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Berlinale 2004 12.02.2004
 
 

Ein kleines Berlinale-ABC
(1. & 2. Lieferung - letztere mit * gekennzeichnet)

Julie Delpy und Ethan Hawke
 
 
 
 

THE ADVENTURES OF IRON PUSSY *
(HUA JAI TOR RA NONG, Thailand 2003
Regie: Apichatpong Weerasethakul, Michael Shaowanasai)

Ich habe es geahnt, bei dem Titel: Oweh, das wird geplanter Trash! Und guten Trash kann man nunmal einfach nicht planen.
Rein bin ich dann trotzdem, weil einen Film mit so einem Titel kann man auch schlecht auslassen...
Und es war geplanter Trash der schlimmsten Sorte: Solcher, der glaubt, die bloße Behauptung parodistischer Absicht mache schon die Parodie - der dann aber nach einer Viertelstunde weitgehend auf's Pointensetzen vergisst und nur ein besonders uninspiriertes Durchnudeln bietet des allerüblichsten Plot-Skeletts und Nummern-Repertoires des auf's Korn genommenen Genres.
Für eine vorgebliche Komödie mit Musical-Allüren besonders verheerend: Für Timing und Rhythmus - die Basis jeder Komik und Musik - fehlte jeder Ansatz von Gefühl. Und Co-Regiesseur Michael Shaowanasai zeigte sich völlig charismafrei als Titel-Transe.
Damit's aber dann richtig weh tut, war alles auch noch auf niedrigst-auflösendem Video gedreht, das auf der großen Leinwand die Pixeligkeit eines schlechten Internet-Videostreams entfaltete. (Und weil Hauptregisseur Apichatpong Weerasethakul sonst Filmkunst mit großem "K" bei der Kunst macht, war das wahrscheinlich ein bewusstes Einklinken in die ästhetischen Traditionen authentischer thailändischer Direct-to-Video-Exploitationfilme, yuppeih und blah bluh blup... Aber davon wurde es genauso wenig ansehlicher, wie meine Scheiße rosiger duften wird, wenn ich morgen früh mein Häuflein als Hommage an den Wiener Aktionismus, oder so, kacken werde.)
Zum Glück kann man in Filme mit solchen Titel nicht nur reingehen, sondern auch vorzeitig wieder raus, und das habe ich dann nach einer Stunde auch getan.


BEFORE SUNSET
(USA 2003, Regie: Richard Linklater)

Wenn Sie den Eintrag zu MONSTER schon gelesen haben, werden Sie jetzt denken: Dem hat er vorgeworfen, ein Hörspiel mit Bilduntermalung zu sein. Was wird er jetzt hier erst sagen!? Ich sage: Einer der Höhepunkte des Wettbewerbs.
Pardauz, wie das nun? Wo hier doch erst recht nichts anderes zu erleben ist als zwei Menschen, die 80 Minuten miteinander reden, während sie durch Paris ziehen?
Nun: Es ist ein Film genau über zwei Menschen, die 80 Minuten redende durch Paris spazieren, und das ist er konsequent und ohne irgendwelche anderen Allüren. (Wohingegen MONSTER ein Film über das komplette Leben einer Serienmörderin sein will, und man da dann doch gerne mal was gezeigt bekommen würde anstatt immer nur gesagt...)
Eigentlich ist das Ganze sogar mehr ein Monolog - man bekommt des öfteren das Gefühl, dass hier schlicht Richard Linklater den neuesten Stand seiner Gedanken zum Leben, der Liebe und der Welt nieder- und ihn nur der Dramaturgie willen zwei Charakteren in den Mund gelegt hat. Die Figuren (gespielt von Ethan Hawke und Julie Delpy) scheinen ihn nicht auf einer tieferen Ebene interessiert zu haben.
Aber all das ist okay, weil es auf sehr ehrliche Weise von ziemlich wichtigen Dingen redet - hauptsächlich von der Verabschiedung all der romantischen Ideale, die BEFORE SUNRISE noch als echte Möglichkeit dachte. Der Film bringt so ziemlich alles aufs Tablett, was einen als Anfang- bis Mitt-Dreißiger so beschäftigt. (Und hat damit nicht zuletzt den schmerzhaften Vorzug, einem vor Augen zu führen, wie sehr generationsverhaftet, wie schrecklich unoriginell man in seinen Seelennöten und seinen Ansichten doch ist).
Zweifelsohne hätte man das auch in einem Essay machen können, aber da ist es dann eben doch viel schöner und unterhaltsamer, es von Hawke und Delpy vorgesprochen zu bekommen, zumal ja doch auch einiger Witz mit ins Spiel kommt und BEFORE SUNSET die Dialoge nur ganz selten in reines Dozieren abgleiten lässt.
Und in welchem Essay würde man schon am Ende Julie Delpy einen Walzer auf der Gitarre spielen und dazu singen hören?


CANTANDO DIETRO I PARAVENTI
(I 2003, Regie: Ermanno Olmi)

(siehe auch Spencer, Bud)
Man muss einen Film einfach bewundern, dem es gelingt, mediale Selbstreflexivität, poetischen Lyrizismus, Chinaoper, Piratenfilm, Märchen, Bud Spencer und eine winzige Softporno-Prise unter einen Hut zu bekommen. Nicht auszudenken, was da unter Verzicht auf mediale Selbstreflexivität und poetischen Lyrizismus noch alles drin gewesen wäre...
Aber im Ernst: Auch wenn Bud Spencer - der sich schon rein physiognomisch hervorragend eignet für die Rolle eines Seefahrer-Kapitäns (und zwar hier eines Admirals der Flotte von Andorra, ha ha...) - in diesem Film kein einziges Mal zuhauen darf, so ist es trotzdem einer der schöneren Streifen, in denen er auftreten durfte. Ermanno Olmi trifft tatsächlich einen sinnlich-fabelartigen Ton, schafft eine stimmige Kunstwelt, die sehr schnell all die anfängliche intellektuelle Befrachtung und Brechung vergessen lässt. Das Ding ist schlicht und einfach gesagt schön - weil es seine märchenhaften Elemente in einem Erzählrhythmus vereint, der einem auf einer angenehmen Woge mitträgt, er Mut zur Fülle hat, ohne in die Opulenz abzurutschen.
(Was jetzt aber nicht heißen soll, dass VIER FÄUSTE FüR EIN HALLELUJAH nicht ein deutlich wichtigerer Film wäre als dieser...)


