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"Once upon a time
" - einmal, während
das Auto, in dem über die Hälfte von COLLATERAL
spielt, durch die Stadt gleitet, wird das Gespräch der
beiden Hauptfiguren unterbrochen. Stille kehrt ein, der Wagen
muss bremsen. Man sieht nur ein paar Palmen, die im blauen
Licht dieser urbanen Nacht fast surreal anmuten. Es ist für
einen Augenblick ganz still. Und mitten in diese Stille hinein
kreuzen Koyoten die Fahrbahn; ihre Augen scheinen zu glühen
im Scheinwerferlicht, und ebenso schnell, wie man sie kommen
sah, sind sie wieder verschwunden. Eine märchenhafte,
magische Szene, in der der Film für einen Augenblick
innehält und zu schweben beginnt. Dann geht es weiter
auf der Fahrt durch die Nacht, bis zum Morgen.
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Schon nach drei Tagen hat einen das Festival fest im Griff.
Auch hier gibt es Augenblicke des Innehaltens, des Schwebens,
dann wieder schaltet der Betrieb auf Autopilot, man geht in
einen Film und noch einen und noch einen...
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Plötzlich stand Quentin Tarantino im Saal. Diesmal entscheidet
er zwar nicht, wie in Cannes, in der Jury über die Wettbewerbspreise,
aber das Festival hat ihn eingeladen, eine paar Filme der
Retrospektive vorzustellen. Die heißt "Italian
Kings of the B's", handelt also von italienischen B-Movies
der Nachkriegszeit, und da Tarantino sich angeblich in solchen
Dingen auskent, jedenfalls unübersehbar ein Fan ist,
darf er sie dann als "Pate" vorstellen. Das sieht
dann so aus: Er kommt in den Saal, setzt sich in eine der
vorderen Reihen, erst kaum bemerkt, dann von vielen angeglotzt.
Einer der Fans ist besonders eifrig und filmt Tarantino mit
einer Digitalkamera, bereits seit der durch die Reihen schlurft.
Er filmt auch noch, als dieser sich setzt, und zwar diesem
frontal ins Gesicht, von der Reihe vor ihm aus. Tarantino
bittet ihn freundlich, aufzuhören. Der Typ filmt weiter.
Tarantino bittet ihn weniger freundlich, aufzuhören.
Der Typ filmt immer noch weiter. Tarantino fragt: "Bist
Du taub?" Der Typ filmt weiter. Tarantino fragt: "Hörst
Du erst auf, wenn ich Deine Kamera auf dem Boden zerschlage?"
Der Typ filmt weiter. Da nimmt Tarantino dem Filmer die Kamera
aus der Hand, und - während alle warten, ob sie jetzt
auf den Boden fliegt - klappt sie zu, und gibt sie dem ignoranten
Fan zurück. Das Licht ging aus, der Film, beginnt. Mal
abwarten, ob einem diese Szene in einem neuen Tarantinofilm
begegnet.
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Als die Koyoten über die Straße zogen, war COLLATERAL
schon fast zwei Stunden alt. Doch Michael Manns neues Werk
ist einer jener Filme, die von der ersten Minute an ihren
Zauber entfalten. Manns neuer, siebter Spielfilm endet dort,
wo HEAT anfängt, an einer, möglicherweise sogar
der gleichen S-Bahn-Station in Los Angeles, und er beginnt
dort, wo HEAT aufhört: am Airport der Metropole. Zwei
Männer bei der Arbeit, untrennbar aneinander gekettet:
Der eine ist Taxifahrer, der andere, gespielt von Tom Cruise,
Auftragskiller. Miteinander in Zwangsabhängigkeit verbunden,
dient Mann diese Situation dazu, einen spannenden Thrillerplot
mit universalen, existentiellen Fragen zu verknüpfen,
der nach dem Sinn des Daseins, nach der Möglichkeit eines
intensiveren Lebens jenseits der normalen Angestelltenexistenz,
nach dem Wert von Liebe und Familie im Verhältnis zu
beruflichem Erfolg, nach dem Wert von Arbeit und Können,
dem Ort der Integrität und den Gefahren der Routine.
