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Berlinale 2003

20.02.2003

 
 

17 Berlinale-Brösel
Bericht von der 53. Berlinale, 2.Teil

Verhinderter Stargast: COMMANDANTE
 
 
 
 

Es steckt im missratensten Film noch erhebliche Liebesmüh. Selbst wenn der Regisseur ein plan- und achtloser Trottel, der Hauptdarsteller ein eitler Schmierenkomödiant und das ganze Projekt nur die allein auf's leicht verdiente Geld abzielende Kinoversion einer billigen Fernseh-Arztserie ist. Dann kann da immer noch eine junge Requisiteurin mit am Werk sein, die ihr Herzblut in die Arbeit gibt, die alles tut, dass wenigstens die Details, die sie zu verantworten hat, so stimmig wie möglich sind.
Aber kann man es so einer Frau andererseits wiederum verdenken, wenn sie langsam die Lust verliert? Wenn sie ihre Liebesmüh als verloren betrachtet und das Kino als unrettbar? Weil die Realitäten der Industrie, der Filmproduktionsmaschinerie, ohne die leider nichts geht, so sind, dass sie alles Gute, Wahre, Schöne von vornherein auszuschließen scheinen?
Kann man? Darf man? Muss man?
Ich erlaube mir, die Antwort noch ein wenig aufzusparen...

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BRÖCKELN, BRÖSELN, FRAUENZEITSCHRIFTEN

Es schien die diesjährige Berlinale in der zweiten Hälfte Auflösungserscheinungen zu zeigen. Statt auf einen Höhepunkt zuzusteuern wirkte das eher wie ein Bröckeln, Bröseln, ein Ausfaden, das schon in der Mitte des Songs beginnt. Mit der Qualität der Filme hatte das nicht das Geringste zu tun: Die blieb auf einem derart hohen Level, dass ich persönlich von den über 40 besuchten Vorstellungen nur eine bereut habe, und daran war ich letztlich selbst schuld, weil ich den Streifen (JAGODA U SUPERMARKETU) eigentlich, meiner diversen schlechten Erfahrungen mit osteuropäischem Kino eingedenk, vermeiden wollte und mich dann nur äußere Umstände doch hineintrieben. Und selbst da gab es, wenn schon sonst nichts, dann doch den netten Gag mit dem etwas verwirrten älteren Herren, der wissen will ob die Eier frisch sind und dabei Kinderüberraschung in Händen hält.
Nein, diese Berlinale hätte getrost die Hälfte ihrer gelungenen Filme ans Vorjahr abgeben können und es wären daraus zwei befriedigende Festivals geworden - so aber waren's also ein enttäuschendes (mit punktuellen Glanzlichtern wie FULLTIME KILLER) und ein äußerst befriedigendes.
Dass dennoch dieses Jahr nach ein paar Tagen sich ein Eindruck über die Festspiele legte, als wäre deren Pulver schon verschossen, hatte andere Gründe. Zum einen waren da die Hollywood-Produktionen durch, zu denen amerikanische Stars angereist waren. Und so lächerlich es ist - das macht doch immer einen erheblichen Unterschied. Weil da ein Funke der Aufregung in der Festival-Luft ist, der nicht nur auf reine Cineasten überspringt. Es mag ein koreanischer Spielfilm, eine deutsche Doku noch so begeisternd sein - es wird (ungerechterweise) eine Begeisterung im kleinen Kreis bleiben. Da ist ein Filmfest eine Veranstaltung von und für Leute, die den ganzen Tag in dunklen Sälen sitzen und auf flackernd beleuchtete Wände gucken, und draußen interessiert es keinen. Aber wenn die Hollywood-Größen anreisen, ja dann ist es ein Ereignis in der Stadt. Dann sagt auch der sprichwörtliche kleine Mann auf der Straße "Ui, es ist Berlinale!" und verrenkt sich den Hals, um einen Blick zu erhaschen auf den Star auf dem Rücksitz einer der gesponsorten Limousinen. Anstatt dass er sich nur wundert, warum ihm beim Einkaufen am Potsdamer Platz dauernd so viele etwas verstrahlt dreinblickende, übernächtigte Menschen über den Weg laufen, in zumeist unkleidsamem, nicht gerade Frische ausdünstendem Gewand, mit farbcodierten, Passsfoto-tragenden Karten am Bändel um den Hals und mit von Papier überquellenden Umhängetaschen, an gesponsorten Vöslauer-Mineralwasserflaschen nuckelnd, alles belagernd, wo es billig und schnell Essbares gibt. Worauf der kleine Mann höchstens denkt: "Mmmmh..., muss wohl wieder Berlinale sein..."
Aber nicht nur dass die Hollywoodstars wieder abgereist waren und mit ihnen auch schon Großteile der Frauenzeitschriften- und Privatfernsehsender-Fraktion unter den Journalisten nahm einigen Dampf aus der Sache - es waren auch insgesamt die meisten Filme, auf die man vorab schon so richtig heiß war, in der ersten Festivalhälfte versammelt. Die Filme der zweiten Hälfte waren mit weniger Erwartungen befrachtet; es war die Zeit der angenehmen Überraschungen, der übertroffenen Voreinschätzung, der erfreulichen Entdeckungen.