COUNTRY OF MY SKULL *
(GB 2003, Regie: John Boorman)

Ein äußerst frustrierender Film. Schon gleich mal, weil er von John Boorman ist, von dem man doch nun wirklich Gelungeneres gewohnt ist (DELIVERANCE hat er gemacht, POINT BLANK und EXCALIBUR, oder den durchgeknallten ZARDOZ - und bevor jetzt jemand sagt: Gut, aber das ist alles lange her, der Mann zeigt Altersschwäche, erinnern wir an den wundervollen THE TAILOR OF PANAMA vor erst zwei Jahren).
Und nun also das hier, wo noch während des Laufschrift-Vorgeplänkels schon alle inneren Alarmglocken losklingeln und man bereits da ahnt, dass das alles furchtbar schief gehen wird: Es wird kurz erklärt, wer, wie, wo, was, wann, warum die "Truth and Reconciliation"-Anhörungen nach Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika waren, um die es in diesem Film geht, und dann heißt es über die Zeugenaussagen - "Some of their testimony has been faithfully reenacted in this film" (oder "recreated", da bin ich nicht mehr ganz sicher, aber es kommt so oder so auf's selbe drauf raus). Und da weiß man schon: "Öha, das ist einer DIESER Filme. Die glauben, man könne mit der Ästhetik des Mainstream-Erzählkinos daherkommen, irgendwas nachspielen - 'faithfully' ! - und wäre dann dran an irgendeiner Wahrheit."
Was natürlich gründlich schiefgehen MUSS, weil das einzige, was dabei rauskommen kann, stets nur die Bedienung gewisser Emotions-Mechanismen ist, und sonst nix. (Schon, und das ist nur ein Punkt unter unzähligen, weil diese Ästhetik nicht dazu gemacht ist, Gesellschaftliches und Politisches allgemein und komplex darzustellen - sie kann darüber höchstens jemand dozieren lassen, und das auch nur kurz - sondern sich prinzipiell immer am Individuellen aufhängen muss.) Und tatsächlich wird COUNTRY OF MY SKULL dann stellenweise derart schamlos zu Mitleids-Pornographie der übelsten Sorte - wenn er die Kamera beispielsweise gleich beim Auftritt der ersten Zeugin dieser beim Zusammenbruch am Ende ihrer Aussage geradezu ins tränenüberströmte Gesicht rammt, damit wir auch ja schön nah an ihrem Leiden dran sind - dass man ihn sauber durchwatschen möchte.
Freilich ist dann auch alles viel zu einfach - gerade auch da, wo uns der Film sagen möchte, dass alles so einfach nicht ist - und von einer arg aufdringlichen Konstruiertheit. (Schwarzer amerikanischer Journalist (Samuel Jackson) trifft weiße südafrikanische Journalistin/Poetin (Juliette Binoche) bei den Anhörungen - alles Vorhersehbare folgt...) Die aber schon wieder ihren Reiz hat, weil sie in gewisser (und garantiert unbewusster) Weise genau die totale Konstruiertheit des Systems der strikten Rassentrennung widerspiegelt.
Das alles würde den Film erstmal nur ärgerlich machen - so wahnsinnig frustierend wird er dadurch, dass er sich dann doch nicht so simpel verdammen und vom Tisch wischen läßt. Nicht nur, weil seine Absichten ja so offensichtlich gut sind (das wäre kein Hindernis - das Gegenteil von "gut" ist bekanntlich "gut gemeint"). Sondern weil Boorman und seine Schauspieler eben doch keine kompletten Stümper sind, und es zwischendurch immer wieder Momente von Größe gibt; weil der Film sich derart viel auflädt (Rassismus im allgemeinen und speziellen, in Südafrika und USA, Wurzelsuche, zwei Familiengeschichten, ein bis drei Love-Storys, das banale Gesicht des Bösen, die Macht der Vergebung (siehe auch Trends), die Wichtigkeit des Erzählens - und das bei nur 100 Minuten Laufzeit!), dass er es nicht mehr alles unter Kontrolle halten kann. Und da wird es dann wieder spannend, denn totale Kontrolle ist ja eben das Ziel klassischer Erzählkino-Ästhetik - und wo die wegbröckelt, schleicht sich durch die Ritzen manchmal doch noch Leben und Wahrheit ein.


D.E.B.S. *
(USA 2003, Regie: Angela Robinson)

In deutlich abgemilderter Form gilt hier so ziemlich alles, was auch zu THE ADVENTURES OF IRON PUSSY zu sagen war: Eine Parodie, die nach 20 Minuten das Parodieren weitgehend vergisst. (Hier um eine Highschoolmädchen-Superagenten-Truppe in Ausbildung, deren eines Mitglied ihre Liebe zum eigenen Geschlecht ausgerechnet bei der von ihnen gejagten Superschurkin entdeckt.) Auf Video gedreht - hier zwar auf dem neuesten HiDef-Standard, aber Gesichter sehen auch damit nach wie vor arg flach und unnatürlich aus. Und es tut alles so flippig und independent, gebiert dann aber nach langem Kreißen ein zuckriges Plädoyer für die Liebe, dessen sich manch vermeintlicher Hollywood-Mainstream schämen tät. Merke: Auch lesbischer naiver Beziehungs-Quack ist erstmal naiver Beziehungs-Quack.
Wenigstens hat's im Vergleich zu IRON PUSSY merklich mehr Sinn für Timing - und einer über alle Maßen schnuckligen Bösewichtin...


FAN CHAN *
(Thailand 2003, Regie: Komgrit Threewimol, Songyos Sugamakanan, Nithiwat Tharatorn, Vijja Kojew, Vithaya Thongyuyong, Adisorn Tresirikasem)

Da geht man, es ist der erste Tag des Festivals, in so eine thailändische Kinder-und-Liebes-Komödie von einem sechsköpfigen Regiekollektiv, freut sich, mal auch aus so einem Land - das, wie alle nicht-westlichen Länder, bei westlichen Festivals und Kinogängern, sonst gefälligst für engagierte Sozialdramen und/oder Kunstfilm mit "ganz eigener" Ästhetik (also tendenziell Hochniveau-Folklore für Kino-Bildungsbürger) zuständig zu sein hat - freut sich also, aus solch einem Land mal was eher Ungewohntes zu sehen: Nämlich totalen Mainstream, ganz nach hiesigem Zuschnitt. Absolut das Äquivalent zu all den '80er-Jahre-Nostalgie-Streifen, die auch hierzulande jüngst so reüssierten - mit dem interessanten Nebeneffekt, dass man in diesem Fall aber nur per Indizienbeweis darauf schließen kann, was denn nun von Dekor, Kostümen, Frisuren, Musik bei einem Thailänder den entsprechenden wohlig-belustigten Nostalgie-Flash auslösen dürfte.
Man ergötzt sich also an all den Kleinigkeiten, die man hier möglicherweise über Thailand erfahren kann (ohne je ganz sicher zu sein, was Karrikatur ist und was mit Authentizitäts-Anspruch nachgestelltes Flair) - z.B. was in Thailand in den Charts war, als unsereins Nena hörte.
Man hat Spass an den supermunteren Kinderdarstellern, lächelt über die netten Gags, ist entzückt über eine sehr gelungene kleine, parodistische Martial Arts-Film-Einlage (mit eben jenen munteren Kindern als Krieger und Kampfmönche). Und denkt sich aber nichts weiter dabei, weil: Die großen filmischen Ereignisse kommen ja alle noch. Meint man. Und dann bleibt's, was aktuelle Produktionen angeht (klar, in der Retro reihte sich nur so ein Meisterwerk ans andere), einer der Höhepunkte des Festivals. Tja, so kann's gehen...


