Sozialstudien 
                    stellt Kwon-Taek demonstrativ die Poesie: in traumhaften Sequenzen 
                    wird die Geschichte der Großmutter aus Sicht der Enkelin 
                    in Kinderbuchmanier mit leuchtenden Farben und ohne echten 
                    Hintergrund erzählt. In seiner Komplexität steht 
                    CHUKJE gleichzeitig paradigmatisch für die Leichtigkeit 
                    des modernen asiatischen Kinos im Umgang mit Stilen, wie für 
                    das Vermögen Kwon-Taeks, mit seinem Erzählkino die 
                    unterschiedlichsten Schichten und Traditionen Koreas lebendig 
                    werden zu lassen.  Thomas Schöffner 
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