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GRÜNE UNIFORM AUF ROTEM TEPPICH (EIN TRAUMBILD)

Dumme Weltsicherheitslage, dumme! Warum kann die derzeit nicht ein gutes Stück entspannter sein? Gut, die Berlinale-Veranstalter werden schon die ein oder andere Wagenladung Kerzen stiften, nur weil der Irak-Krieg gottseilobunddank noch immer nur ein (wagt man noch zu sagen: möglicherweise?) bevorstehender solcher ist. Und mithin die amerikanischen Stars nicht samt und sonders ihre Flüge gecancelt haben. Aber trotzdem hat die leidige Angelegenheit einen Gast gekostet, der die Hollywood-Prominenz zu Nebensonnen degradiert hätte: Kein Scherz - Fidel Castro hat offenbar ernsthaft erwogen, zur Premiere "seines" Films COMMANDANTE nach Berlin einzuschweben!
Dass er sich das dann doch nicht getraut hat, ist wohl insofern gut, als Deutschland durch einen Galaempfang für den Maximo Lider wohl auf der Shit-list der USA noch ein paar Plätze nach oben geklettert wäre, und man will da ja doch nicht zu nah bei Nordkorea landen... Aber was wäre das für eine Schau gewesen!
So musste man mit Oliver Stone vorliebnehmen, was wiederum auch nicht verkehrt war alldieweil er seine Doku über Kubas Nummero Uno weidlich zur Selbstdarstellung nutzt und somit nicht DIE Hauptfigur, sondern nur EINE der Hauptfiguren des Films daheimgeblieben war. Freilich die interessantere.
Der wohl weltberühmteste Bartträger (dem Stone im Film mit einem Pornobalken auf der Oberlippe scheinbar nachzueifern sucht) ist als Doku-Objekt denn auch so faszinierend, dass nichtmal Stones Regie dagegen ankommt. Die will uns nämlich nie vergessen lassen, dass Fidel hier vor und für die KAMERA agiert - ach, was heißt DIE: für stets vier bis fünf Kameras, zwischen denen dauernd wild geschnitten wird, um auch ja die Momente auf die Leinwand zu bringen, wo sie gerade am meisten wackeln. Und um uns nie die zentrale, mindestens alle fünf Minuten groß ins Bild gerückte Erkenntnis des Films aus dem Gedächtnis entwischen zu lassen: Dass nämlich Fidel Castro ziemlich lange Fingernägel hat.

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KEIN PREIS GEHT AN... (1. ABTEILUNG)