FINAL CUT *
(USA 2003, Regie: Omar Naïr)

Film ist ausgelagertes Gedächtnis. Erst der Schnitt, das Weglassen, macht die Geschichte. Subjektive Erinnerung und objektive Vergangenheit sind sehr unterschiedliche Dinge. Ja, ja...
Autor/Regisseur Omar Naïr hat zweifelsohne brav alle einschlägige Theorie gelesen zu diesen und dergleichen Dingen, und er schaut bestimmt auch viel schöne europäische Filmkunst. Sonst würden die Schneideplätze in seinem Film nicht "Guillotine" heißen und wichtige Treffen in Vorhallen von Film-Festivals über "Russische Situationisten" - falls ich hier falsch erinnere (aha! - siehe oben!), war es zumindest etwas Ähnliches... - stattfinden.
FINAL CUT ist Science Fiction à la Tarkowskij - die "Zukunft" dient dazu, einen artifiziellen Raum schaffen zu können, in dem gewisse mehr oder minder abstrakte Themen ideal durchgeführt werden können: Menschen können ein Chip-Implantat bekommen, das ihr komplettes Leben aus der Subjektiven "mitfilmt", und nach ihrem Tod wird daraus von Cuttern wie dem von Robin Williams gespielten Protagonisten ein offizieller, selbstverständlich schönfärberischer Erinnerungs-Clip für die Hinterbliebenen gebastelt.
Nur hat FINAL CUT das Problem, dass unübersehbar seine Überzeugung von der eigenen mächtigen Bedeutsamkeit schon lang vor jeder tatsächlichen Bedeutung da war: FINAL CUT trägt damit schwanger wie eine Walkuh im letzten Monat; Rhythmus, Duktus, Farben - alles schreit nur so hinaus die Behauptung vom großen, vom großen, vom übergroßen Gewicht dieses Werks. Das darunter prompt zusammenknickt, bevor es überhaupt einen vernünftigen Schritt nach vorne getan hätte.
Wo bei Tarkowskij der schwersinnig Gestus nur die Haut auf dem tatsächlich gehaltvollen Pudding ist, ist Naïr ein Soufflée-Bäcker, der unter der Kruste der Prätention nicht viel mehr bietet als heiße Luft: Wie meistens, wenn ein Künstler vorher schon genau bis ins Detial zu wissen scheint, was er mit einem Werk der Welt alles Hochwichtiges mitzuteilen habe, bekommt das Material keine Chance mehr, selbst eine Dichte und eigene Aussagekraft zu entwickeln - und die drei, vier geplanten "Aussagen" sind dann zu wenig tragfähig und komplex. Zumal sie, ohnehin schon von solch rührendem Kleinkaliber wie "Auch die vermeintlich objektive Erinnerung des Films ist manipulierbar", in FINAL CUT an einer naiven Trauma-Bewältigungs-Story aufgehängt ist, die jedem Heftchenroman zur Ehre gereichte.
Und zur Krönung: Robin Williams hatte schon immer den Hang zur Masche. Erst war er der exzessiv Pointen versprühende Hyper-Kasperl, dann bewies er vermeintlich Oscar-würdiges Schauspieltalent dadurch, dass er in jedem Film einmal bitterlich, aber versöhnlich weinte, und jetzt gibt er offenbar bevorzugt murmelnd den Verdrucksten mit geheimer Seelenpein. Gute Regisseure konnten jedem dieser Modi etwas abgewinnen, wenn sie sie nicht zum abgespulten Selbstzweck werden ließen. Aber wo Mark Romano die neueste Stil-Inkarnation Williams' in ONE HOUR PHOTO höchst fruchtbar nutzt, findet man bei Naïr auch hier nur Fassade ohne viel Substanz dahinter.


Fonda, Peter *

Vergesst Ozzy Osbourne: Man kann offenbar ziemlich lange ziemlich viel mitnehmen von dem, was sich so an sex & drugs & rock'n'roll bietet und dann im Alter erst recht fit und gut drauf sein.
Peter Fonda ist gekommen, in der Retro sein Regiedebut THE HIRED HAND von 1971 zu präsentieren, und er redet, als könnte das Reden morgen verboten werden, läßt fröhlich einen Anekdotenfluss losrauschen (noch heute scheint er einfach nicht und nicht darüber hinwegzukommen, dass sein Kameramann Vilmos Zsigmond - den er von Laszlo Kovacs als dessen "Mentor" empfohlen bekommen hatte und folglich für einen erfahrenen Meister hielt - sich während der Dreharbeiten ebenfalls als Debutant herausstellte; Fonda erzählt das ungefähr fünfmal in 15 Minuten, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Varianten), er lacht selbst am schnellsten und meisten über seine Witze - und sagt allen Ernstes als wohl einer der letzten Menschen auf diesem Planeten noch heute "far out!", als wären die '70er nie zu Ende gegangen. Und so, wie er aussieht, und wie er sich gibt, hat er es wohl wirklich geschafft, sie in einer unsichtbaren Glasglocke um sich herum bis ins hier und heute zu retten.


HARD LUCK HERO *
(JAP 2003, Regie: Sabu)

Sabu hat ja eigentlich die Angewohnheit, jeden seiner Filme (z.B. MONDAY, THE BLESSING BELL) als Meisterwerk zu titulieren - und das unverschämterweise gewöhnlich völlig zu Recht. HARD LUCK HERO aber reiht sich in die Berlinale-2004-Liste ein der mehr oder minder amüsanten Nebenwerke großer asiatischer Regie-Helden. (Siehe auch RUNNING ON KARMA und ONE MISSED CALL.)
Sechs Männer, nach einem Boxkampf, der nicht so ausging wie insgeheim ausgemacht, verwickelt in diverse sich kreuzende und schneidende Verfolgungsjagden, und das in unter 80 Minuten - das klingt nach jeder Menge Tempo. Genau das aber hat der Film kaum, und auch der ruhige Rhythmus, den er fährt (was ja an sich legitim wäre), holpert doch stellenweise recht, was man von Sabu überhaupt nicht gewohnt ist.
Erklärt sich aber schnell: Die sechs Männer sind im wahren Leben die Mitglieder einer japanischen Band, die Sabu ursprünglich gebeten hatte, bei einem Videoclip Regie zu führen. Sowas macht er aber nicht, und deshalb einigte man sich auf diesen semilangen Film, der in Nippon auch nur auf DVD erscheint, mit den Fans der Band als Haupt-Zielgruppe.
Und dafür ist HARD LUCK HERO dann doch wieder ziemlich cool gelungen, und das wunderbare Ende, das (fast) jedem der sechs seinen persönlichen Traum wahr werden läßt, ist allemal Sabus gewohnten, hohen Standards würdig.


