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Mannheim-Heidelberg '04 02.12.2004
 
 
Die Welt als Wille und Vorstellung
Halluzinationen und Desillusion beim 53. Filmfestival Mannheim-Heidelberg
Lauren Bacall
MILA FROM MARS
 
 
 
 

Mannheim ist wohl die einzige europäische Stadt, deren Altstadt sich wie Manhattan in Planquadrate gliedert. Adressen werden hier angegeben als alphanumerische Koordinaten wie beim Schiffe-Versenken. N1: Stadthaus; Treffer, versenkt! Dies mag ein Grund dafür sein, weshalb die Reden zur Eröffnung des 53. Filmfestivals Mannheim-Heidelberg mehrfach die Metapher des Leuchtturms bemühten, um den Ruhm des Festivals zu begründen.
Ortsangaben aber, die durch Chiffren ersetzt sind, werden zu identitätslosen Ortsbegriffen. Mannheim kann so auch als Vorbote einer übermodernen Wirklichkeitserfahrung gesehen werden, in der Realität sich als innere Erlebniswelt codiert. Daher eignet sich Mannheim wie keine andere Stadt für den Rückzug in das Kino mit seinen bildgewordenen "Erfahrungswelten", so das diesjährige Motto des Festivals. Mannheim ist von alters her modern - und dies kann auch als Formel gelten, in die sich der Charakter des Festivals fassen lässt: Als eines der ältesten europäischen Filmfestivals zeigt es alljährlich internationale Premieren von neuen Regisseuren, den Newcomern.

Die Newcomer - das sind Regisseure, die sich zumeist schon in anderen Kunstformen erprobt hatten, bevor sie die Filmkamera in die Hand nahmen. Die Bulgarin Zornitsa Sophia zum Beispiel, deren Film MILA FROM MARS mit dem Rainer Werner Fassbinder-Preis ausgezeichnet wurde, war Werbegrafikerin und Videokünstlerin, bevor sie ihren ersten Spielfilm drehte. Andere kamen über das Theater zum Film, wie der Libanese Wajdi Mouawad, der mit seinem Debütfilm LITTORAL das Festival eröffnete. Als Newcomer gelten aber auch Regisseure, die bereits mit mehreren Filmen in ihrem eigenen Land erfolgreich waren, in Europa aber bisher kaum oder gar nicht zu sehen waren, wie Gen Takahashi, prominenter Vertreter der japanischen Independent-Szene. Also nur wenige Abschlussfilme von Hochschulen, wie FOLGE DER FEDER von Nuray Sahin von der DFFB.

Die Spielfilme des Wettbewerbs lieferten überwiegend kraftvoll inszenierte und oftmals ins Phantastische enthobene Erlebniswelten. Sie zeigten, dass sich die Erfahrungswelten keinesfalls mit dem Realen begnügen, vielmehr von Imagination gesättigt sind, innere Welten sind, die im Film sichtbar und real werden können. Der bulgarische Film MILA FROM MARS ist so ein Beispiel, wo sich das Imaginäre und die phantastische Erzählung an die Stelle der Wirklichkeit setzen, und darüber eine Aussagekraft über ein Land entfalten, das sich selbst zu erneuern sucht. Mila ist eine sechzehnjährige Punkerin aus Sofia, die vor ihrem gewalttätigen Liebhaber flieht und in ein kleines Dorf nahe der mazedonischen Grenze gelangt. Die Bevölkerung ist vergreist, man sieht die verlassene, heruntergekommene Ortschaft, eine Bildlichkeit, die noch ganz dokumentarischen Anspruch erhebt. Das Dorf ist umgeben von Marihuanafeldern, die Alten sieht man bekifft auf den Bänken vor den Häusern sitzen und Drogenschmuggel betreiben. Energisch kümmern sie sich um Mila, die ein Kind erwartet, und schließlich an Weihnachten niederkommt. Die Mär von dem Hoffnungsträger "Christos", wie die alten Frauen das Neugeborene taufen, ist temporeich und witzig inszeniert, mit optischen Verzerrungen, in denen die dürre Mila neben den alten Weibchen in langen Beinen herumstakst.

Wie sehr gerade die Kunstform Film geeignet ist, Imaginäres in Bildern real werden zu lassen, zeigte der schon erwähnte Eröffnungsfilm LITTORAL von Wajdi Mouawad. Der Versuch des kanadisch-libanesischen Wahab, seinen Vater in heimischer Erde im Libanon zu bestatten, gestaltet sich vor dem Hintergrund des kriegs- und krisenerschütterten Landes als bittere, aber auch sehr heitere Groteske. Der Film inszeniert immer wieder Bilder, die theaterhaft auf herausgehobene Momente setzen, die aber gekonnt in die Sprache des Films übersetzt werden. Eine Zimmertür in Montreal öffnet sich in surrealer Weise auf einen Strand in Beirut, der düstere Raum wandelt sich in seiner Stimmung, wird durch das hereinfallende Sonnenlicht aufgebrochen. Wenn Wahab den Sargdeckel an den zahlreichen Checkpoints im Libanon öffnet, ertönt die auf Tonband aufgenommene Stimme seines Vaters, der zum Sohn über seine Kindheit spricht. Der Film ist aber auch sehr komisch, wenn zum Beispiel Wahab in seinen Träumen mit einer Araberin schläft und ihm das entscheidende arabische Wort fehlt, um sie zum Höhepunkt zu bringen. Eine satirische, bisweilen tragische Erzählung über den Tod und gegen das Töten im Krieg, die Mannheim sich vor anderen Festivals sichern konnte.