Wenn bei einem Filmestival, allgemeines Bröckeln und Bröseln hin oder her, etwas immer bis zum Schluss spannend bleibt, dann ist es eigentlich der Wett- und Schaulauf um die Preise. Aber auch dessen Entscheidung am Samstag fühlte sich nicht an wie der Höhepunkt der Berlinale sondern wie etwas, das nun auch noch eben zu erledigen wäre, bevor mit dem sonntäglichen "Kinotag" (Filmwiederholungen für's gemeine Volk; eine begrüßenswerte Neuerung angesichts der beeindruckenden Neugier, Begeisterung und Ausdauer mit denen die Berliner stets den Kampf um Karten auf sich nehmen, um den Festivalvorführungen selbst noch des obskursten Films als Publikum beizuwohnen), bevor also mit diesem "Kinotag" sanfter als sonst ins normale, wahre Leben zurückgeleitet wurde.
Vielleicht lag's daran, dass man sich schwer tat, einen Favoriten auszumachen - sowohl was die voraussichtliche Jury-Entscheidung als auch die eigene Rangliste anging. Zu viele sehr gute Filme waren dafür im Wettbewerb, zu wenig absolut überragende, und keiner, der offensichtlich die Qualifikationen für einen Festivalsieg hatte (was nochmal ganz andere sind als überragende Qualität).
Auf den Kritiker-Punktlisten in den Zeitungen konnte sich THE HOURS ziemlich weit nach vorne setzen, aber in Kürze regulär anlaufende, starbesetzte Hollywood-Produktionen von nicht als Auteurs anerkannten Regisseuren gewinnen keine europäischen Festivals. (Ich habe den Film selbst noch nicht gesehen, vermute aber nach allem, was ich darüber weiß, dass ich ihn recht brav finden würde.) Aus ähnlichen Gründen schied CONFESSIONS OF A DANGEROUS MIND mit ziemlicher Sicherheit als Kandidat aus - auch wenn George Clooney damit endgültig bewies, was spätestens O BROTHER, WHERE ART THOU? schon dringend nahelegte, nämlich dass der Mann vollsten Respekt verdient. (Es ist, nebenbei bemerkt, ganz erstaunlich, mit welcher Aggressivität sich viele Leute dagegen weigern anzuerkennen, dass manche Menschen gutaussehend und erfolgreich sein können und dabei trotzdem (?) noch wirklich was auf dem Kasten haben - siehe auch die Reaktionen auf Tom Cruise oder Julia Roberts.) Man fühlte sich erinnert an Orson Welles' Diktum, Filmemachen sei das allertollste Modelleisenbahn-Set: Clooneys Regiedebut sprüht in jeder Minute vor Freude an den Möglichkeiten des Kinos, ist - obwohl das Material das keineswegs von sich aus aufdrängen würde - ein durch und durch visueller Film, voll von Ideen und Experimenten, ohne planlos zu sein. Gerade von einem Schauspieler hätte man nicht erwartet, dass er so tief Film als Kunst der Bilder, Bilder, Bilder begreift. Chapeau, Herr Clooney, und weiter so! (Und Ironie des Schicksals, dass für diesen Film dann ausgerechnet ein Darstellerpreis an Sam Rockwell ging...)
Weil wir bei Clooney sind: Soderberghs SOLARIS hatte schlechte Karten, weil Tarkowskij-Remakes freilich prinzipiell misstrauisch beäugt werden; und mehr wohl noch, weil Hollywood-Starkino zwar für Berlinale-Jurys der schlechte Ruch der Kommerzialität anhaftet, es aber dann noch weniger verzeihenswert ist, wenn es (anerkannter Auteur als Regisseur oder nicht) sich extrem langsam und enigmatisch gibt UND in Amerika an der Boxoffice bitter gescheitert ist. No one likes a loser.