INFERNAL AFFAIRS II *
(WU JIAN DAO II, HK 2003, Regie: Andrew Lau, Alan Mak)

Andrew Lau taugt wenig für dogmatische Vertreter der Auteur-Theorie. Die meiste Zeit filmt er - ungeheuer fleißig, wie sich das in Hong Kong gehört - munter und routiniert vor sich hin, liefert kompetente, meist durchaus charmante Standard-Ware in allen sich bietenden Genres. Und drängt sich aber nicht gerade auf als Stoff für Retrospektiven und Monografien.
Nur ab und zu - wie um zu beweisen, dass er das schon kann, wenn er will - haut er dann wieder ein Teil raus wie STORMRIDERS oder eben INFERNAL AFFAIRS II (hier unterstützt von Alan Mak), wo einem die Augen schlackern. Nun war ja INFERNAL AFFAIRS, der erste, auch schon nicht von schlechten Eltern, aber eben doch nicht so spektakulär, wie er bei seiner Schauspieler-Spitzenpaarung Andy Lau und Tony Leung hätte erwarten lassen.
Die Fortsetzung - die ein Prequel ist - hat da gleich die Nase vorn, denn ihre Stars sind Anthony Wong, Eric Tsang (im ersten Teil schon in Nebenrollen zu sehen) und Francis Ng. Also weniger die Superstar-Fraktion als die crème de la crème des Charakterfachs - und ich muss gestehen: Da fahr ich sowieso viel mehr drauf ab. Anthony Wong entwickelt sich immer mehr zum Al Pacino Hong Kongs, und spätestens seit METADE FUMACA gehört Eric Tsang in die Welt-Top-Ten-Schauspielerlsite eines jeden vernünftigen Menschen.
Dann aber ist INFERNAL AFFAIRS II ein Gangsterepos, das den im Berlinale-Vorfeld gern gezogenen Vergleich zu THE GODFATHER nicht nur tatsächlich offensichtlich bewusst sucht, sondern ihn auf seine eigene Weise auch keineswegs zu scheuen braucht. Es ist ein bisserl schwer, in Worte zu fassen, was diesen Film so großartig macht - vielleicht sogar zum besten (außerhalb der Retro) des gesamten Festivals - denn freilich hat das schon auch was mit handfest zu beschreibenden inhaltlichen Sachen zu tun, mit seiner komplex gewobenen Geschichte und all dem tragischen Verrat in ihr. Aber was ihn letztlich wirklich so in den Olymp hebt, das ist die unglaubliche Eleganz, mit der er das alles serviert, ist die wie selbstverständlich fließende, süffige Kunstfertigkeit, mit der er auch die vertracktesten Knoten schürzt und löst. Da liegt vielleicht auch, viel mehr noch als im Inhaltlichen, die recht eigentliche Parallelle zu Coppolas GODFATHER: Dass die Inszenierung eine atemberaubende Stimmigkeit und Genauigkeit in jeder Szene erreicht, Kamera und Schnitt stets genau wissen, wie sie den Kern der Angelegenheit freilegen können, ohne dass sich dies je aufgesetzt oder angestrengt in den Vordergrund drängelte. Und da hat womöglich grade ein Teilzeit-Genie wie Andrew Lau am ehesten das Rüstzeug dazu, sich mit den Großmeistern zu messen, weil sein enormes Pensum an Filmemacher-Arbeit eine Selbstverständlichkeit des Handwerks mit sich bringt, einen zwanglos abrufbaren Erfahrungsschatz, ein filmerisches Repertoire, das ohne großes Aufhebens zur Verfügung steht und die Konzentration auf das Besondere zulässt.
INFERNAL AFFAIRS II wirkt dann auch (das klingt jetzt erstmal absurd, aber ich werde gleich versuchen, es klarer zu machen), mit seinem epischen Ansatz bei nur rund 120 Minuten Dauer, wie ein 3-Stunden-Film, der wie zwei Stunden wirkt. Will sagen: Die Fülle, der Atem sind die eines viel umfangreicheren Werks, die Kurzweiligkeit hingegen ist die eines deutlich knapperen.
Genau die unangestrengte Eleganz schien mir dann bei INFERNAL AFFAIRS III zu fehlen - aber das war ziemlich sicher viel mehr meine Schuld als die des Films. Denn der - das ist sein gutes Recht als direkte Fortsetzung - setzt einfach voraus, dass man den ersten INFERNAL AFFAIRS noch gut im Gedächtnis hat. Und nun bin ich ja schon froh, wenn ich Plots - da sie das sind, was mich an Filmen wie Büchern nun wirklich am ALLERwenigsten interessiert - wenigstens so weit präsent habe, wie es WÄHREND des Anschauen eines Films zu dessen Verständnis notwendig ist. Danach habe ich sie meist, bis auf's Rudimentärste, binnen Stundenfrist aus dem Gedächtnis getilgt - zumal, wenn sie so verschachtelt sind wie die doppelte Doppelagenten-Nummer von INFERNAL AFFAIRS. Und nun sitze ich freilich, ein JAHR, nachdem ich INFERNAL AFFAIRS gesehen habe, in INFERNAL AFFAIRS III, bringe im Gedächtnis alles, was ich vom ersten Teil noch zu wissen glaubte, heillos durcheinander, und finde (immerhin bei weitem nicht als Einziger) alles, was dort auf der Leinwand passiert, furchtbar verwirrend und eben von einer sehr angestrengten, anstrengenden Komplexität.
Ich plädiere deshalb auf Triple Feature - und gelobe, dann mein Bestes zu geben, um den Plot des ersten INFERNAL AFFAIRS ausnahmsweise wenigstens all die Stunden bis zum Ende des dritten Teils im Gedächtnis zu behalten.


Keaton, Diane *

Es ziehen sich offenbar doch nicht die Gegensätze an, sondern gleich und gleich gesellt sich gern. Denn die Vorstellung, die Diane Keaton bei der Pressekonferenz zu SOMETHING'S GOTTA GIVE abliefert, ist an Neurosenhaftigkeit absolut eines Woody Allen würdig - nur weniger lustig und selbstironisch. Keaton hat zum roten Kleid und den roten Lederhandschuhen auch gleich ein Glas farblich passenden Weins mit auf's Podium gebracht, und nach einer Weile drängt sich einem die beängstigende Vorstellung auf, dass die beständigen Nipper an diesem Glas möglicherweise ihr sehr eigenartiges Verhalten gar nicht befördern, sondern es wenigstens ein bisschen dämpfen.
Keaton geht von Anfang an ohne Anlass auf Konfrontation, scheint hinter jeder Frage, jeder unzulänglichen Wortwahl von des Englischen nicht restlos mächtigen internationalen Journalisten gleich böse Absicht zu vermuten, missversteht mehr, als nötig wäre.
Um dann am Ende tatsächlich noch ein Bein über die Schwelle zum veritablen Heulkrampf zu setzen. "I'm so tired," ruft sie entnervt, "and you are so many, and we up here are so few, and this is all so weird, and the questions are so weird". Und wenn da nicht Nicholson, Jack wäre, sie in den Arm zu nehmen und die potentiell todpeinliche Situation mit ein paar gekonnten, halbscherzenden Worten zu entschärfen, dann fehlte wohl wirklich nicht viel zu einem Nervenzusammenbruch auf offener Bühne, live, 3-D und in Farbe - vornehmlich weinrot.


