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Venedig 2004 02.09.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 1. Folge
Die Weisheit des Leoparden
Vanity_Fair
Höhepunkte bei François Ozons 5x2
 
 
 
 


"Man muss alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist." Der berühmte Satz aus Lampedusas "Der Leopard", selbst Vorlage einer der schönsten Filme der italienischen Filmgeschichte, fällt einem schnell ein, wenn man an die Filmfestspiele von Venedig denkt. Wieder einmal ist alles anders - und wieder ist alles wie immer. Zum dritten Mal in vier Jahren hat das Festival einen neuen Leiter: Marco Müller, aus der italienischen Schweiz stammend, mit schwedischer Mutter, war lange Jahre erfolgreicher Leiter des Festivals von Locarno - da hatte er mit Leoparden schon seine eigenen Erfahrungen sammeln können - war danach eine Weile Produzent, als Student Maoist, der während der Kulturrevolution einige Jahre im "Reich der Mitte" verbrachte, ein China-Kenner ersten Ranges - es wird kolportiert, er spräche 13 verschiedene Mandarin-Dialekte -, heute ist er als Kandidat der rechtsextremen Berlusconi-Koalition gegen den Willen der römischen Kulturszene als Ersaatz des unbeliebten Moritz de Hadeln durchgedrückt worden - mit Vier-Jahres-Vertrag, was hier nichts heißen muss, wenn im Herbst eine neue Regierung gewählt wird. Lange war hier keiner mehr vier Jahre in dem Amt des Festspielleiters.

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Müller ist jedenfalls eine schillernde Figur, wie ein Irrlicht überall aktiv, und um diese Aktivität zu demonstrieren, hat er nicht nur die Programmhefte umdesigned und 61 geflügelte venezianische Löwen in Gold (und aus Pappe) am Lido aufgestellt, sondern auch Substantielleres verändert. Radikal wurde das Programm verschlankt: Nur 71 Filme laufen beim noch immer drittwichtigsten A-Festival der Welt - in Berlin und Cannes sind es viele hundert. Abgeschafft wurde kurzerhand die zweite Hauptreihe für Jungfilmer, die mit ihren jungen, frischen, innovativen Filmen dem Wettbewerb zuletzt ernsthafte Konkurrenz machte - etwa LOST IN TRANSLATION gewann hier im Vorjahr den Preis -, und damit geht dem Festival auch ein lukrativer Preis verloren. Dafür gibt es gleich mehrere neue, noch etwas unklare Sektionen mit verwirrenden Titeln: "Giornate degli Autori", "Cinema digitale", "Mezzanotte". Die wichtigste sind die "Orizzonti", wo immerhin unter anderem am Montag Oskar Roehlers neuer Film AGNES UND SEINE BRÜDER Premiere hat.

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Mit den "Mezzanotte" hat Müller immerhin jene wunderbare, von de Hadeln blöderweise abgeschaffte Institution der Mitternachtsfilme wieder eingeführt, die einen ganz besonderen Reiz des Festivals ausmacht. Wer will, kann hier nämlich wirklich acht oder neun Filme am Tag sehen, darf auch um Mitternacht ins Kino gehen, und stattdessen mal in der Septembersonne mittags eine Siesta halten. Kein Festival ist so tolerant wie Venedig, das hat sich auch unter Müller nicht geändert: Viele Wiederholungen, man kann immer und muss nie ins Kino - außer weil die Filme gut sind. Und sogar "Mezzanotte" ist ein relativer Begriff: Wiederholt werden diese Filme nämlich um 8.30 morgens. Also tatsächlich mitten in der Nacht.