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GANZE TREPPE

Auf dem besten Wege, zur echten Berlinale-Tradition zu werden, ist es, dass Johnnie To mit dem ein oder anderen seiner über's Jahr fertiggestellten Filme dabei ist. Das hat mir persönlich letztes Jahr das gesamte Festival gerettet (wir erinnern uns: FULLTIME KILLER am Ende vier Mal in drei Tagen geguckt). Diesmal lastete weniger Verantwortung auf seinen Schultern, dank vollauf beglückendem Restprogramm. Trotzdem auch PTU - so der Titel des neuesten Streichs - wieder mit dabei auf den ganz vorderen Plätzen. (Und der Meister war höchstselbst vor Ort, was undank der Sprachbarriere leider weniger ergiebig war, als man sich erhofft hätte. Aber, zur Ehrenrettung des Dolmetschers: Wenn die Leute auch nach (Zitat) "demolierten Antithesen von Clint Eastwood" (Zitat Ende, und nein: wir wissen auch nicht wieso, weshalb, warum) fragen, dann ist man halt auch schnell am Ende seines Kantonesisch angekommen...)
Anyway: PTU ist wieder eines von Tos zuvörderst der eigenen künstlerischen Befriedigung dienenden Projekten. (Wo man jetzt aber auch mal sagen muss: Wenn alles, was als kommerziellen Ewägungen gehorchendes Kino gilt, so aussähe wie die Filme, die Johnnie To aus seiner Sicht hauptsächlich um des Geldes Willen macht, dann BITTE DREHT MEHR KOMMERZIELLE FILME!!!) Und entsprechend nutzt PTU noch mehr, als To das prinzipiell tut, seine Genre-Elemente als Folien und Bausteine, die - über- und umgeschrieben, ungewohnt zusammengesetzt - insgesamt etwas anderes ergeben als "nur" einen Genre-Film.
Eine Nacht in Hong Kong. Einem Polizisten (Simon Yam mal wieder als grandioser Kackspecht-Darsteller) ist seine Dienstwaffe abhanden gekommen. Damit liegt plötzlich Bedrohung in der Luft: Das geregelte Gleichgewicht aus legaler und illegaler Gewalt wankt; eine Waffe des Gesetzes, außer polizeilicher Kontrolle geraten, das ist geradezu eine Einladung an das Schicksal, an den Tod, zuzuschlagen. Es scheint diese MÖGLICHKEIT eines Verbrechens für die Polizisten fast angsteinflößender zu sein als ein real verübtes. Offiziell ist der Vorfall noch nicht gemeldet, eine Polizeieinheit streift durch die Straßen, stapft durch den Regen, auf der Suche nach der Pistole; dabei selbst keine Gewaltanwendung scheuend. Das wird bei To mindestens so sehr zum Stimmungsbild wie zum Thriller. Wenn die Truppe einen Raum im obersten Stockwerk eines Hauses stürmen will, dann zeigt To das Etage um Etage, so lange die Treppen eben sind. Und die Sache gerät To auch mehr zur Philosophie als zum Krimi. Die perversen Zufälle sind es, die alles in Bewegung setzen und halten. Der Film hat was von einer existentialistischen Komödie, aber andererseits führen die dummen Missverständnisse, die gekreuzten Wege, die Synchronizitäten letztendlich zu so schön gemein und teils tödlich geschlossenen Kreisen, dass man ihm auch schon wieder den Glauben an sowas wie einen Gott unterstellen kann. Einen Gott, der sich auf Kosten seiner Kreaturen mit boshaften Scherzen unterhält wie ein Kind im Sandkasten mit Ameisen.
Im übrigen kann man (so einem lediglich zwei Filme als Indizienkette genügen) dann auch gleich einen Trend im Hong Kong-Polizeifilm konstatieren: Weg von der Action, hin zu mehr Mobiltelefonen. Auch Andrew Laus und Alan Maks INFERNAL AFFAIRS spart sich weitgehend die Shootouts und knüpft seine Plot-Verknotungen (noch exzessiver als PTU das tut) mittels Handy. Insgesamt freilich weniger überzeugend als To - das zog sich gelegentlich schon ein bisserl in die Länge. Aber dafür mit schöner Grundkonstellation: Die Polizei hat einen Undercover-Agent bei den Triaden, und die Triaden einen bei der Polizei. Und mit fabelhafter Besetzung: Andy Lau und Tony Leung in den Hauptrollen, und - was fast noch schöner ist - Anthony Wong und Eric Tsang, zwei der weltgenialsten Charakterdarsteller, als ihre jeweils Vorgesetzten.

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SILBENRÄTSEL

Zerfallserscheinungen auch auf den Plakaten. Eigentlich so klar und eindeutig wie nie, das stets so beliebte "Was wollte uns der Entwerfer damit sagen?"-Rätsel entfiel: Grauer Hintergrund, in fetten, roten Lettern BERLINALE, dahinter in dünnen schwarzen Umrissen ein Filmstreifen angedeutet und das Motto "towards tolerance". Ganz aber nur lesbar, wenn man die Plakate aller Reihen und Sub-Festivalsabteilungen nebeneinander legte, über die der Schriftzug verteilt war. Kein Problem für Insider, das Design wiederzuerkennen auch auf den einzelnen Plakaten und die Wortausschnitte in den richtigen Kontext zu bringen. Aber was das wohl dem weniger informierten Passanten gesagt haben mag, dass da beispielsweise am Zoopalast nur ein riesiges "lina" prangte? Wahrscheinlich lief da so mancher durch die Stadt, der sich vergeblich auf eine große Wertmüller-Retro freute...