Kim, Ki-Duk

Man möge Abstand davon nehmen, ihm irgendeinen Preis zu verleihen, bittet der koreanische Regisseur - einer unserer persönlichen Favoriten - auf der Pressekonferenz zu seinem mehr als preiswürdigen Wettbewerbsbeitrag SAMARIA. Er habe noch bei keinem internationalen Wettbewerb einen Preis gewonnen, und sein Ziel sei, dass das auch so bleibe. Weil mit Preisen Filme ausgezeichnet würden, die irgendeinem Standard gehorchen. Und er gerne weiterhin ganz unstandardisierte Filme machen will.
Recht hat er, der Mann. Und es ist zu befürchten/hoffen, dass sein Wunsch dieses Jahr mal wieder in Erfüllung gehen wird, auch wenn man bis dato (Stand Dienstag abends) im Wettbewerb nichts annähernd Ebebenbürtiges gesehen hat zu SAMARIA. Er muss nur - nachdem er jetzt schon zum dritten Mal im Berlinale-Wettbewerb vertreten ist - aufpassen, dass er nicht den Award-Standard "Regisseur, der schon oft hier war und eigentlich mal einen Preis verdient hätte" erfüllt.


THE MACHINIST *
(Spanien 2003, Regie: Brad Anderson)

Tschuldigung, aber: Es reicht! Ich kann sie nicht mehr sehen, diese Filme, die ziemlich sicher nur aufgrund des Erfolges von THE SIXTH SENSE und MEMENTO grünes Licht für die Produktion bekommen haben. Diese Puzzlespiele um ein großes Geheimnis, dass der Protagonist mit sich trägt. Diese ach so cleveren Konstruktions-Spielchen, die unlängst einen Höhe-(respektive Tief-)punkt fanden in IDENTITY.
Jetzt ist THE MACHINIST unter dieser Art von Filmen gewiss noch einer der löblichsten Vertreter. Anders als bei den meisten von ihnen, verpufft mit der Auflösung am Ende nicht der Rest des Films zum belanglosen Ratespiel. (Und verpufft umgekehrt nicht die "Überraschung" am Ende zu einem Nichts, wenn man sie vorzeitig ahnt.)
Einerseits, weil THE MACHINIST einem am Ende nicht die Wegerklärung jedes vorangegangen Details so um die Ohren haut, dass kein Raum mehr für eigene Entdeckungen bleibt. Der Film ist cleverer als die meisten anderen seiner Gattungsgenossen, gerade weil er weniger penetrant auf seiner Cleverness herumreitet: Da sind viele raffinierte Kleinigkeiten durch den ganzen Film verstreut, die ihre volle Bedeutung erst im Nachhinein entfalten, wenn man, das Wissen der Auflösung im Kopf, sie noch einmal im Gedächtnis Revue passieren läßt.
Andererseits hat THE MACHINIST über weite Strecken durchaus eine atmosphärische Dichte, ein Eigenleben der Bilder, die von Wohl und Wehen des Plots unabhängig bleiben.
Und dann ist da noch Hauptdarsteller Christian Bale, der sich für die Rolle tatsächlich so heruntergehungert hat, dass er an einen KZ-Insassen gemahnt. Das ist ein Spektakel der Physis, das alle kopfige Konstruktion in den Hintergrund drängt. Der Anblick von Bale als ausgemergeltem Haut-und-Knochen-Gerippe durchbricht die Ebene von blossem Spiel, brennt heraus aus seiner Einbettung in die Geschichte des Films. Das ist etwas ganz Eigenständiges - im Positiven wie im Negativen: Es hat eine Dimension, die den Rest des Films völlig übersteigt - aber es wird eben vom Film auch nicht auf einer tieferen Ebene genutzt, es bleibt für ihn letztlich nur ein Gimmick.
Es ist zu schade, dass Bale sich dieser Tortur unterzogen hat, ohne dass THE MACHINIST es ihm adäquat entlohnen würde.


McDormand, Frances

Glücksmomente: Da steht man so nichtsahnend am Ticket-Counter für Journalisten und studiert die Listen der bereits ausgebuchten Filme, um zu wissen, ob sich der Versuch überhaupt noch lohnt, sich um Karten zu bemühen für die Filme, die man am nächsten Tag sehen möchte, oder ob man sich nicht sowieso gleich dort mit seiner Akkreditierung anstellen muss, um auf freie Restplätze zu. Hinter der Theke ist eine arg auf gestresst tuende Dame grade dabei, ihre Siebensachen zu packen und sich in die Pause zu verabschieden. Und dann schwebt da plötzlich direkt neben mir so eine Frau ins, zeigt der Pausenvorbereitenden brav ihre Berlinale-ID-Karte am Halsbändel und meint: "Excuse me, I've got a bit of an emergency here. I'm a member of the jury and I need to find out where a screening's taking place." Ich stutze, gucke, und JAAAA! She's not only a member of the jury, she's the president, too: Es war die leibhaftige Frances McDormand! Die Dame hinter der Theke schaut gar nicht näher hin, tut nur noch mehr auf gestresst und meint: "I'm not even here. You have to ask in the office."
Und - soviel zum Thema Starallüren - die wunderbare Frances murrt nicht, sondern läßt sich original wegschicken, ins Pressebüro eine Tür weiter. Ich freilich dezent hinterher, nicht ohne der unanwesenden Ticketdame noch kurz zu sagen: "Das war übrigens Frances McDormand", was selbige Dame dann doch scheinbar etwas peinlich verdutzte, und erlebe gerade noch, wie McDormand, offenbar nun mit der nötigen Information versorgt, zu der Vorführung lossaust, zu der sie anscheinend schon etwas knapp dran ist - hinter sich zwei nette Menschen in der Berlinale Office zurücklassend, die gerade dabei sind, ebenso wie ich halb zusammenzubrechen vor Glück und Rührung. Weil man der großartigen Frances für ein paar Sekunden so nah sein durfte, und weil sie sich dann noch als einerseits so herrlich verplant erwies (sie ist zu spät dran, und sie weiß nicht, wo die Vorführung ist - ja, sie ist eine von UNS!) und anderseits als so nett und süß, und gar nicht überheblich im Umgang mit dem Fußvolk. Wie man halt immer insgeheim gehofft hat, dass sie in echt sein würde. Und da, meine Damen und Herren, zeigt sich eben wahre Größe.


