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Cannes 2004 27.05.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 7. Folge

2047 - Erinnerungen an die Zukunft

Kleiner, ungeordneter Cannes-Nachklapp
2046


 
 
 
 

Schon der Festivaltrailer von Cannes führt die Zuschauer in den - siebten? - Himmel: Stufe für Stufe schwebt durch blauen Raum, führt, mit rotem Teppich bedeckt, den Zuschauer in die Höhe, bis man plötzlich - platsch - begreift, dass man gerade eine Wasseroberfläche - vielleicht das Ufer am Strand der Croisette - durchdringt, und dann, imaginär nach Luft schnappend, eine sternennachtblaue Höhe erreicht hat - wer das interpretieren will, bitte. Manchmal kann dieser Himmel allerdings auch die Hölle sein - die der Kunst natürlich.

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Die Moral hat über die Kunst gesiegt, das Eindeutige, Grelle, über Mehrdeutigkeit und Sensibilität, Pamphlet über Atmosphäre, das Sendungsbewußtsein über die Skepsis: Michael Moore heißt der große Sieger an der Croisette, Wong Kar-wai der Verlierer. Und dennoch ist der größte Sieger von allen das asiatische Kino.

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Mit der Goldenen Palme für Michael Moores FAHRENHEIT 9/11 hat die Jury um Quentin Tarantino bei den Filmfestspielen von Cannes einen politischen, keinen künstlerischen Preis vergeben. Das Kino der Welt stellt sich damit offen gegen George W. Bush. Moore zeigt in seiner beklemmenden Innenansicht der USA ein Land, das von einer Clique von Reichen regiert wird, die über Leichen gehen, nicht zuletzt die ihrer eigenen Landsleute, jener Soldaten aus den Armenvierteln der US-Metropolen, die als Kanonenfutter für Bushs Pläne dienen müssen. Und um ihre Position zu sichern unterhält die Familie Bush sogar mit dem saudischen Königshaus excellente Beziehungen, wohl wissend, dass diese Hauptfinanciers des islamischen Terrorismus sind. Die meisten der vielen Fakten seines Films kann der Regisseur, der vor zwei Jahren mit BOWLING FOR COLUMBINE bekannt und mit seiner berühmten Oscarpreisrede - "Shame on you, Mr. Bush!" - zum Star und zum Heiligen aller Bush-Gegner wurde, auch gut belegen. Insofern blieb selbst vielen Bush-Anhängern unter den US-Journalisten nach der Vorführung seines Films in Cannes nur betroffen-verschämtes Schweigen.

Trotzdem lebt Moores Film bei aller Klarheit der Aussage, weniger von seinen großen Thesen, als von genauer Beobachtung und kleinen Einsichten. Sie fügen sich zu einem Mosaik der Schande. Zugleich ist FAHRENHEIT 9/11, dessen Titel von Truffauts Orwellscher Vision FAHRENHEIT 451 inspiriert ist, aber in seinen besten Momenten eine filmisch elegante Totalitarismusstudie. Über den Tag hinaus wird der Film freilich kaum Bestand haben - zu sehr bleibt alles eine Momentaufnahme mit schneller Halbwertszeit. Zudem muss man sich fragen, ob die Auszeichnung vom Samstag Moores Anliegen nicht eher schadet. Wer ausgerechnet in Frankreich Preise gewinnt, steht im Land der "Homeland-Security" schnell unter Verdacht des fehlenden Patriotismus.

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FAHRENHEIT 9/11 war eher nicht repräsentativ für einen überaus starken Wettbewerb, der das genaue Gegenteil jenes pausbäckigen politisch-kulturellen Kompromisskinos bot, das zuletzt erst die diesjährige Berlinale dominierte. Darum war die Jury auch nur zu beglückwünschen für den Mut, jenes biedere, pseudopolitische Konsenskino völlig zu ignorieren, das auf Festivals schon viel zu viele Erfolge feiert, und für das diesmal Emir Kusturica (LIFE IS A MIRACLE) und Walter Salles (MOTORCYCLE DIARIES) standen. Dann lieber ein solches Pamphlet auszeichnen, als die Gesinnung des sozialdemokratischen Salons zu belohnen.