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KEINE STIMMEN FÜR MURNAU

Und dann hinter, neben, während allem immer wieder F.W. Murnau. Die Retrospektive ein Stück Kino-Heimat, in das man gerne zurückkehrte fast jeden Tag. Das ist Filmemachen als fröhliche Wissenschaft; viel verspielter, auch sogar alberner als Fritz Lang, aber nicht minder genau ausgetüftelt. Eine hinreißende Bürgerlichkeit lugt aus diesen Filmen, ein 19.Jahrhundert-Flair, als bemächtigte sich der Biedermeier dieses damals modernsten aller Medien, um dann doch immer wieder bei der Schauerromantik zu landen. Aber es sind eher liebenswert gruslige Dämonen der Vergangenheit, die da herumspuken, als die heraufziehenden aus Murnaus Gegenwart. Die Welt dieser Filme sind möblierte Interieurs, verfallende Schlösser und die Natur, nicht Straße, Fabrik und Stadt.
Es ist immer problematisch, die Zufälle des Schicksals als Symbole zu deuten, aber es scheint zumindest passend, dass Murnau, im Gegensatz zu Lang und Pabst, zusammen mit der Stummfilmära gestorben ist. Sein Werk bleibt ganz das einer fremden Zeit; inmitten der Berlinale eine seelige Insel der Entrückung und Verzückung.

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KEIN PREIS GEHT AN... (2. ABTEILUNG)

Während letztes Jahr alle ganz hin und weg waren von 8 FEMMES, der ein schöner Film ist, aber nicht einmal halb so musikalisch, beschwingt und erst recht nicht flott und lustig, wie dauernd behauptet wurde, zogen dieses Mal plötzlich alle die Hasskappe auf, als der holländische Beitrag JA ZUUSTER, NEE ZUUSTER sich erdreistete, einfach nur musikalisch, beschwingt, flott und lustig zu sein. Das schien auf einmal ein furchtbarer Affront, der auch gesehen wurde, als hätten die Filmemacher mit ihrem Musical nie irgend etwas anderes beabsichtigt als just am Berlinale-Wettbewerb teilzunehmen (in den sie tatsächlich zu ihrer eigenen kompletten Überraschung spät hineingerutscht waren). Dabei muss doch zuallererst mal festgestellt werden, dass Niederländisch eine wahnsinnig lustige und nette Sprache ist, wenn man Deutsch kann. Wie schön, wenn beispielsweise eine junge Dame das Verliebtsein auf den ersten Blick zum Ausdruck bringt mit: "He gevt mi de Kribbels." (Alle Holländer mögen meine garantiert grottenfalsche Transliteration des Gehörten bitte verzeihen.) Und dann hat kein anderer Wettbewerbsbeitrag das Berlinale-Motto "towards tolerance" auf so ungezwungene, vergnügliche, menschliche, selbstverständliche Art und Weise ausgelebt wie dieser. Und schließlich ist das doch eine ebenso schöne wie interessante Sache, wenn da von einer Kult-TV-Serie der '60er eine Filmversion gemacht wird, obwohl alle Sendebänder der Fernsehshow längst vernichtet sind und die Niderländer offenbar alle nur die wachste und wärmste Erinnerung an diese Sendung haben. Weshalb JA ZUUSTER, NEE ZUUSTER also (zumal die Filmemacher nach eigener Auskunft zum Großteil diese Sendung nie sehen konnten, weil sie zu jung sind oder damals keinen Fernseher hatten) eigentlich eher die Filmversion dieser ERINNERUNGEN und nostalgischen Gefühle ist.
(Nebenbei: Muscial als Eröffnungsfilm, Musical im Wettbewerb, Musicals in der Shaw Bros.-Hommage, Musicals allüberall auf dieser Berlinale. Aber ausgerechnet Bollywood, das letzte Kino-Land mit einer wirklich dominierenden, ungebrochenen Musical-Tradition war mit COMPANY vertreten - einer sehr schönen (und am Ende schön tragischen) indischen Version von THE GODFATHER -, der es als besondere Leistung ansah, sehr wenige Musiknummern und die dann in den Plot eingearbeitet zu haben...)
Nun ja, so gab es also Film für Film gute Gründe, warum er eigentlich durchaus hätte preiswürdig sein können und warum er aber real als Preisträger kaum in Frage kam. Claude Chabrols LA FLEUR DU MAL - möglicherweise eine Inzestgeschichte, ganz sicher aber ein wunderbarer Film über großbürgerliche Familiengeheimnisse und Politik - hatte darunter zu leiden, dass alle Subtilität, Genauigkeit, Boshaftigkeit, Süffisanz offenbar für viele wenig zählt, wenn ein Regisseur schon öfters bewiesen hat, dass er meisterlich subtil, genau, boshaft und süffisant sein kann. ALEXANDRA'S PROJECT von Rolf de Heer dagegen hatte ein paar völlig unerwartete, großartig perverse Momente, die einen so richtig aus dem Kinosessel heben konnten; war auch ein Stück weit eine hübsche Reflexion über die Angstlust beim Filmanschauen, über Suspense: Ein Mann findet sich an seinem Geburtstag in seinem Haus eingeschlossen und daselbst von seiner Frau nur eine Videokassette vor, auf dem sie erst einen Striptease hinlegt, dann aber offenbart, wie sehr sie ihn und die Ehe hasst. Die einzige Chance, die er hat, möglicherweise aus seiner Situation freizukommen, ist, das Band ganz anzuschauen, auch wenn er eigentlich alles andere lieber täte als das. Nicht unklug, das alles, aber dann auch wieder zu konstruiert, zugleich eine Lehrbuch-Anklage gegen Männerphantasien, die selbst immer wieder nach Männerphantasie riecht und die ihre Integrität als Charakterstudie zu oft zugunsten der Unterhaltsamkeit, der überraschenden thrillerähnlichen Wendungen aufgibt. Mit diesen Thriller-Anklängen dann sowieso nicht die Art Film, die bei Berlinalen groß punkten könnte, und dazu der letzte Film im Wettbewerb, was allein meist schon jenseits aller anderen Faktoren einen fast aussichtslosen Stand beschert.

