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Dokfest 2003 15.05.2003
 
 
Dokfilme für das Kino
Rückblick, Ausblick und Utopie des 18. Internationalen Dokumentarfilmfestivals München
TISHE!
 
 
 
 

Einen Bericht über ein Festival zu schreiben, bei dem man nicht nur an der Auswahl der Filme beteiligt war, sondern bei dem man während des Festivals als Moderatorin mit den Filmemachern und dem Publikum über diese Filme sprechen konnte, ist dankbar. Zwar gehen da natürlich Distanzen verloren, aber zugleich verstärkt sich der kritische Blick auf die Filme, die man zumeist zum dritten oder vierten Mal sah.

Das Festival war begleitet von einem Naturphänomen, der hochsommerlichen Hitze, die sich im frühen Mai über den Jakobsplatz legte. Dennoch meist ausverkaufte Vorstellungen zu allen Uhrzeiten, vor den Kassen lange Schlangen von Menschen, die auf den Biergartenbesuch verzichteten. Ein Publikum, das nach den Filmen im Kinosaal sitzen blieb, gespannt auf das, was die Regisseure über ihre Filme erzählen würden. Bereit zu ausführlichen Gesprächen und Diskussionen, die je nach Thema der Filme auch durch persönliche Erinnerungen und Emotionen bereichert wurden.

Begonnen hat dieser DokFest-Boom mit dem Double Feature aus der Reihe "Docs in Europe". A VALPARAISO von Joris Ivens über das Chile der 60er Jahre, kommentiert von Chris Marker, war ein Film, der zeigt, daß es unbedingt lohnenswert ist, einmal die historischen Höhen des Dokumentarfilms in einer Retrospektive aufzugreifen. COÛTE QUE COÛTE von Claire Simon von 1995, ein Film über die unaufhaltsamen Arbeitsprozesse des Geldes in einer Firma, die bankrott geht, beobachtet seine Protagonisten aus einer figuralen Nähe in ihrem sozialen Umfeld, die jene Spielfilmqualitäten besitzt, wie wir sie aus dem jungen französischen Kino kennen.
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Ein ganz großer Film war TISHE!, der den Dokumentarfilmpreis des Bayerischen Rundfunks gewann. Eine Entscheidung, die ein echtes Statement der Jury ist, denn Dokfilmpuristen kommen bei diesem Film ohne Worte mit Sicherheit nicht auf ihre Kosten. Humorvoll, rhythmisch synkopiert, poetisch, seine Figuren heimlich beobachtend aber nie bloßstellend: Ein Jahr in der Straße von Regisseur Victor Kossakovsky, den man für einen ganz kurzen Moment in der Spiegelung seines Fensters sieht, aus dem er filmt. Er schafft es, mit digitaler Videokamera lange Plansequenzen zu filmen, die von einer perfekten Kameraführung erzählen. Sein Blick schweift über die Straße, heftet sich an Passanten, die in den Fokus der Kamera laufen, lässt sie fallen, um seinen Weg über die Straße fortzuführen, findet Blüten, die vom Wind weggetragen werden und schließlich in einer Pfütze ankommen. Mangelnde Tiefenschärfe des Video-Materials macht Kossakovsky auf indirekte Weise thematisch durch die Kamerazooms, beginnend an der Hauswand gegenüber, bei deren Zurückfahrt in die Totale sich der Effekt einer Montage innerhalb des Bildes ergibt. Kossakovsky verleiht dem Zoom so die Bedeutung einer Plansequenz in die Tiefe, in die dritte Dimension des Raumes. TISHE! ist weniger abstrakt als Kossakovskys früheren Filme. Auch bei ihm böte sich unbedingt eine Retrospektive an.

Weniger experimentell, aber dennoch nicht minder sehenswert war RACINES LOINTAINES des Belgiers Pierre-Yves Vandeveerd. Die Geschichte über einen Baum, der vor seinem Fenster in Belgien steht und eines Tages verschwindet, und den er in Mauretanien zu suchen beginnt, ist ein anthropologisches Road-Movie und erzählt wie nebenbei in seinen Bildern von den Umweltproblemen Trockenheit und Überschwemmung. Seine Reise führt ihn zu den Sufis Mauretaniens, zu einer Wahrsagerin und zu den ganz alten Leuten der Dörfer, die alle möglichen Geschichten über Bäume kennen, die sich auf den Weg machten. Ein anthropologisches Kino, das sich in die Mythen und alten Erzählungen, in den Aberglauben und die Naturweisheit eines afrikanischen Landes vertieft. In der Tradition von Chris Marker, der seine anthropologischen Sujets in essayistischen Filmen realisiert, verleiht Pierre-Yves Vandeveerd seiner Filmreise den verhaltenen Lyrismus einer literarischen Reiseerzählung.

Das Potential, in die Kinos zu kommen, zeigte RESIST von Dirk Szouszies und Karin Kaper. Ein Film über die Straßentheatergruppe "The Living", der erst im Filmmuseum bei der zweiten Projektion mit guter Technik seine ganze Aussagekraft entfalten konnte. Das Überwältigende von RESIST liegt in dem Kraftvollen, mit dem die Bilder über die energiegeladenen Aktionen der Utopisten montiert werden, gestützt durch einen Soundtrack, der von Atemlosigkeit erzählt. Ein in Inhalt und Form "actionreicher" Film über die politisch-kreative Arbeit um Judith Malina und Hanon Reznikov, bewegend und appellierend. Ein großer Film über die politische Widerstandsbewegung, die sich seit Genua nicht mehr - und dies auch als Film - in der Nische verstecken lassen sollte.

Es war ein heißes Festival, zuerst heiß in der Sonne und dann heiß im Kinosaal durch den Besucherandrang und ausfallende Klimaanlagen. Heiß, unangenehm heiß, wird einem bei dem Gedanken, daß dies das letzte Dokumentarfilmfest in München sein könnte, wenn die Landeshauptstadt nicht zu ihrer finanziellen Verantwortung greift. Es würde den frühen Tod eines gerade neue Aufmerksamkeit erfahrenden Filmgenres bedeuteten und entstünde aus einer Haltung heraus, die sich kulturpolitisch ganz und gar ignorant zeigt. Denn dann müsste der Dokumentarfilm, verbannt in das Fernsehen, sich seinen Platz zwischen schnell produzierten Reportagen und dem Format des Fernsehfeatures erstreiten. Filme gehören ins Kino. Und der Dokumentarfilm braucht sein Festival, um das weite Spektrum zeigen zu können, in dem er sich bewegt.

Dunja Bialas

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