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Was wohl passiert wäre, wenn Wong Kar-wais Film früher gelaufen wäre im Wettbewerb von Cannes? Man nahm es Wong Kar-wai übel, dass der Film sehr spät fertig wurde. Manche vermuteten Eitelkeit, andere, er wollen den Hype künstlich anheizen, es besonders spannend machen. Alles Unsinn.

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Keine Frage: 2046 braucht Zeit, um im Kopf weiterzuarbeiten, er war, ganz offensichtlich, zu kompliziert, um auf Anhieb alle Herzen zu gewinnen - er wird trotzdem Bestand haben, und das meiste, was es in Cannes sonst zu sehen gab, überdauern.

Wer bis Sonntag blieb, konnte das am eigenen Leib überprüfen. Noch einmal gab es da 2046 zu sehen, als Nachspielvorstellung. Viele waren sogar zum zweiten Mal ins Kino gekommen, man war sich bewusst, dass der Film in dieser Form nie wieder zu sehen sein dürfte - oder vielleicht in einigen Jahren als "Cannes Cut" auf DVD. Schon vor dem Festival war zu hören gewesen, Wong Kar-wai wolle an dem Film noch mindestens zwei Monate weiterschneiden. Der Starttermin ist, jedenfalls in Deutschland für Januar 2005 vorgesehen. Nur eine Goldene Palme hätte dies vielleicht beschleunigen können. Dabei ist der gezeigte Film ganz wunderbar, das bestätigte die zweite Sichtung. Wenn man weiß, was auf einen zukommt, die falschen Erwartungen zerstoben sind, und man sich gelassen auf den Film, so wie er ist, einlassen kann, dann wirkt er noch mehr und, vor allem: emotionaler. Ganz klar erscheint auf einmal, was beim ersten Mal kompliziert schien. Umgekehrt erscheint die Struktur verschlungener. Dass Anfang und Ende zusammenfallen, dass die Sätze des Off-Erzählers sich wiederholen, hatte man beim ersten Mal nicht bemerkt. So ähnelt der Film strukturell einem Möbiusband, was auch ein neues Licht auf die zentrale Liebesgeschichte im Zentrum wirft: Ob diese nun wirklich 'real' ist, und nicht vielleicht selbst nur eine weitere Story, die der Schriftsteller Chow erfindet, ist nun nicht mehr so klar. Er ist ein Mann, der in jeder Zukunft nur seiner Vergangenheit begegnet, in jeder Frau nur die eine wiedererkennt, die ihn einst verließ.

METROPOLIS ohne Expressionismus, BLADE RUNNER ohne Punk hatten wir vor vier Tagen hier geschrieben. Nicht falsch, aber oberflächlich, gültig nur für einen Teil der Bilder und fast gar nicht für die Geschichte. Strukturell erscheint das alles nun eher als eine Wong-Kar-wai-Version von Hitchcocks VERTIGO und Lynchs MULLHOLLAND DRIVE.

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Preise sind im Prinzip wirklich nicht wichtig. Dafür muss man nicht einmal daran erinnern, welche Filme in Cannes alle nicht gewonnen haben, daran, dass Antonioni und Godard hier ausgebuht wurden, und alle möglichen noch. Trotzdem: wer elf Tage Filme guckt, hätte dann schon gern, dass eine Entscheidung gefunden wird, die irgendeinen künstlerischen Sinn ergibt.

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Man sollte meinen, dass zumindest professionelle Kritiker genug Sensibilität besitzen, um zu erkennen, was Wong Kar-wai da gelungen ist. Aber nein - oberflächliche Eindrücke wurden auch in diesem Fall zu unumstößlichen Einsichten; und manche Kritiker waren dem Film auch einfach nicht gewachsen. Das gilt zumindest für jene, die plötzlich Wong vorwerfen, sich selbst zu parodieren, und den allergrößten Selbstparodisten, Kusturica für authentisch halten. Oder seine Brüder im Geiste, die Salonauthentiker Salles und Gatlif. Und OLD BOY gilt den gleichen dann als ein böser, bestenfalls belangloser Film. Oder besser noch: Als "Genre", ein Lieblingsschimpfwort der alten Zuschauer-Garde, die am gleichen Ort schon Anfang der 90er auch Lynch und Greenaway nicht verstanden hat.

