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Venedig 2004 04.09.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 2. Folge
Der manschurische Kritiker
Almodovars LA MALA EDUCATION
Kollateralschaden: Tom Cruise
 
 
 
 


"Once upon a time…" - einmal, während das Auto, in dem über die Hälfte von COLLATERAL spielt, durch die Stadt gleitet, wird das Gespräch der beiden Hauptfiguren unterbrochen. Stille kehrt ein, der Wagen muss bremsen. Man sieht nur ein paar Palmen, die im blauen Licht dieser urbanen Nacht fast surreal anmuten. Es ist für einen Augenblick ganz still. Und mitten in diese Stille hinein kreuzen Koyoten die Fahrbahn; ihre Augen scheinen zu glühen im Scheinwerferlicht, und ebenso schnell, wie man sie kommen sah, sind sie wieder verschwunden. Eine märchenhafte, magische Szene, in der der Film für einen Augenblick innehält und zu schweben beginnt. Dann geht es weiter auf der Fahrt durch die Nacht, bis zum Morgen.

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Schon nach drei Tagen hat einen das Festival fest im Griff. Auch hier gibt es Augenblicke des Innehaltens, des Schwebens, dann wieder schaltet der Betrieb auf Autopilot, man geht in einen Film und noch einen und noch einen...

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Plötzlich stand Quentin Tarantino im Saal. Diesmal entscheidet er zwar nicht, wie in Cannes, in der Jury über die Wettbewerbspreise, aber das Festival hat ihn eingeladen, eine paar Filme der Retrospektive vorzustellen. Die heißt "Italian Kings of the B's", handelt also von italienischen B-Movies der Nachkriegszeit, und da Tarantino sich angeblich in solchen Dingen auskent, jedenfalls unübersehbar ein Fan ist, darf er sie dann als "Pate" vorstellen. Das sieht dann so aus: Er kommt in den Saal, setzt sich in eine der vorderen Reihen, erst kaum bemerkt, dann von vielen angeglotzt. Einer der Fans ist besonders eifrig und filmt Tarantino mit einer Digitalkamera, bereits seit der durch die Reihen schlurft. Er filmt auch noch, als dieser sich setzt, und zwar diesem frontal ins Gesicht, von der Reihe vor ihm aus. Tarantino bittet ihn freundlich, aufzuhören. Der Typ filmt weiter. Tarantino bittet ihn weniger freundlich, aufzuhören. Der Typ filmt immer noch weiter. Tarantino fragt: "Bist Du taub?" Der Typ filmt weiter. Tarantino fragt: "Hörst Du erst auf, wenn ich Deine Kamera auf dem Boden zerschlage?" Der Typ filmt weiter. Da nimmt Tarantino dem Filmer die Kamera aus der Hand, und - während alle warten, ob sie jetzt auf den Boden fliegt - klappt sie zu, und gibt sie dem ignoranten Fan zurück. Das Licht ging aus, der Film, beginnt. Mal abwarten, ob einem diese Szene in einem neuen Tarantinofilm begegnet.

