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Einen Bericht über ein Festival zu schreiben, bei dem
man nicht nur an der Auswahl der Filme beteiligt war, sondern
bei dem man während des Festivals als Moderatorin mit
den Filmemachern und dem Publikum über diese Filme sprechen
konnte, ist dankbar. Zwar gehen da natürlich Distanzen
verloren, aber zugleich verstärkt sich der kritische
Blick auf die Filme, die man zumeist zum dritten oder vierten
Mal sah.
Das Festival war begleitet von einem Naturphänomen,
der hochsommerlichen Hitze, die sich im frühen Mai über
den Jakobsplatz legte. Dennoch meist ausverkaufte Vorstellungen
zu allen Uhrzeiten, vor den Kassen lange Schlangen von Menschen,
die auf den Biergartenbesuch verzichteten. Ein Publikum, das
nach den Filmen im Kinosaal sitzen blieb, gespannt auf das,
was die Regisseure über ihre Filme erzählen würden.
Bereit zu ausführlichen Gesprächen und Diskussionen,
die je nach Thema der Filme auch durch persönliche Erinnerungen
und Emotionen bereichert wurden.
Begonnen hat dieser DokFest-Boom mit dem Double Feature aus
der Reihe "Docs in Europe". A VALPARAISO von Joris
Ivens über das Chile der 60er Jahre, kommentiert von
Chris Marker, war ein Film, der zeigt, daß es unbedingt
lohnenswert ist, einmal die historischen Höhen des Dokumentarfilms
in einer Retrospektive aufzugreifen. COÛTE QUE COÛTE
von Claire Simon von 1995, ein Film über die unaufhaltsamen
Arbeitsprozesse des Geldes in einer Firma, die bankrott geht,
beobachtet seine Protagonisten aus einer figuralen Nähe
in ihrem sozialen Umfeld, die jene Spielfilmqualitäten
besitzt, wie wir sie aus dem jungen französischen Kino
kennen.
.
Ein ganz großer Film war TISHE!, der den Dokumentarfilmpreis
des Bayerischen Rundfunks gewann. Eine Entscheidung, die ein
echtes Statement der Jury ist, denn Dokfilmpuristen kommen
bei diesem Film ohne Worte mit Sicherheit nicht auf ihre Kosten.
Humorvoll, rhythmisch synkopiert, poetisch, seine Figuren
heimlich beobachtend aber nie bloßstellend: Ein Jahr
in der Straße von Regisseur Victor Kossakovsky, den
man für einen ganz kurzen Moment in der Spiegelung seines
Fensters sieht, aus dem er filmt. Er schafft es, mit digitaler
Videokamera lange Plansequenzen zu filmen, die von einer perfekten
Kameraführung erzählen. Sein Blick schweift über
die Straße, heftet sich an Passanten, die in den Fokus
der Kamera laufen, lässt sie fallen, um seinen Weg über
die Straße fortzuführen, findet Blüten, die
vom Wind weggetragen werden und schließlich in einer
Pfütze ankommen. Mangelnde Tiefenschärfe des Video-Materials
macht Kossakovsky auf indirekte Weise thematisch durch die
Kamerazooms, beginnend an der Hauswand gegenüber, bei
deren Zurückfahrt in die Totale sich der Effekt einer
Montage innerhalb des Bildes ergibt. Kossakovsky verleiht
dem Zoom so die Bedeutung einer Plansequenz in die Tiefe,
in die dritte Dimension des Raumes. TISHE! ist weniger abstrakt
als Kossakovskys früheren Filme. Auch bei ihm böte
sich unbedingt eine Retrospektive an.
Weniger experimentell, aber dennoch nicht minder sehenswert
war RACINES LOINTAINES des Belgiers Pierre-Yves Vandeveerd.
Die Geschichte über einen Baum, der vor seinem Fenster
in Belgien steht und eines Tages verschwindet, und den er
in Mauretanien zu suchen beginnt, ist ein anthropologisches
Road-Movie und erzählt wie nebenbei in seinen Bildern
von den Umweltproblemen Trockenheit und Überschwemmung.
Seine Reise führt ihn zu den Sufis Mauretaniens, zu einer
Wahrsagerin und zu den ganz alten Leuten der Dörfer,
die alle möglichen Geschichten über Bäume kennen,
die sich auf den Weg machten. Ein anthropologisches Kino,
das sich in die Mythen und alten Erzählungen, in den
Aberglauben und die Naturweisheit eines afrikanischen Landes
vertieft. In der Tradition von Chris Marker, der seine anthropologischen
Sujets in essayistischen Filmen realisiert, verleiht Pierre-Yves
Vandeveerd seiner Filmreise den verhaltenen Lyrismus einer
literarischen Reiseerzählung.
Das Potential, in die Kinos zu kommen, zeigte RESIST von
Dirk Szouszies und Karin Kaper. Ein Film über die Straßentheatergruppe
"The Living", der erst im Filmmuseum bei der zweiten
Projektion mit guter Technik seine ganze Aussagekraft entfalten
konnte. Das Überwältigende von RESIST liegt in dem
Kraftvollen, mit dem die Bilder über die energiegeladenen
Aktionen der Utopisten montiert werden, gestützt durch
einen Soundtrack, der von Atemlosigkeit erzählt. Ein
in Inhalt und Form "actionreicher" Film über
die politisch-kreative Arbeit um Judith Malina und Hanon Reznikov,
bewegend und appellierend. Ein großer Film über
die politische Widerstandsbewegung, die sich seit Genua nicht
mehr - und dies auch als Film - in der Nische verstecken lassen
sollte.
Es war ein heißes Festival, zuerst heiß in der
Sonne und dann heiß im Kinosaal durch den Besucherandrang
und ausfallende Klimaanlagen. Heiß, unangenehm heiß,
wird einem bei dem Gedanken, daß dies das letzte Dokumentarfilmfest
in München sein könnte, wenn die Landeshauptstadt
nicht zu ihrer finanziellen Verantwortung greift. Es würde
den frühen Tod eines gerade neue Aufmerksamkeit erfahrenden
Filmgenres bedeuteten und entstünde aus einer Haltung
heraus, die sich kulturpolitisch ganz und gar ignorant zeigt.
Denn dann müsste der Dokumentarfilm, verbannt in das
Fernsehen, sich seinen Platz zwischen schnell produzierten
Reportagen und dem Format des Fernsehfeatures erstreiten.
Filme gehören ins Kino. Und der Dokumentarfilm braucht
sein Festival, um das weite Spektrum zeigen zu können,
in dem er sich bewegt.
Dunja Bialas
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