Was sind schon Dokumentarfilme! Ansammlungen von Informationen
über die Wirklichkeit, an der wir teilhaben, ohne dort
zu sein. Wir lehnen uns im Kinosessel zurück, erleichtert:
Wir haben wieder was erfahren und an einer Realität partizipiert,
die nicht die unsere ist, uns über ein Problem informiert
und unser Gewissen beruhigt.
Was aber können Dokumentarfilme! Uns unseres Horizontes
entheben, uns hineintragen in andere Wirklichkeiten, an der
Welt teilhaben lassen. Vielleicht ist es ja das Verhältnis
von Information, Sinnlichkeit und Intensität des Films,
die über Verdruss und Genuss entscheidet.
Eine kleine Vorauswahl ganz und gar Genuss bereitender Filme
des diesjährigen Dok-Festes:
ON/OFF THE RECORD: Ein Film über die Studioaufnahmen
von Notwist zu ihrer Platte Neon Golden, der viel mehr erzählt
als den Weg zur CD-Produktion. Bildäquivalenzen zur Musik
bauen sich auf, die sich dem dokumentarischen Gestus verweigern.
Sie beschreiben das Imaginäre, das in der Musik steckt,
der Film wird Musik, die Musik wird gefilmt. (Samstag 22:30,
Filmmuseum)
TOKYO NOISE : Wenn Musik gefilmt werden kann, dann
geschieht dies hier in brachialer Gewalt. Die Bilder des städtischen
Raumes sind die Entsprechung einer Noise-Erfahrung, der sich
der Mensch der Zukunft nicht entziehen kann. Feier unserer
städtischen Umwelt, die uns in ihrem Lärm Musik
sein soll. (Sonntag 22:15, ARRI)
TULEVAISUUS EI OLE ENTISENSÄ (FUTURE IS NOT WHAT
IT USED TO BE): Ähnlich zukunftsweisende Euphorie eines
Computer-Maniacs. Bestechend ist die rasante Fahrt durch die
Anfänge des Computerzeitalters und mit ihm die Anfänge
der elektronischen Musik. Das Visionäre im starken Sinn:
Musik-Videos und Avantgarde-Filme aus den 60er Jahren, mit
ausgeprägter Filmästhetik. Jede Sekunde unseres
Lebens ist es wert, dokumentiert zu werden, denn erst in der
Zukunft werden wir sehen können, was die Zukunft in unserer
Vorstellung einmal war. Future is now! (Samstag 23:00, Maxim)
NULLA SI SA, TUTTO S'IMMAGINA (SECONDO FELLINI) (NOTHING
IS CERTAIN, EVERYTHING IS IN THE IMAGINATION - ACCORDING TO
FELLINI): Weil wir nicht wissen, was die Welt ist oder sein
wird, müssen wir imaginieren. Im Imaginären aber
beginnt die Fiktion. Gefilmte Landschaften werden zu den Film-Landschaften
Fellinis. Secondo Fellini. Nach Fellini. (Dienstag 22:30,
Filmmuseum; Mittwoch 22:30, Rio)
DERRIDA: Wenn das Gegenteil des Realen das Imaginäre
ist, dann sollte für den Dokumentarfilm gelten, dass
er gerade diesen Gegensatz aufhebt, weil Bilder immer ein
imaginäres Potential in sich tragen. Dekonstruktion nach
Derrida. Fröhliche Wissenschaft eines Charismaten bei
Vorlesung und beim Friseur. (Sonntag 11:00, ARRI; Montag 22:30,
Filmmuseum)
Viel Spaß im Kino!
Dunja Bialas
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