MONSTER
(USA 2003, Regie: Patty Jenkins)

Hat sich unerklärlicherweise zum Favoriten einer breiten Kritiker-Front entwickelt, und mit Verlaub: ich kann es nicht nachvollziehen. Bis auf die letzten fünf Minuten hat mich Patty Jenkins' Debut sowas von kalt gelassen... Klar, Charlize Theron macht ihre Arbeit sehr gut, auch wenn man eben dauernd dahockt und denkt: "Wow, das ist Charlize Theron, die sich ein paar Kilo angefressen, dunkle Kontaktlinsen und ein leicht schiefes Gebiss eingesetzt und von Starfriseuren die Haare kunstvoll auf billig toupieren lassen hat!" und ich den finsteren Verdacht hege, dass der Film kaum jemanden interessiert hätte, wenn diese Rolle von einer ebenso talentierten Schauspielerin gegeben würde, die nur WIRKLICH so aussähe.
Das Problem ist das Handwerk der Regisseurin. "Film" ist geradezu ein Euphemismus für MONSTER - es ist ein Hörspiel mit Bilduntermalung; einer dieser Streifen, in denen alles gesagt und nichts gezeigt wird. In denen Voice-over und Dialoge alles haarklein aussprechen müssen, die Charaktere ihr Tun und ihre Motivation stets erschöpfend darlegen und nichts dem Eigentlichen des Mediums Film, nichts der Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums überlassen wird.
Auf einer gewissen Ebene ist es zwar durchaus spannend, dass Jenkins ästhetisch keinerlei Gefühl von "Andersheit" zu konstruieren versucht, wenn es um die Liebe zwischen zwei Frauen geht, von denen die eine Prostituierte und mehrfache Mörderin ist. Aber man hat nicht das Gefühl, dass dies eine bewusste Entscheidung war, sondern dass Jenkins' filmsprachliches Repertoire gar nichts anderes hergegeben hätte. Das ist Hollywood-Mainstream durch und durch (und nicht einmal sonderlich inspirierter).
Da sind all die visuellen und akustischen Zeichen da, mit denen die Standard-Erzählkino-Ästhetik beispielsweise bedeutet: "Liebe" oder "Angst", aber es bleibt eben bei dieser Oberfläche, hinter der die Wahrhaftigkeit dieser einen konkreten Liebe, eines konkreten Moments von Angst nie durchkommt.
Was doppelt schwer wiegt, wo es um einen authentischen Fall geht, den Nick Broomfield in zwei Dokumentarfilmen bereits viel packender, erschütternder und verstörender aufgearbeitet hat. (Und es ist seltsam, dass MONSTER überhaupt nicht eingeht insbesondere auf die erste von Broomfields Dokus, die sehr bitter über die Ausschlachtung des Geschichte von Aileen Wournos durch die Medien berichtet und in der es spezifisch auch um den Verdacht geht, dass die Polizei mit dafür gesorgt hat, den Fall möglichst spekatkulär werden zu lassen, damit die Hollywood-Rechte an der Story teurer werden konnten.)
Andererseits lässt der Film genauso die Chance verstreichen, sich - wenn er die Besonderheit dieses einen speziellen Falls schon nicht zu packen kriegt - stattdessen mit den etablierten Mythen und Regeln des Serienkiller-Genres auseinanderzusetzen. Was sich geändert hat seit den späten 80er, frühen 90er Jahren, in denen der Serienkiller so ein zentraler Topos unserer abendländischen Kultur war; was mit diesem Topos passiert, wenn er hier ungewohnterweise von einer Frau verkörpert wird, die dazu auch ganz andere Motive, eine andere Psychologierung erfährt als die genreüblichen: Nichts davon wird vom Film selbst auf einer bewussten Ebene verhandelt.
Gewiss: Das Handwerk dieses Films ist in den allermeisten Bereichen auf einem deutlich höheren Level - aber die Grundhaltung dessen, wie man sich eines solchen Stoffs, wie man sich der Darstellung einer solchen sensationellen Biografie anzunehmen hat, ist letzlich leider exakt die, die man ebenso in TV-Movies der Woche finden kann.


Nicholson, Jack *

Ja, keine Frage: It must be good to be Jack. Er spielt sich auf der Pressekonferenz zu SOMETHING'S GOTTA GIVE begnadet selbst, oder vielleicht ist er ja wirklich so. (NB: Warum darf man sich eigentlich so einfach ungestraft den Titel des letzten, unvollendeten Films mit Marilyn Monroe aneignen? Oder weiß Autorin/Regiesseurin Nancy Meyers gar nicht, an was für einem legendären Filmnamen sie sich da vergriffen hat? Nicholson erzählt auf der Konferenz, dass er mit Meyers über Kurosawas SIEBEN SAMURAI geredet hätte, und recht entsetzt war, als er feststellen musste, dass sie den nie gesehen hätte.)
Jedenfalls ist Jack durch nichts aus der Ruhe zu bringen, pariert auch die dümmsten und peinlichsten Fragen - und davon gibt es auf dieser Pressekonferenz manche - souverän und gutgelaunt, und bietet der zunehmend die ohnehin fadenscheinige Contenance verlierenden Keaton, Diane Halt, Schutz, rettenden Widerpart und zwischendurch auch mal filmhistorische Nachhilfe in Form einer Erklärung, dass all die Journalisten, die hier was zu "New Hollywood" fragen, damit keineswegs das heutige Hollywood meinen, sondern die Epoche von circa 1967 bis 1976.
Wer möchte ihm da schon widersprechen (und wer würde es sich trauen), wenn er, am zweiten Tag der Berlinale und mit einem Film vertreten, der einfach so außer Konkurrenz neben dem Wettbewerb läuft, meint, es wäre toll, hier mit seinem Streifen die Berlinale zu eröffnen...


ONE MISSED CALL *
(CHAKUSHIN ARI, Japan 2003, Regie: Takashi Miike)

Takashi Miike schlägt einmal mehr einen unerwarteten Haken und erwischt einem von da, wo man die Deckung nicht oben hatte: Man ist ja allerlei Krasses gewohnt vom Regiesseur solcher Hämmer wie FUDOH - THE NEW GENERATION, AUDITION, DEAD OR ALIVE, ICHII THE KILLER oder VISITOR Q. Aber während man sich nun also auf einen weiteren Anschlag auf die Grenzen des im Kino für möglich Gehaltenen einstellt, zieht Miike mal wieder ein ganz anderes Karnickel aus dem Zylinder und liefert: Einen japanischen Mainstream-Gruselfilm!
Dieser Film steht ganz in der Tradition von Werken wie THE RING oder JU-ON - THE GRUDGE. Auf Handys treffen unheimliche Anrufe aus der nahen Zukunft ein, die den Angerufenen ihren eigenen Tod zu hören geben - der dann auch immer exakt so eintritt. Hinter dem allen steckt, wie üblich, der ruhelose Geist einer unter Qualen Verstorbenen - Sie wissen schon, eine dieser bleichen Frauen mit vors Gesicht gekämmten Haaren, die so schön bangemachen, wenn sie auf die Kamera zuwanken...
Miike bedient das Genre gekonnt, und gegen Ende streut er doch noch einigen persönlichen Touch ein, in ein paar sehr anrührenden Momenten. (Man sollte nie vergessen, dass Miike seine Stärke seit jeher auch im Poetischen hat, und gerade die verquere Verbindung davon mit der überdrehten Gewalt erst die Größe seiner Kunst ausmacht.)
Nun ist japanischer Semi-Mainstream sowieso noch lange nicht westliches Standard-Massenkino. Und da Miike ja nicht nur einer der extremsten, sondern mit bis zu fünf Filmen im Jahr auch einer der fleißigsten Filmemacher der Welt ist, geht zwischendurch mal der Beweis, dass er auch ungewohnt gewöhnliche Filme beherrscht, wenn er denn will, völlig in Ordnung.
(Dass von den bis zu fünf Miike-Filmen pro Jahr nur ein Bruchteil hiesige Leinwände erreicht - und der auch meist nur dank der tapferen, nimmermüden Bemühungen der Helden vom rapideyemovies-Verleih - ist freilich ein anderes Thema...)


