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Berlinale 2005 10.02.2005
 
 

Jäger, Sammler und viele Events

Man to Man
 
 
 
 

Im Urwald ist (k)ein Zimmer frei: Heute eröffnet die vierte Berlinale unter Dieter Kosslick

Sanft streicht die Kamera durch den Wald, lugt zwischen Baumstämmen hindurch, doch das Grün scheint undurchdringlich. Irgendeine Landschaft Europa vermutet man kurz, da setzen schon im Hintergrund wilde Schreie ein, die offenkundig von Affen stammen, und es wird deutlich, dass man sich irgendwo im Dschungel von Afrika befindet. Im Jahr 1870 durchstreifen weiße Menschenjäger den Urwald, und es dauert nur ein paar Filmsekunden, da haben sie die Beute gefunden, nach der sie solange gesucht haben: Zwei Pygmäen. Wie Tiere werden die zwergenhaften Ureinwohner des schwarzen Kontinents - "ein Männchen und ein Weibchen" notiert der Expeditionsleiter und Wissenschaftler Jamie Dodd - eingefangen, und in den hohen schottischen Norden verschleppt.
Dort wollen er und seine zwei Freunde, alle anerkannte Wissenschaftler der Royal Scottish Academy, die beiden vermessen und erforschen, mit ihnen allerlei Experimente machen, um sie dann einer staunenden Welt vorzustellen: "Du bist mein Amerika, und ich Dein Kolumbus" sagt Dodd zu seinem Gefangenen. Als Menschen sieht er ihn zunächst nicht. Denn Pygmäen sind damals noch völlig unbekannt, und die Briten glauben in ihnen den "missing link", das fehlende Verbindungsglied in der Entwicklungskette zwischen Affe und Mensch gefunden zu haben, nach der man im Zeitalter von Darwins revolutionärer Evolutionstheorie verzweifelt sucht.

MAN TO MAN, mit dem heute Abend die 55. Filmfestspiele von Berlin offiziell eröffnet werden, ist kein großes Kino. Manchmal wirkt alles, wie ein Fernsehdrama, manchmal überpädagogisiert, manchmal umgekehrt so, als ob die Macher ihrem Thema nicht vertrauen, und es darum übermäßig mit Dramatik anfüllen. Vielleicht kann man auch dem Spontankommentar eines Kollegen zustimmen, der fragte, warum er zwei Stunden im Kino sitzen müsse, um etwas zu erfahren, was er schon weiß?
Zugleich aber behandelt der Film ein überaus spannendes Thema: Das Doppelgesicht der Wissenschaft zwischen neugierigem Forschungsdrang und der Neigung, an einmal vorgefassten Ansichten festzuhalten, auch dann, wenn ihnen die Tatsachen immer offenkundiger widersprechen. Der Film des Franzosen Regis Wargnier, der vor 12 Jahren mit INDOCHINE bekannt wurde, ist packendes Unterhaltungskino fürs breite, aber nicht ungebildete Publikum. Gekonnt dramatisiert der Film sein Sujet, mitunter vielleicht etwas vorhersehbar, überdeutlich und mit zuviel Gefühlskitsch, doch gelingen Wargnier auch immer wieder eindringliche Momente und einige interessante Beobachtungen über die heroische Epoche der modernen Wissenschaft, in der diese noch mit Lebensgefahr betrieben wurde und doch zugleich von allen Schwächen des Viktorianischen Zeitalters durchtränkt war. So zeigt er Männer in der seinerzeit so beliebten "Nervenkrise" - mindestens eine Modekrankheit. Dass Wargnier nicht vorschnell eine "ausgewogene" Position bezieht, sondern seine Geschichte aus Sicht der Weißen, also seines Publikums erzählt, macht MAN TO MAN zusätzlich interessant - eine zumindest angemessene Wahl zur Eröffnung eines der drei wichtigsten Filmfestivals der Welt. Zudem macht der edle Wilde am Schluß auch nicht alles richtig, und ist doch nicht ganz so grundgut, sondern übt alttestamentarische Rache. Erst die letzte Szene bringt die Welt wieder ganz in Ordnung, zieht die Grenzen dicht und wir alle verstehen, "dass unsere gemeinsame Reise nun beendet ist." Schuster bleib' bei Deinen Leisten. Trotzdem: Kein Vergleich zur vorjährigen Peinlichkeit mit COLD MOUNTAIN.