Tom Cruise gelingt in dieser Rolle ein herausragender, präziser,
sehr körperlicher Auftritt als innerlich totes Individuum,
eine Brad Easton Ellis-Figur, die im Wesentlichen durch äußere
Form und Arbeit zusammengehalten wird. Noch das Angestrengte,
Primanerhafte von Cruises Spiel, das dem Grundton des Films
zuwiderläuft, macht dieser sich zunutze. Mit graumeliertem
Haar, ebensolchem Stoppelbart, zudem in einem Anzug in hellem
Grau, hat dieser Vincent eine metallene, silbrige Gesamterscheinung
- ein charismatischer Todesengel. Er strahlt die Hitze und
Wut verdrängter Traumata, aber vor allem Kälte und
Ernst aus, eine strenge, asketische, "protestantische"
Arbeitsethik.
Inszeniert wird diese Konfrontation von Mann in hochdiszipliniertem,
zugleich leidenschaftlichem Stil, der immer wieder zu überraschen
versteht. Seine Bilder sind lyrisch, deuten an, zeigen mehr,
als man sieht, wirken im Unterbewußtsein auf den Betrachter.
Manns Kino ist ein Kino der Bewegung, des Arbeitens mit Räumen,
die er dynamisiert, durchdringt und aufeinander bezieht. Oft
fallen die einzelnen Aufnahmen zusammen zu einem einzigen
Bild, bilden einen Strom, der den Zuschauer mitreißt.
Hier ist alles, was Kino auf der formalen Ebene perfekt macht.
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Wie immer träumt Michael Mann auch einen Traum von Amerika.
Der dürfte einem bei diesem Festival noch öfters
begegnen: Im neuen Wenders-Film, angeblich einer Art Fortsetzung
von PARIS, TEXAS auf alle Fälle. In Reitz' HEIMAT 3,
die hier weiterläuft - und über die wir in den nächsten
Tagen noch mehr schreiben werden, auf alle Fälle, allerdings
schon umgefärbt in Alpträume, wie man sie auch anderenorts
wiederfindet.
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Ein Präsidentschaftswahlkampf, ein zurückliegender
Krieg im nahen Osten, traumatisierte Soldaten und verschwiegene
Verbrechen, die an der nationalen Ehre kratzen könnten;
die Nation debattiert mal wieder darüber, ob Freiheit
oder Sicherheit wichtiger ist. Eine Verschwörung. Und
endlich mal wieder ein Film von Jonathan Demme. Man sehnt
sich nach diesem Regisseur, immer wieder und trotz mancher
Enttäuschung, trotz vor allem unerfüllter Erwartungen,
die seit seinem großen Versprechen von SILENCE OF THE
LAMBS jeden Blick auf ein Demme-Werk voreingenommen machen.
Auch mit THE MANSCHURIAN CANDIDATE, der hier außer Konkurrenz
läuft, stiehlt sich Demme in gewisser Weise wieder aus
der Affaire. Schon weil der Film das Remake eines berühmten
Films ist, weil er in gewisser Form vor allem als Variation
des Films, als dessen zeitgemäße Interpretation
erscheinen muß.
Zunächst einmal: Der Film ist gut und interessant. Er
ist hochaktuell - die Geschichte handelt von einer faschistoiden
Verschwörung, in der ein durch Gehirnwäsche quasi
ferngesteuerter junger Mann ins Weiße Haus gehievt werden
soll -, malt einen der schwärzesten amerikanischen Träume,
die man in diesem Jahr auf der Leinwand sah. Aber alles bleibt
merkwürdig ungreifbar, fragmentarisch. Und die Aktualität
ist vielleicht doch ein bisschen platt. Zugleich feige, da
im Jahr 2008 angesiedelt, weit weg von aller Bush-Connection.
Der Film provoziert durch offenkundige Parallelen, keine Frage.
