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Venedig 2004 06.09.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 3. Folge
Reich und Böse im Tal der Tränen
...aber hinterm Horizont geht's weiter
Almodovars LA MALA EDUCATION
Schöne reiche Welt: SHE HATE ME
 
 
 
 


"Hab' ich ein Herz aus Stein?" Nein nein, die Kollegin einer Berliner Zeitung, die sich gleich am frühen Morgen vor dem Kino dieser entsetzten Selbstprüfung unterzieht, war einfach nur in VERA DRAKE, dem neuen Film von Mike Leigh. Wie immer geht es um die Erniedrigten und Beleidigten in England, diesmal dreht sich die Handlung um eine selbstlose Frau in den 50er-Jahren - aber im Grunde ist es der immergleiche Film, den Leigh seit 30 Jahren dreht: Soz-Päd-Kino für die besseren Stände, die sich hier einmal so richtig im Dreck suhlen und schlecht fühlen dürfen. Wenn sie das nicht tun, sind sie wohl irgendwie böse. Währenddessen werden ein paar salonlinke Klischees wiedergekäut: Zum Beispiel, dass gute Menschen aus Prinzip häßlich sind. Und was kommt dann dabei heraus? Man sitzt im Kino und kann es kaum erwarten, endlich reich und böse zu sein.

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"So'n richtigen Knaller hab ich noch nicht erlebt." Sagt die gleiche Kollegin, als sie sich von Leigh Depressionskino ein bißchen erholt hat. Stimmt: Kaum Reinfälle gab es zwar im Wettbewerb, allerdings auch nur wenige wirkliche Überraschungen und stilistisch Neues. Und auch am fünften Tag läßt in Venedig noch das auf sich warten, weswegen man auf Filmfestivals fährt: Eine wirkliche Überraschung, ein Film, der einem für einen Augenblick das Herz stillstehen läßt. Der einen Schauer über den Rücken jagt, über den man auch beim dritten Bier noch nicht aufgehört hat zu reden, und auch nicht am dritten Tag. Am nächsten kommt dieser Erfahrung tatsächlich Michael Manns COLLATERAL - die meisten Festival-Besucher sind sich einig, wie wunderbar dieses L.A.-Nachtstück ist, dass dies ein Preiskandidat wäre, liefe er nicht leider außer Konkurrenz, weil selbst Preise in Amerika wohl eher verdächtig sind.

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Liebe und Leben in Zeiten der Bush-Ära: Da geht es nicht zuletzt um viel Geld. Folgerichtig lässt Spike Lee schon die Titel seines neuen Films über leinwandgroße Dollarnoten laufen; die Köpfe der Präsidenten sind zu sehen - Anlass für eine erste Spitze gegen George Dabbelju, denn der kommt auch vor, auf einer 3-Dollar-Note -, sowie der Satz, der auf allen Scheinen steht: "In God we trust". Manchmal hilft wirklich nur noch Gottvertrauen. Zum Beispiel Jack Armstrong. Zuerst bringt sich ein Kollege um (ein deutscher Wissenschaftler, gespielt von David "Blechtrommel" Bennent). Dann fliegt er aus seinem Top-Job im Hochhausbüro einer New Yorker Pharma-Firma, weil man ihm vorwirft, schmutzige Geschäftsgeheimnisse verraten zu haben. Jetzt bekämpft ihn seine Ex-Firma nach allen Regeln der juristischen Kunst. Zugleich hat sich ihm seine Ex-Freundin wieder angenähert, und bald kommt er zu einem merkwürdigen Zweitjob, als Samenspender für lesbische Top-Managerinnen...
Schicksale aus dem Alltag der New Economy: SHE HATE ME von Spike Lee - im Wettbewerb außer Konkurrenz, denn Lee ist Jury-Mitglied - ist eine Satire auf das Leben der Schönen und Wohlhabenden unserer Zeit, eine Geschichte von scheiternden Karrieren und Neuanfängen, virtuos und sehr humorvoll erzählt, dabei voller sarkastischer Spitzen auf Bushs-Politik.
Der Film schließt an Lees letzte Werke seit SUMMER OF SAM an, kein schwarzes Agitprop-Kino mehr, sondern ein Panorama, wie man es von italoamerikanischen Regisseuren kennt, oder von Woody Allen. Dabei im politischen Standpunkt denkbar klar. Nur dass hier eben eine Haltung zum Ausdruck kommt, nicht wie bei Leigh den längst Gläubigen Offenbarungen und dazu eine warme Suppe zuteil werden.