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Richtiges Genre und großes Kino war, ich habe das schon geschrieben, Zhang Yimous HOUSE OF FLYING DAGGERS. Ein Bekannter erzählte, er habe in der Vorstellung schräg hinter Tarantino gesessen, und Tarantino habe dauernd vor Begeisterung im Kino hin und her gehüpft. Was Tarantino in FAHRENHEIT 9/11 gemacht hat, wissen wir leider nicht.

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Lust, Peter-Sellers-Filme zu sehen, bekam man im letzten Wettbewerbsfilm, THE LIFE AND DEATH OF PETER SELLERS von Stephen Hopkins. Die Filmbiographie des großen britischen Komikers und ein ausgezeichneter Film. Herrlich entspannt, schnell und gutgelaunt, eigentlich der perfekte Abschlussfilm, aber dafür eben zu geistreich. Für den schillernden Auftritt in der Titelrolle hätte Geoffrey Rush locker eine Goldene Palme verdient. Ein böser, liebenswerter, unangenehmer, faszinierender Mensch. Als der wahre Dämon entpuppt sich die Mutter...

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Viele Filme in Cannes waren diesmal originelle, aber gleichwohl pädagogische Lektionen, ebenso viele waren Horrorfilme. Einer der besten lief im "Certain Regard", HOTEL von der Österreicherin Jessica Haussner. Ein rätselhafter Film, der außer durch seinen Witz gerade durch seine Offenheit besticht, dadurch, dass er Leerstellen und Offenheiten hinterlässt, die im Betrachter nachwirken. Weitab vom Lärm der Großstadt liegt das "Hotel Waldhaus". Iréne, die neue Empfangsdame in dem noblen Berghotel, begreift allmählich, daß ihre Vorgängerin kürzlich unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Die Polizei ermittelt ohne greifbare Ergebnisse, manche erzählen ihr von einer alten Legende: 1591 wurde hier eine Frau als Hexe verbrannt... Als Iréne Näheres herauszufinden versucht, stößt sie bei den übrigen Hotelangestellten zunächst auf Gleichgültigkeit und dann zunehmend auf Feindseligkeit. Iréne spürt, daß etwas Ungreifbares sie bedroht. Wo sind ihre Beobachtungen real, wo beginnt ihr ihre Einbildungskraft einen Streich zu spielen? Stilistisch sehr genau und streng gezeichnet, lässt HOTEL Erinnerungen an Kubricks SHINING und Lynchs LOST HIGHWAY wach werden, ein ebenso ausgeklügelter, dabei stiller Horrorfilm, der grelle Effekte nicht nötig hat. Mag manches auch schon von den genannten Vorbildern her vertraut sein, wirkt es doch ungebrochen. Dabei stammt HOTEL immer aus der Mitte unserer europäischen Wirklichkeit, verbindet diese Alltäglichkeit mit der geheimnisvollen Atmosphäre eines Grimmschen Märchens . Und "der Wald steht still und schweiget..."

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Über die Tage ist es immer wärmer geworden, man schwitzt noch Spätabends und auch drinnen ist es nicht viel kühler. Wem es nachts zum Schlafen zu früh ist, und wer keine Einladung für eine Party hat, der trifft sich im "Petit Majestic" einer Bar zwei Straßen hinter der Croisette. Genauer gesagt: davor. Denn drinnen herrschen Saunatemperaturen, die man nur zum Gang auf die Toilette auf sich nimmt. Draußen aber bilden sich Trauben von Menschen, bestimmt 200 um ca. 2 Uhr nachts, vorzugsweise aus England und Deutschland. Man trinkt Bier aus Belgien, 3 Euro für 0,3cl - für Cannes ein durchaus fairer Preis. Früher erzählt einer, der es wissen muss, hatten die Briten ihre "eigene" Stammkneipe, die machte aber zu, daher kam es zu dieser merkwürdigen Entente Cordiale. Früher, als der deutsche Film noch mehr gelitten war an der Croisette, tranken hier auch Herzog und Wenders, Fassbinder und Schlöndorff. Früher war alles besser, oder?