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O BROTHER...

So, und jetzt, da aber doch ADAPTATION mit einem Silbernen Bären bedacht wurde, muss ICH mich endlich einmal zu Wort melden: Gestatten, Dagobert Willmann. Ich kann Ihnen nämlich ein Geheimnis verraten: Thomas mochte ADAPTATION nur deshalb nicht so besonders, weil er die Sache mit den Zwillingen nicht vertragen konnte. Er mag nämlich auch mich nicht besonders, und da kann er es nicht haben, dass da im Film ein Autor, der sich ewig mit seinen vermeintlich künstlerisch hoch wertvollen Texten plagt, einen - wie er findet: ahnungslosen - Zwillingsbruder hat, der drauflosschreibt und damit Erfolg hat. Es wäre ihm sicher auch lieber, wenn ich jetzt den Mund halten würde, und bestimmt erklärt er jedem, der's hören will, dass ich vom Schreiben nix verstehe. Obwohl ich einen Ratgeber gelesen habe, der erklärt wie's einfach und richtig geht und ich jetzt problemlos einen ganzen Berlinale-Bericht abliefern könnte, so mit "Nebel liegt über dem Potsdamer Platz" und allem drum und dran...
Aber ich erzähl' Ihnen mal was: Ich geb' wenigstens zu, wo ich mich auskenne und wo nicht. Aber Thomas schreibt ihnen was hin zum Umgang mit Raum bei Ozu und so, und dabei what er mir in einem unvorsichtigen Moment nach mehreren Bieren verraten, dass er in TOKYO MONOGATARI nur rein ist, weil er's verwechselt hat mit TOKYO NAGAREMONO von Sejun Suzuki! Und dass er, bis der Vorhang hochging, noch immer drauf gewartet hat, dass da jetzt gleich die Yakuza sich bekriegen, in Cinemascope und den wildesten Farben! Ha, und so einer tut so, als wüßte er was.
Und überhaupt garantier' ich Ihnen: Irgendwelcher toller Umgang mit Raum ist dem nicht halb so wichtig bei einem Film, als dass hübsche Asiatinnen mitspielen. (Wobei er da glaub' ich gar nicht so wählerisch ist: Hübsche Französinnen, oder Ungarinnen oder was immer auch tun's genauso.) Ja ja, immer feste schimpfen auf so Daumen-hoch-oder-runter-Wertungen und Spannung/Action/Anspruch/Erotik/Humor-Kästchen in Film- und Fernsehzeitschriften, und dann hat der selbst im Hirn doch auch nix anderes als Formulare zum Ankreuzen: "Blutige Shootouts/Anknüpfungspunkte für filmhistorisches Fachwissen/Hübsche Asiatinnen," und so. (Bei der Reihenfolge bin ich mir jetzt nicht sicher.)
Und außerdem habe ich schwer den Verdacht: Auf die Pressekonferenzen geht er - außer, wenn dort hübsche Asiatinnen auf dem Podium sitzen - doch auch nur wegen der süßen Mikrofonreich...