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Als die Koyoten über die Straße zogen, war COLLATERAL schon fast zwei Stunden alt. Doch Michael Manns neues Werk ist einer jener Filme, die von der ersten Minute an ihren Zauber entfalten. Manns neuer, siebter Spielfilm endet dort, wo HEAT anfängt, an einer, möglicherweise sogar der gleichen S-Bahn-Station in Los Angeles, und er beginnt dort, wo HEAT aufhört: am Airport der Metropole. Zwei Männer bei der Arbeit, untrennbar aneinander gekettet: Der eine ist Taxifahrer, der andere, gespielt von Tom Cruise, Auftragskiller. Miteinander in Zwangsabhängigkeit verbunden, dient Mann diese Situation dazu, einen spannenden Thrillerplot mit universalen, existentiellen Fragen zu verknüpfen, der nach dem Sinn des Daseins, nach der Möglichkeit eines intensiveren Lebens jenseits der normalen Angestelltenexistenz, nach dem Wert von Liebe und Familie im Verhältnis zu beruflichem Erfolg, nach dem Wert von Arbeit und Können, dem Ort der Integrität und den Gefahren der Routine.
Tom Cruise gelingt in dieser Rolle ein herausragender, präziser, sehr körperlicher Auftritt als innerlich totes Individuum, eine Brad Easton Ellis-Figur, die im Wesentlichen durch äußere Form und Arbeit zusammengehalten wird. Noch das Angestrengte, Primanerhafte von Cruises Spiel, das dem Grundton des Films zuwiderläuft, macht dieser sich zunutze. Mit graumeliertem Haar, ebensolchem Stoppelbart, zudem in einem Anzug in hellem Grau, hat dieser Vincent eine metallene, silbrige Gesamterscheinung - ein charismatischer Todesengel. Er strahlt die Hitze und Wut verdrängter Traumata, aber vor allem Kälte und Ernst aus, eine strenge, asketische, "protestantische" Arbeitsethik.
Inszeniert wird diese Konfrontation von Mann in hochdiszipliniertem, zugleich leidenschaftlichem Stil, der immer wieder zu überraschen versteht. Seine Bilder sind lyrisch, deuten an, zeigen mehr, als man sieht, wirken im Unterbewußtsein auf den Betrachter. Manns Kino ist ein Kino der Bewegung, des Arbeitens mit Räumen, die er dynamisiert, durchdringt und aufeinander bezieht. Oft fallen die einzelnen Aufnahmen zusammen zu einem einzigen Bild, bilden einen Strom, der den Zuschauer mitreißt. Hier ist alles, was Kino auf der formalen Ebene perfekt macht.

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Wie immer träumt Michael Mann auch einen Traum von Amerika. Der dürfte einem bei diesem Festival noch öfters begegnen: Im neuen Wenders-Film, angeblich einer Art Fortsetzung von PARIS, TEXAS auf alle Fälle. In Reitz' HEIMAT 3, die hier weiterläuft - und über die wir in den nächsten Tagen noch mehr schreiben werden, auf alle Fälle, allerdings schon umgefärbt in Alpträume, wie man sie auch anderenorts wiederfindet.

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Ein Präsidentschaftswahlkampf, ein zurückliegender Krieg im nahen Osten, traumatisierte Soldaten und verschwiegene Verbrechen, die an der nationalen Ehre kratzen könnten; die Nation debattiert mal wieder darüber, ob Freiheit oder Sicherheit wichtiger ist. Eine Verschwörung. Und endlich mal wieder ein Film von Jonathan Demme. Man sehnt sich nach diesem Regisseur, immer wieder und trotz mancher Enttäuschung, trotz vor allem unerfüllter Erwartungen, die seit seinem großen Versprechen von SILENCE OF THE LAMBS jeden Blick auf ein Demme-Werk voreingenommen machen.
Auch mit THE MANSCHURIAN CANDIDATE, der hier außer Konkurrenz läuft, stiehlt sich Demme in gewisser Weise wieder aus der Affaire. Schon weil der Film das Remake eines berühmten Films ist, weil er in gewisser Form vor allem als Variation des Films, als dessen zeitgemäße Interpretation erscheinen muß.
Zunächst einmal: Der Film ist gut und interessant. Er ist hochaktuell - die Geschichte handelt von einer faschistoiden Verschwörung, in der ein durch Gehirnwäsche quasi ferngesteuerter junger Mann ins Weiße Haus gehievt werden soll -, malt einen der schwärzesten amerikanischen Träume, die man in diesem Jahr auf der Leinwand sah. Aber alles bleibt merkwürdig ungreifbar, fragmentarisch. Und die Aktualität ist vielleicht doch ein bisschen platt. Zugleich feige, da im Jahr 2008 angesiedelt, weit weg von aller Bush-Connection. Der Film provoziert durch offenkundige Parallelen, keine Frage. Vieles gefällt, allen voran das Spiel von Merryl Streep, die eine schurkische Senatorin darstellt, in der Tradition der herausragenden Angela Lansbury in der Ur-Fassung John Frankenheimers. Dem Remake wurde der Antikommunismus entfernt; das Thema ist heute noch klarer die inneren Bedrohungen der US-Gesellschaft.
Zugleich bleibt alles ein Thesenfilm, den man zwar gern sieht, und dessen Thesen man - zumal in Europa - auch nicht bestreiten wird. Aber auch letztlich weit hergeholt - treffend nur in seiner Typisierung des Personals. Die Änderungen der eigentlichen Geschichte gegenüber der Frankenheimer-Fassung sind wenig plausibel - ein Konzept ist nicht spürbar, eher wirkt es, als hätten hier viele Köche den Brei kalt werden lassen. Und auch stilistisch fragt man sich, was Demme hier eigentlich interessiert - außer den Herbstfarben, die schon in SILENCE OF THE LAMBS dominierten.