Zudem wird damit der sogenannte "Afrika-Schwerpunkt" eingeläutet, der hier zwar niemanden wirklich interessiert, und auch mit Filmkunst herzlich wenig zu tun hat, sondern allenfalls mit den persönlichen Interessen und der political correctness des Festivalleiters. Aber auch damit ist es so weit offenbar nicht her, denn schaut man genauer hin, stammen die meisten Afrika-Filme gar nicht aus Afrika. Zudem findet man in der Jury dann, fünf von sieben Mitgliedern aus Europa, oder sogar sechs, wenn man die Ukraine dazurechnen will, nur eine aus Asien, keiner aus Lateinamerika, USA, oder Afrika - auch ohne den sogenannten Schwerpunkt ein Skandal für ein solches Festival, das dieser Festivalchef ohne Not provinzialisiert - jedenfalls in dieser Hinsicht.

Eine treffende Wahl ist MAN TO MAN auch deshalb, weil der Film im Prinzip genau von dem erzählt, was ein Filmfestival eigentlich tut. Es praktiziert verschiedenste Arten der Kulturbegegnung, es jagt und sammelt, schwindelt und übertreibt, lechzt nach kostbaren Trophäen und Weltsensationen, die es dann in einer Art Zirkus ausstellt, und manchmal verbrämen die schönsten Festreden nur, dass es eigentlich vor allem um Macht und ums Geschäft geht. Davon, das ist keine Frage, versteht Zirkusdirektor Dieter Kosslick, der die Berlinale nun im vierten Jahr leitet, und als einer der glänzendsten Verkäufer der Branche gilt, eine ganze Menge.
Künstlerisch gesehen ist die Euphorie nach dem Reinfall vom Vorjahr - dem schwächsten Wettbewerb seit über zehn Jahren - zwar auch diesmal eher gedämpft. Vor allem sehr europa-lastig wirkt das Programm, während die aufregendsten Filmregionen Asien und vor allem Lateinamerika, eher schwach vertreten sind, die USA als immer noch wichtigste Filmregion noch schwächer. Auch wurde das Programm weiter geschrumpft, inzwischen gibt es schon 20 Prozent weniger Filme als unter Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln. Dafür nehmen die "Events" inflationär zu - und mittlerweile schon vier Seiten im Programmheft ein. Von Starauftritten und Partys einmal abgesehen gibt es Kunst, Videokunst, Performances, Fußball und André Heller sowie unzählige Quasselrunden mit allen verfügbaren Kulturinstitutionen des Bundes sowie Dutzenden weiteren Kooperationspartnern und Sponsoren. Da ähnelt die Berlinale eher einem Jahrmarkt, als einem Filmfestival - wenn immerhin die Filme gut sind, aber nur dann, muss das nicht allzu sehr stören.

Jedes Festival habe seine Erzählung sagt Christian Petzold in unserem Interview, das an einem der nächsten Tage zu lesen sein wird. "Eine Preisvergabe versucht, einem Festival immer rückwirkend eine Erzählung zu geben. Die Kritiker haben eine andere Erzählung. Die Jury ist ja nicht blind, sondern sie sieht etwas. Im besten Fall ist das dann so, wie mit Cronenberg als Jurypräsident in Cannes, der dann ROSETTA den Preis gibt. Und im schlimmsten Fall sieht man, dass da eine Handvoll Leute kein Interesse hat, und sieben Länder und drei Minderheiten bedient werden mussten. Ich hoffe, dass bei dieser Berlinale die Erzählung gut ist - wie in den letzten beiden Berlinale-Jahren mit den Siegen von Michael Winterbottom und Fatih Akin." Wir hoffen das natürlich auch.
Dieter Kosslick hat allerdings natürlich auch seine Erzählung. Die handelt dann eher von der neuen Wirtschaftsmacht des deutschen Films, und von Events. Dazu gehört auch, dass Roland Emmerich, bei allem Respekt nicht gerade berühmt für künstlerische Glanzleistungen, sondern eher für aufwendiges Massenkino, nun Jurypräsident wird.

Das Festivalplakat zumindest hat unter Kosslick seine feste neue Form gefunden: ein nachtschwarzer Kreis, darin ein klitzekleiner Bär. Grund zum schwarzsehen also? Um den Goldenen Bären und andere Preise geht es also nicht, könnte man auch interpretieren. Oder Berlin als Zentrum der Welt? Oder eine Zielscheibe? Oder ein runder Tisch, ohne Ecken und Kanten? Entscheiden Sie selbst, die nächsten zehn Tage lang.

Rüdiger Suchsland

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