Ernster im Tonfall und von feministischer Kraft getrieben war der iranische Beitrag PARVANEI DAR BAAD (SCHMETTERLINGE IM WIND) von Abbas Rafei. Ayda wird nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen, und ihr einziger Gedanke ist, ihr Kind wiederzusehen. Ganz im Stil klassischer Western trifft sie an der Grenze zur gefahrvollen Wüste, die sie durchqueren muss, auf den Einsiedler Nadar, der ihr bei der Suche nach dem Kind helfen will. Er ist getrieben vom Rachegedanken an dem Heroinschmuggler, dem Mann von Ayda, der sie ins Gefängnis gebracht hatte. Die Suche endet in einem blutigen Showdown, bei dem Ayda den Bösewicht von den Klippen stößt. Ein Actionfilm aus der Independentszene des iranischen Films, in dem nicht nur der Zuschauer von einem gewaltvollen Sandsturm überrascht wird.

Wie kein anderes Genre hat sich im Filmgeschehen der letzten Jahre der Dokumentarfilm als erfolgreicher Newcomer erwiesen. Umso verwunderlicher, dass auf dem Mannheimer Festival, das früher einmal auf internationaler Ebene als sein Mekka galt, Dokumentarfilme nahezu von der Bildfläche verschwunden sind, nur eine Handvoll war dieses Jahr in Mannheim zu sehen.

Ausnehmend schön war die österreichische Produktion ACROSS THE BORDER, die bereits in Leipzig auf sich aufmerksam gemacht hatte. In fünf Episoden erzählt der Film von dem Zustand in den osteuropäischen Ländern, aus der Sicht von fünf verschiedenen Regisseuren aus Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei. Der Film vereinigt die unterschiedlichen Tonlagen der dokumentarischen Erzählungen in einem vielstimmig-stimmigen Gefüge, von der ruhigen, bilderstarken Meditation über das Leben in einem verlassenen polnischen Dorf bis zum witzigen Roadmovie von zwei Ungarn, die sich als Schnäppchenjäger nach Wien zu einem Trödelmarkt aufmachen.

Weniger schön photographiert, dafür umso ergreifender in dem Schicksal, das er erzählt, war BORN TO BE BLIND des Brasilianers Roberto Berliner, eine Langzeitstudie über drei blinde Schwestern in Brasilien. Zu Beginn der Dreharbeiten schlagen sie sich als Straßenmusikantinnen durchs Leben. Durch die anwesende Filmcrew ziehen sie die Medienaufmerksamkeit auf sich, gelangen zu unerwarteter Berühmtheit und dürfen mit den größten brasilianischen Percussionisten auftreten. Schließlich aber, als der Medienhype verklingt, sieht man sie wieder bettelnd, auf der Straße. BORN TO BE BLIND macht deutlich, dass auch eine Dokumentation, die Zeugnis ablegen möchte, in die Wirklichkeit eingreifen kann - und zeigt gleichzeitig, wie aussichtslos doch die existentielle Geworfenheit ist. BORN TO BE BLIND wurde dieses Jahr bei den Festivals durchgereicht. Umso schöner, dass er in Mannheim zur Aufführung kam.

Der diesjährige Publikumsrenner HITLERS HITPARADE erwies sich dagegen als gewissenloses Kompilations-Machwerk. Ausschnitte aus Spielfilmen, Revueaufzeichnungen und Archivmaterial sampelten die Filmemacher Oliver Anxer und Susanne Benze, beide Spezialisten für Nazi-Pop, zu einem suggestiven Reigen der Ähnlichkeiten. Das Ganze unterlegten sie mit Tanzmusik und Schlagern aus der Zeit des Dritten Reichs. Über der Bild- und Tonflut steht der selbstverschriebene Anspruch, zu vermitteln, wie sich die Leute "damals fühlten". Da werden über die Montage Gleichungen aufgebaut zwischen beinewerfenden Revuedamen und BDM-Mädels, die auf deutscher Erde fröhlich den Gymnastikreifen schwingen. Gewissenlos und undokumentarisch ist dieser Umgang mit dem Bildmaterial, das dahinfließt, ohne anzugeben, aus welchen Filmen die Ausschnitte stammen, auf welchem Parteiaufmarsch Hitler zu sehen war - was ein leicht zu lieferndes Minimalwissen über die gezeigten Kino-, Revue- und Parteitag-Events gewesen wäre, das ja unmittelbar zur Erlebniswelt der Zeit gehörte.

Der kanadische Film THE CORPORATION schließlich war ein überflüssiges Statement gegen die böse Globalisierung - mit moralisierendem Moore-Zeigefinger, der die großen Konzerne an den Pranger stellt. Der Film ist nicht mehr als eine empörte Anklageschrift, deren vorherrschender Gestus die Schlagzeile ist. Ferner von Analyse und Aufklärung kann ein politischer Film kaum sein, auch wenn er sich Aufklärung und "psychologische Analyse" auf die Fahnen schreibt.

Ein Ausschnitt immerhin, der gezeigt wurde, aus den vielfältigen Positionen im Dokumentarfilm. Wenn aber sogar ausgesprochene Feature-Filmfestivals dem Dokumentarischen immer mehr Achtung zollen, sollte doch auch das Mannheimer Festival hier mit Überraschungen und Entdeckungen aufwarten. Es gibt immer noch genug Dokumentarfilme, die in keines der bekannten Festivalformate passen - da könnte Mannheim tätig werden und sich wieder für den Dokumentarfilm stark machen, für den es einst stand.

Dunja Bialas

 

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