Heute trifft man keine Regisseure, nur seinesgleichen, Produzenten und misstrauische Festivalleiter, die nach dem neuesten Gerücht fahnden, sowie einen Herren vom Auswärtigen Amt, der meint, als deutscher Filmjournalist solle man doch ein wenig patriotisch sein. Und wenn man einen deutschen Film eher schlecht findet, "dann über die Dinge schreiben, die man daran gut findet." Aber das tun noch nicht einmal die Sportreporter - und wenn die nicht patriotisch sind, wer dann?

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Am letzten Abend ist klar, dass von Weingartners Auftritt, dem ersten Film aus Deutschland 11 Jahren Abwesenheit, auch nicht mehr geblieben ist, als von jedem anderen durchschnittlichen Wettbewerbsfilm. "Wie ein Hype entsteht..." schrieb Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung. Aber - es ist doch überhaupt kein Hype entstanden, es sei denn in den Köpfen einiger deutscher Filmkritiker, die sich aus unbekannten Gründen vor Begeisterung gar nicht mehr einbekommen haben. Warum wird immer davon geredet, der Film sei in Cannes besonders gut aufgenommen worden? Vielleicht muss man eine Sache nur lang genug behaupten, damit sie einer auch glaubt. Vielleicht war auch schon so lange kein deutscher Film mehr in Cannes, dass manchen einfach die Erfahrungswerte fehlen. Hier ist nämlich prinzipiell bei einer Premiere noch etwas mehr los als in Hof.

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Aber noch mal: Der Film hat keinen besonders interessiert, außer die Deutschen selber. Die französischen Kritiken waren schlecht, die anderen gleichgültig, die Amerikaner haben über den Film gleich gar nicht geschrieben. Außer Variety, vorher. Und dort nannten sie den Film den österreichischen Wettbewerbsbeitrag - weil der Regisseur Österreicher ist. Der Beifall war freundlich, ja, eine Viertelstunde - ich habe nicht mitgestoppt. Aber klar, dass es für manche schwere Kost weniger Beifall gibt als für einen flockig-leichten, etwas dünnen Film, der Humor hat und keinen stört. Und auch für den Hongkong-Film BREAKING NEWS gab es bestimmt zehn Minuten Applaus - um halb drei Uhr nachts.

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Das Gegenargument: Man muss sich doch mal freuen. Aber warum eigentlich? Warum muss ich, nur weil ich in München wohne, zum FC Bayern halten?

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Letzter Abend, letzter Gang nach Hause, eine erfreuliche Überraschung. Auf dem Gehweg kommt einem Park Chun-wook entgegen, der koreanische Regisseur von OLD BOY. Der hat mal Philosophie studiert, und man würde jetzt gern mit ihm darüber plaudern, warum ihn Rache so fasziniert, und was das mit seinem Lieblingsschriftsteller Stendhal zu tun hat. Aber Park hat drei Frauen im Schlepptau. Wer das wohl sein mag? Mutter, Schwester, Gattin? Oder drei Produzentinnen? Pressefrauen? Edelnutten? Vielleicht seine Bodyguards. Jedenfalls angenehmer, als die von Michael Moore. In Cannes ist alles möglich. Außer dass wir beide jetzt wirklich plaudern. Also sage ich Hallo!, "Congratulations", er lächelt nett und überlegt, ob er mich kennen muss. Immerhin ein guter Abschluß. Wir sind, wie schon bemerkt, gern patriotisch. Aber fürs Kino.

Rüdiger Suchsland

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