Pedersoli, Carlo
(siehe auch Spencer, Bud)
Carlo Pedersoli, sagt Bud Spencer, sei ein ernsthafter Mann. Und deswegen hat er sich für seine Auftritte in lustigen Filmen einen Künstlernamen zugelegt. Und als die übersetzerin die Anzahl von Pedersolis Olympia-Titeln im Schwimmen nicht korrekt wiedergibt (denn Herr Pedersoli kann durchaus auch ein bisschen Deutsch), da korrigiert er sie sofort und entschieden. Das ist ihm offenbar noch immer sehr wichtig, da ist er noch immer äußerst stolz darauf. Ja, der Herr Pedersoli ist ein ernsthafter Mann.


Rabau, Erika *

Wer schon mal auf der Berlinale zugange war, der hat sie sicher irgendwann bemerkt: Diese Dame geheimen, aber zweifelsohne nicht gerade niedrigen, Alters mit ihren blondgebleichten Struweln auf dem Kopf und stets in Lederkluft gewandet. Sie ist seit langem offizielle Fotografin für die Berlinale, wurde dafür dieses Jahr auch mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet, und wackelt tapfer auf so ziemlich jeder Pressekonferenz des Festivals herum. (Wer nicht auf der Berlinale zugange ist, kann sie dafür als Darstellerin in den Werken des Berliner Underground-Filmers Lothar Lambert besichtigen.)
Eine auffällige Gestalt, ein wahres Original - und deswegen war es zwar nicht weltklasse-höflich, aber doch verständlich und nicht unlustig, was während der Pressekonferenz zu COLD MOUNTAIN geschah: Erika Rabau hatte offenbar ihr Werk vollbracht und kämpfte sich aus der - direkt vor dem Podium befindlichen - Fotografen-Sitzreihe, was eben nicht gerade flink und behende vonstatten geht. Und Anthony Minghellas Aufmerksamkeit war plötzlich von diesem kleinen Spektakel des Berlinale-Alltags viel mehr gefesselt als von der gerade in Formulierung befindlichen, an ihn gerichteten nächsten Journalisten-Frage. Er guckte sich das eine Weile an, und meinte dann zum Saal, er sei gerade fasziniert von der Performance, die da direkt vor ihm abging: "Look, it's Pina Bausch with the Dance Theatre Wuppertal, doing: Lady with a Camera."
Erika Rabau fand das übrigens offensichtlich weniger amüsant und treffend als meinereiner. Sagen wir mal so: Ihr Gesichtsausdruck darob ließ ahnen, dass Herr Minghella, wenn er denn mal eine Standfotografin für seinen nächsten Film bräuchte, vielleicht ganz gut daran täte, sich nicht unbedingt an Frau Rabau zu wenden...


Retro*

Na, und nun raten wir mal alle schön, wo der Herr Willmann auch dieses Jahr wieder seine meiste Kino-Zeit im Rahmen der Berlinale verbracht hat... Zu gewinnen gibt's für die richtige Antwort nix, weil das wäre ja selbst dann klar, wenn die Frage nicht den Eintrag "Retro" eröffnen würde.
War aber auch zu schön, "New Hollywood 1967-1976" - und auch schön traurig, weil man mal wieder gesehen hat, was damals alles ging, und was heute so einfach nicht mehr geht.
War aber auch zu schön und groß und vielschichtig, um es jetzt hier in so einem kleinen ABC-Eintrag ernsthaft abzuhandeln. Deshalb - das Münchner Filmmuseum holt ja jetzt Teile der Retro nach, ergänzt sie durch in Berlin nicht zu Sehendes - hoffentlich bald in anderem Rahmen mal was Eigenes dazu...


RUNNING ON KARMA *
(DA ZHI LAO, HK/China 2003, Regie: Johnnie To, Wai Ka Fai)

Hey, ho, Johnnie To! Ein ums andere Mal ist er sowas wie der Retter der Berlinale - diesmal musste er zwar das insgesamt doch durchaus respektable Gesamtniveau nicht allein mit seinem Beitrag in zufriedenstellende Höhen wuchten, aber wovor er uns diesmal bewahrt hat war: Heimzufahren, ohne einmal das Gefühl gehabt zu haben, etwas WIRKLICH Neues gesehen zu haben. Denn so schön all die vielen anderen Filme im einzelnen auch waren - keiner von ihnen wäre nicht zu verorten gewesen in längst etablierten Grenzen und Siedlungsgebieten der Filmkunst.
Und jetzt hat man bei Hong Kong-Filmen ja auch alle paar Jahre mal das Gefühl, dass es das eigentlich gewesen sein müsste, dass nun alles erfunden und erkundet sein müsste, was man auf Leinwänden unter gewissen Grundvoraussetzungen tun kann. Aber dann kommt eben doch jedesmal ein so durchgeknalltes Teil daher wie dieses hier und belehrt einem eines Besseren. Weil: Man kennt Kampfmönch-Filme, man kennt Polizei-Thriller, man kennt vielleicht sogar Filme über männliche Stripper aus Hong Kong. Aber einen Film über einen Ex-Kampfmönch, der Stripper wird, an der Aura anderer Leute deren Tod voraussahnen kann, und sich dann in eine Polizistin verguckt, die bizarre Mordfälle aufzuklären hat, das kannte man nicht - und erst recht nicht SO: Denn die Hauptrolle des zum bodygebuildeten Stripper mutierten Mönchleins spielt Superstar (bei ihm hat dieses Wort noch seine einstige echte Bedeutung) Andy Lau. Und weil Andy Lau dafür den Körperbau nicht mitbringt, und man in Hong Kong für De Nirosches Method-Acting die Zeit nicht hat, wurde er flugs in einen Ganzkörper-Anzug aus Kunstmuskeln gesteckt, wodurch wir auch gleich noch das Superhelden-Genre im Mix hätten, denn er sieht nun aus, als wolle er sich für den nächsten Teil vom HULK bewerben.
Großartig, dass Lau sowas mitmacht, und nur ein Regiegespann wie Johnnie To und Wai Ka Fai bekommen es hin, die herrliche Albernheit dieser Sache genussvoll auszukosten und dann ab und zu doch plötzlich für einige Momente ganz ernst und anrührend zu werden - oder auch beides gleichzeitig: Wenn Andy Laus Filmfigur ihre Kampfkunst-Fähigkeiten mittels Schattenboxen mit einem schwebenden Kleenex vorführt, dann ist das ein potentiell lächerlicher Augenblick von überwältigender Poesie. Wie dieser Film überhaupt dauernd irgendwelche unvorhergesehenen Haken schlägt, er am Ende in Regionen landet, die einem anfangs nie in den Sinn gekommen wären. Und er gerade im ersten Drittel - mit einem indischen Killer-Fakir, der sich z.B. aus kniehohen Blechkanistern faltet - immer wieder Action-Ideen hinschleudert, die einem vor ungläubiger Verblüffung dezent die Kinnlade auf den Cinemaxx-Saalteppich dotzen lassen. Superknalliges, lustvoll anti-rationales Genrezwirbler-Kino der Meisterklasse eben.