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Ein menschliches Drama gab es als Eröffnungsfilm zu sehen: Tom Hanks, Catherine Zeta-Jones und Steven Spielberg - das war die attraktive Kombination von TERMINAL. Für Spielberg selbst gewiss ein Nebenwerk: Fast wie ein Kammerspiel wirkt diese Geschichte von dem Mann osteuropäischer Herkunft, der durch eine Laune des Schicksals auf dem New Yorker-Airport eingeschlossen bleibt - rein darf er nicht, weg will er nicht. So wird er zunächst zum guten Mensch des Flughafens, hilft allen und jedem, und erlebt dann wie zur Belohnung seinen höchstpersönlichen amerikanischen Traum, mit Catherine Zeta-Jones als Sahnehäubchen. Mit TERMINAL erweist sich Spielberg wieder einmal als der große Linksliberale des Mainstreamkinos und hat ein sympathisches Rührstück gedreht, das das US-Publikum daran erinnert, dass Fremde meistens keine Terroristen sind, sondern Menschen wie Du und ich, weswegen man dem Film seine simplen Mittel gern verzeiht. Freilich ist der Fremde hier einer, der - passenderweise aus Sicht aller Einwanderungsfeinde - am Ende wieder geht. Ein Spielbergscher Heimatfilm und eine Art irdische Version von E.T., passend zu den Verhältnissen der Globalisierung. Kein künstlerischer Glanzpunkt, aber eine gute Eröffnung - falls man sich nicht von Tom Hanks nerven läßt, der einmal mehr den Forrest Gump gibt, mit allen Manierismen seines osteuropäischen Dialekts und am Schluß fast wie E.T. stammelt: "I want to go home".

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Der eigentliche Wettbewerb begann mit 5x2, dem neuen Film von François Ozon. Gleich ein Höhepunkt! Wie immer bei dem Regisseur von SOUS LE SABLE und SWIMMING POOL ein völlig unerwarteter Film, voller Überraschungen, experimentell, genau und vor allem einfach gut. Von der ersten Minute an zieht 5x2 einen in Bann: Man sieht ein Paar, dass sich scheiden läßt - und gleich anschließend erst mal miteinander schläft. Was da im Hotelzimmer geschieht, verrät alles - warum sich das Paar trennen will und warum es voneinander nicht loskommt. In der Intensität, in der Aufmerksamkeit für kleinste Schwingungen zwischen den Figuren, in der Präzision der Inszenierung, fühlt man sich an Ingmar Bergman und besonders seine SZENEN EINER EHE erinnert. Ozon erzählt sie rückwärts: Die letzte der fünf Szenen schildert den Beginn der Liebe. Aber indem der Zuschauer mehr weiß, als die Figuren, sieht er alles sozusagen mit zweitem, weiseren und abgeklärten Blick - Ozon macht einen zum gütigen und melancholischen Allwissenden, der doch nichts ändern kann, sondern im Drama der Figuren auch sein je eigenes Drama gespiegelt findet.

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"Man muss alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist." - Das gilt auch für Edgar Reitz, dessen HEIMAT 3 - CHRONIK EINER ZEITENWENDE, insgesamt über 12 Stunden Film, nach jahrelanger Vorbereitung in Venedig endlich läuft. Reitz erzählt die Geschichte seiner Figuren aus DIE ZWEITE HEIMAT in der Jetztzeit weiter. Hauptfigur und Reitz-Alter-Ego Hermann gerät in den Strudel der Wiedervereinigung 1989 und kehrt selbst in die alte Heimat im linksrheinischen Schabbach zurück. Im Unterschied zu den beiden ersten Werken gibt es hier zumindest zum Aufftakt weder einen einheitlichen Ort, noch ein klar umrissenes Milieu. Als gehe Reitz selbst, je näher sein Epos der Gegenwart rückt, der feste Halt seiner Geschichte verloren. Doch schnell war auch wieder der alte HEIMAT-Sog zu spüren, so klar ist Reitz' Vision und erkennbar, dass sich hier einer mehr vorgenommen hat als viele andere: Aus "Geschichten" soll repräsentative Geschichte werden.

Rüdiger Suchsland

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