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Etwas Ähnliches wie Spike Lee, eine bittere Satire voller Zeitbezüge gelingt Oskar Roehler mit AGNES UND SEINE BRÜDER in der Horizonte-Reihe. Das Portrait dreier sehr unterschiedlicher Brüder gerät zur Gesellschaftsfarce à la AMERICAN BEAUTY: Herbert Knaup als rotgrüner Staatssekretär erlebt gerade, wie ihm Frau und Sohn entgleiten, sein einer Bruder ist ein sexbesessener Taugenichts, der andere ein Transvestit, der statt Martin nun Agnes heißt. Ein Film, wie man ihn aus Deutschland zu selten sieht, voller Frische und Witz. Roehler läßt wenig Gags aus, trotzdem gelingen ihm immer wieder Momente voller Tiefe. Das Panorama ist so hysterisch, wie die Bundesrepublik der Gegenwart. Nur manchmal entgleitet der Stoff, sodass das Gesamtbild nicht absolut überzeugt; zu verschieden ist die Qualität der Episoden. Und am Ende will auch Roehler dann plötzlich Botschaften verkünden: Alle ham' sich wieder lieb, zwei seiner Figuren gehen "nach Bagdad" weil man da noch richtig was bewirken kann, und die irgendwie störende Transe ist durch Tod aus der Welt. Oder war das alles auch noch eine satirische Volte, die wir nur einfach nicht verstanden haben?
Manchmal hat man jedenfalls so oder so den Eindruck, der Regisseur habe eigentlich gern drei Filme machen wollen, und sich für keinen recht entscheiden können. Doch beweist Roehler einmal mehr, dass er zu den besten deutschen Regisseuren gehört, immer spürbar ist sein Wille, private Horizonte zu überschreiten, etwas Spezifisches aus unserer Zeit zu erzählen.

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Zumeist geht es apolitischer und ernster zu: Private Dramen, äußerlich klein, innerlich manchmal ganz groß, dominieren die Filme der ersten Tage. Mehrere von ihnen - dummerweise laufen sie immer morgens um halb neun, wenn man eigentlich gerade erst wieder unter die Lebenden zurückzukehren versucht - verbindet das Thema des Sterbens, mit dem auch Roehlers Film entfernt zu tun hat. Ganz im Zentrum steht es in MAR ARDENTO vom Spanier Alejandro Amenabar (ABRE LOS OJOS; THE OTHERS), einem der stärksten Filme bisher. Anfangs fürchtet man das Schlimmste: wieder einmal die Geschichte vom Behinderten als dem besseren Menschen. Und ein bisschen bleibt es auch so. Sein Hauptdarsteller Javier Bardem gibt einen Krüppel, der gemessen an seinem Schicksal - vom Kopf ab gelähmt, liegt er seit 30 Jahren im Bett - und an seinen Zukunftsplänen - er kämpft um die Erlaubnis, sterben zu dürfen - schon verdammt gut gelaunt ist. Außerdem schreibt er Gedichte und schöne Frauen stehen an seinem Bett Schlange. Ganz schön kitschig ist das alles und auch ziemlich unglaubwürdig: Womit die Leute eigentlich ihr Geld verdienen ist unklar, und der schönen Anwältin hat der Drehbuchautor auch noch eine unheilbare Krankheit angedichtet. Doch der Film hat auch gute Seiten: Über die Geschichte eines, der um Sterbehilfe kämpft, entfaltet er einen fein ziselierten, familiären Mikrokosmos, und zeigt, ohne je zu moralisieren, den Reichtum des Lebens.

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Auch ROY ET REINE von Arnaud Desplechin dreht sich um den Tod. Aber anders. Nora, die junge Frau im Zentrum der Geschichte, von Anfang an einnehmend gespielt von Emmanuelle Devos, scheint den Tod anzuziehen. Ihr erster Mann kam um, nun wird ihr Vater binnen weniger Tage sterben. Mit der Zeit erfahren wir mehr über all das, auch über ihren Sohn und vor allem über die Gründe für die merkwürdige Hysterie, der Noras Verhalten und eigentlich den ganzen Film prägt. ROY ET REINE ist intensiv und realistisch, von angenehmer Spannung auch über die fast drei Stunden Filmlänge. Eine Tragikomödie über eine persönliche Katharsis: Unangenehme Erinnerungen zwingen Nora, sich selbst neu zu definieren.

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Das Tal der Tränen haben wir somit durchschritten, noch viele Filme erwarten uns, und vielleicht steht er aber ja unmittelbar bevor, der Knaller. Denn bald werden die neuen Filme von Todd Solondz (HAPPINESS; STORYTELLING) und Kim Ki-duk (THE ISLE; SPRING, SUMMER...) gezeigt, überhaupt viele Asiaten, die - da sind wir ganz sicher - uns von alle europäischen Depressionen heilen werden.

Rüdiger Suchsland

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