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Da ist THE HAMBURG CELL von Antonia Bird schon brisanter und formal weitaus ansprechender. Die britische Regisseurin hat einen erstaunlichen Thriller gedreht, der bei aller spannenden Handlung am meisten durch seine Atmopshäre besticht.
Der Film erzählt im Stil eines Dokudramas - und tatsächlich mit einem angenehmen, vielleicht tatsächlich "typisch britischem" Realismus von den Attentätern des 11.9.2001, die einige Zeit als "Schläfer" in Hamburg lebten. Drei von ihnen wurden Piloten der Flugzeuge, die für die Attentate verwendet wurden. Im Zentrum steht jener Ziad Jarrah, dessen Maschine ihr Ziel verfehlte, und über Pennsylvania abstürzte - der Film läßt offen, warum genau, lässt aber die Lesart zu, dass der Pilot die Maschine im letzen Moment selbst vom Kurs wegsteuerte.
Es macht gar nichts, dass der Ausgang bekannt ist - wie ja der in Demmes Film auch zumindest jenen, die das Original kennen. Bird versteht es, so zu inszenieren, dass man immer alles für möglich hält. In THE HAMBURG CELL beobachtet man einen Menschen über fünf Jahre, der sich mehr und mehr aus seiner alten Umgebung löst.
Der Terrorist als Mensch - was legitimer ist, als "Hitler als Mensch", wie man ihn bald im Kino sehen wird. Denn über Jarrah und seine "Brüder" weiß man fast nichts. Man kann sie sich hier vorstellen als Außenseiter und zu-kurz-Gekommene, als Narren, die von einigen sinistren Strippenziehern aus dem Hintergrund wie Sektenanhänger manipuliert werden, manschurische Kandidaten der anderen Art.
Aber man kann in ihnen aber auch die elitären Ritter einer Gegenmoderne sehen, jung, leistungsstark, gut ausgebildet. Bird zeigt die Indoktrination, das Schmieden neuer Gemeinschaften, die dummen Phrasen. Sie zeigt der Gruppenzwang und die leisen Zweifel. Vor allem zeigt sie alles das in schönem Licht, hellen Farben, von sphärischen Musikteppichen untermalt. Und als es zur "Zero Hour" kommt, sind die Attentäter bei aller bleibenden Distanz auch ein kleines bisschen cool.

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Zu Schläfern werden in Venedig auch die Kritiker. In diesem Jahr ist es fast die Regel, dass Filme abends erst mit einer Stunde Verspätung anfangen, aber verlassen kann man sich darauf natürlich auch nicht. Und dann wacht man gegen drei Uhr nachts auf, und setzt sich aus den Fragmenten der letzten zwei Stunden die Handlung zusammen. Ein Festival kann aber auch manchmal wie eine Gehirnwäsche wirken, und ein Besucher sich plötzlich als manschurischer Kritiker fühlen.

Rüdiger Suchsland

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