Spencer, Bud
(siehe auch Pedersoli, Carlo)

Okay, Jack Nicholson war da, und Peter Fonda, und die ein oder andere lebende Legende mehr. Aber was, frage ich Sie, ist das alles im Vergleich dazu, Bud Spencer live zu erleben! Das sehe offenbar nicht nur ich so, denn der Empfang, der Bud Spencer vom Publikum im Film-Palast bereitet wurde, stellte an jubelnder Heftigkeit ziemlich alles in den Schatten, was die oben erwähnten großen Weltstars erleben durften.
Klar, der Riesen-Applaus kommt hauptsächlich von jungen Männern zwischen 25 und 35, und es ist kein großes Rätsel, warum für uns die Begegnung mit "Bulldozer" so viel mehr bedeutet, so viel mehr auslöst, als die mit Nicholson oder Fonda: Für uns ist Bud Spencer eine Idol - ach was, eine Ikone! - aus den Kindertagen, als Kino noch eine komplett magische Angelegenheit war, eine Zauberwelt, die uns zugleich viel entfernter vom Alltag und viel realer in sich selbst erschien als später, wo die kindliche Naivität dem Medium gegenüber einem wissenden Umgang damit gewichen war. Dass es ihn wirklich gibt, den Bud, und dass man ihm sogar höchstselbst begegnen kann - daran haben wir tief im Herzen nicht zu glauben gewagt (oder uns davor gefürchtet).
Und erst recht rechnet man nicht damit, ihm bei einem Festival wie der Berlinale über den Weg zu laufen. Er gehört einer Kinowelt an, die nichts zu tun hat mit den arrivierten Traditionen, die hier gefeiert werden.
Und er wäre auch nicht eingeladen worden, wenn er nicht auf seine alten Tage plötzlich noch in die Fänge der "Kunst-Filmer" geraten wäre und ihn nicht Ermanno Olmi als piratesken Kapitän besetzt hätte. Ehrlich gesagt: Von dem Film hatte ich dann auch nicht wirklich etwas erwartet, habe ihn mir nur angeschaut, weil er die einzige Gelegenheit bot, Bud Spencer live zu erleben - und wurde dann auf's Angenehmste überrascht, siehe CANTANDO DIETRO I PARAVENTI.
Bud Spencer live sieht seinem uns altvertrauten Leinwandbild noch erstaunlich ähnlich - die Haare natürlich grauer, dünner und straff anliegend nach hinten gekämmt, die Falten so tief, wie es sich für einen 74jährigen gehört, und das Gehen fällt ihm merklich ein bisschen schwer. Trotzdem wirkt er nicht verfallen, und wenn man ihn nur aus deutschen Synchronfassungen seiner Filme kennt, ist man überrascht, wie schön seine Stimme klingt - sie hat schon auch was von der Bärbeißigkeit seines teutonischen Sprechers, aber ist viel eleganter, und mit dem Fantasie-Portugiesisch, das er im Film spricht, klingt sie richtig lyrisch.


Sünden *

Werden von den höheren Mächten des Kinos offenbar sofort bestraft: Da denkt unsereins (und ich gebe zu: im Nachhinein ist das kaum mehr verständlich), man könne mal den Gottesdienst schwänzen. Und eine Gelegenheit auslassen, Peckinpahs THE WILD BUNCH auf großer Leinwand zu sehen. Weil man - kann es die Ermanglung von Wimmer-Brezen, Hofpfister-Brot und Augustiner-Bier in Berlin gewesen sein, die solche Wirrnis über meinen Geist kommen ließ? - glaubt, lieber zwei neue, noch nie geschaute Filme gucken zu sollen.
Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!
Na ja, und dann haben natürlich prompt alle an diesem Tag geschauten Filme durch die Bank nicht viel getaugt. Und ich hatte dauernd ein schlechtes Gewissen, sah vor meinem geistigen Auge ständig das Meisterwerk, das nur ein paar Cinemaxx-Türen weiter an mir vorbeirauschte, während ich mich schändlich dem Zähen und Minderen auslieferte.
Aber man ist ja lernfähig: Nicht, dass das jetzt irgendwas von einer gescheiten Buße gehabt hätte (denn Buße soll ja herb einfahren und einen nicht vor Verzückung auf die Knie sinken lassen) - aber PAT GARRETT AND BILLY THE KID vom Sankt Sam habe ich mir dann ganz entschieden NICHT entgehen lassen. Man glaubt ja nicht mehr an viel, aber der Frevel kennt doch Grenzen...


Trends *

Keine vernünftige Filmfest-Berichterstattung ohne das Konstatieren irgendwelcher Trends. Das muss einfach sein. Wozu ist man denn sonst da, als Kritiker, wenn nicht, um aus all dem Speziellen und Verschiedenen das Allgemeine herauszudestillieren? Zur Not mit Gewalt...
So recht der Konsens fand sich dieses Jahr freilich nicht, wohin sie denn nun ginge, die gemeinsame Bewegung all des Gezeigten. Irgendwas mit starken Frauen, meinten mal die einen, aber das war so ein typischer Mitten-im-Festival-rausgehauener-"Bis morgen brauchen wir einen Artikel zum diesjährigen Trend im Blatt"-Notbehelf. Ziemlich überzeugend wäre höchstens die These, dass wirklich erstaunlich viele Filme, und zwar so unterschiedliche wie COUNTRY OF MY SKULL, SAMARIA, ONE MISSED CALL, THE MACHINIST, RUNNING ON KARMA, FINAL CUT (die Liste ist keineswegs vollständig), sehr intensiv mit dem Thema der Vergebung rangen. Man interpretiere diesen Befund bitte nach Gusto selbst.
Nein, aber auch diese Häufungs-Feststellung könnte nur einzelne Werke herausgreifen und sie für repräsentativ erklären. Man muss tiefer graben, nach etwas viel universeller Verbindendem suchen, um wirklich die ganze Berlinale 2004 unter einem Aspekt zu subsummieren. Na, und wer, glauben Sie, hat das nach langen, schlaflosen Nächten und Tagen des Grübelns und Grummelns geschafft? Ja, richtig! Unsereins.
Und so präsentieren wir Ihnen hier, exklusiv bei artechock, DEN Berlinale-Trend 2004! Trommelwirbel, bitte.
Denn siehe: Nicht Filme über Frauen oder Kino um Vergebung war es, was alles einte. Nein. Vielmehr gab es, wo man auch hinschaute, was man auch sah, in jeder Reihe und in jedem Saal, an jedem Tag, zu jeder Stunde, allüberall AUFFÄLLIG viele: Filme von Menschen!
Jawoll.
Auch einen enormen Anteil von Filmen ÜBER Menschen und Filme FÜR Menschen- aber das dann nicht mehr ganz so universell. (Gerade bei letzterem klafften Anspruch und Realität manchmal auseinander).
So, und nun sind wir gespannt, ob dieser Trend auch im nächsten Jahr anhalten wird...

Thomas Willmann

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