Vieles gefällt, allen voran das Spiel von Merryl Streep,
die eine schurkische Senatorin darstellt, in der Tradition
der herausragenden Angela Lansbury in der Ur-Fassung John
Frankenheimers. Dem Remake wurde der Antikommunismus entfernt;
das Thema ist heute noch klarer die inneren Bedrohungen der
US-Gesellschaft.
Zugleich bleibt alles ein Thesenfilm, den man zwar gern sieht,
und dessen Thesen man - zumal in Europa - auch nicht bestreiten
wird. Aber auch letztlich weit hergeholt - treffend nur in
seiner Typisierung des Personals. Die Änderungen der
eigentlichen Geschichte gegenüber der Frankenheimer-Fassung
sind wenig plausibel - ein Konzept ist nicht spürbar,
eher wirkt es, als hätten hier viele Köche den Brei
kalt werden lassen. Und auch stilistisch fragt man sich, was
Demme hier eigentlich interessiert - außer den Herbstfarben,
die schon in SILENCE OF THE LAMBS dominierten.
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Da ist THE HAMBURG CELL von Antonia Bird schon brisanter
und formal weitaus ansprechender. Die britische Regisseurin
hat einen erstaunlichen Thriller gedreht, der bei aller spannenden
Handlung am meisten durch seine Atmopshäre besticht.
Der Film erzählt im Stil eines Dokudramas - und tatsächlich
mit einem angenehmen, vielleicht tatsächlich "typisch
britischem" Realismus von den Attentätern des 11.9.2001,
die einige Zeit als "Schläfer" in Hamburg lebten.
Drei von ihnen wurden Piloten der Flugzeuge, die für
die Attentate verwendet wurden. Im Zentrum steht jener Ziad
Jarrah, dessen Maschine ihr Ziel verfehlte, und über
Pennsylvania abstürzte - der Film läßt offen,
warum genau, lässt aber die Lesart zu, dass der Pilot
die Maschine im letzen Moment selbst vom Kurs wegsteuerte.
Es macht gar nichts, dass der Ausgang bekannt ist - wie ja
der in Demmes Film auch zumindest jenen, die das Original
kennen. Bird versteht es, so zu inszenieren, dass man immer
alles für möglich hält. In THE HAMBURG CELL
beobachtet man einen Menschen über fünf Jahre, der
sich mehr und mehr aus seiner alten Umgebung löst.
Der Terrorist als Mensch - was legitimer ist, als "Hitler
als Mensch", wie man ihn bald im Kino sehen wird. Denn
über Jarrah und seine "Brüder" weiß
man fast nichts. Man kann sie sich hier vorstellen als Außenseiter
und zu-kurz-Gekommene, als Narren, die von einigen sinistren
Strippenziehern aus dem Hintergrund wie Sektenanhänger
manipuliert werden, manschurische Kandidaten der anderen Art.
Aber man kann in ihnen aber auch die elitären Ritter
einer Gegenmoderne sehen, jung, leistungsstark, gut ausgebildet.
Bird zeigt die Indoktrination, das Schmieden neuer Gemeinschaften,
die dummen Phrasen. Sie zeigt der Gruppenzwang und die leisen
Zweifel. Vor allem zeigt sie alles das in schönem Licht,
hellen Farben, von sphärischen Musikteppichen untermalt.
Und als es zur "Zero Hour" kommt, sind die Attentäter
bei aller bleibenden Distanz auch ein kleines bisschen cool.
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Zu Schläfern werden in Venedig auch die Kritiker. In
diesem Jahr ist es fast die Regel, dass Filme abends erst
mit einer Stunde Verspätung anfangen, aber verlassen
kann man sich darauf natürlich auch nicht. Und dann wacht
man gegen drei Uhr nachts auf, und setzt sich aus den Fragmenten
der letzten zwei Stunden die Handlung zusammen. Ein Festival
kann aber auch manchmal wie eine Gehirnwäsche wirken,
und ein Besucher sich plötzlich als manschurischer Kritiker
fühlen.
Rüdiger Suchsland
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