(Ein Schuss aus dem Off.
Wir widmen diesen Artikel unserem viel zu früh heimgegangenen Zwilling.)

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IM REICH DER GLYCERIN-TRÄNEN

Geschimpft wurde reichlich, wie kalt es mal wieder (und diesmal noch mehr als sonst) in der Bundeshauptstadt war. Aber Schnee auf der Leinwand, das ist freilich was ganz anderes! Schnee im Film, das gehört zu den schönsten Dingen im Kino überhaupt - und es müßte das Filmmuseum unbedingt mal eine Reihe mit Schneefilmen (und insbesondere: Winterwestern!) bringen. IL GRANDE SILENZIO, THE CLAIM, FARGO, EDWARD SCISSORHANDS könnten da beispielsweise laufen. Und: INTIMATE CONFESSIONS OF A CHINESE CONCUBINE! Was eine Entdeckung im Rahmen der wunderbaren kleinen Shaw Brothers-Hommage des Forums! Die war ja insgesamt für nur fünf Filme erstaunlich breit gefächert und sehr interessant (wie das religiöse Leben Erlangens zu seligen NDW-Zeiten...). Natürlich auch '70er Jahre Martial Arts-Klassiker aus Hong Kongs damals wichtigster Filmeschmiede - 36TH CHAMBER OF THE SHAOLIN endlich mal ungeschnitten und auf üppig bemessener Leinwand, und King Hus COME DRINK WITH ME (wie Herr Peters richtig bemerkte einer der weltschönsten Filmtitel), SEHR groß, sehr nah an Sergio Leone und auch eine prima Ergänzung zu HERO im Wettbewerb. (Eine King Hu-Reihe gehört auch zu den Sachen, die das Filmmuseum mal DRINGEND veranstalten sollte...) Aber dann eben auch zwei Musicals, einmal in unglaublichsten Farben, mit traditioneller chinesischer Musik (zu der offenbar auch Frühformen des Rap gehören!) und zunächst einem sehr lustigen Kaiser auf Grillenfang, dann aber einem ganz tragischen Ende THE KINGDOM & THE BEAUTY; zum anderen nicht ganz so bunt, aber in Breitwand, mit '60er Jahre-Musik (und man hat nicht wirklich gelebt, bis man nicht Cheng Pei Pei im Trio mit zwei Filmschwestern ein A-Go-Go-Turnier gewinnen gesehen hat!) und einer ebenso packenden Mischung aus Humor und Dramatik, inklusive einer wirklich grusligen Geistererscheinung, HONG KONG NOCTURNE.
(Nebenbemerkung: Zu den Vortielen von Festivals gehört es auch, dass sich da zwischen Filmen immer wieder unerwartete Querverbindungen auftun. Zhang Yimous HERO hätte ohne den Erfolg von Ang Lees CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON wohl schwerlich seine Finanzierung gefunden, und so war es besonders passend, dass während der Berlinale "Jade Fox" Cheng Pei Pei in jungen Jahren - und in Martial-Arts-Meilensteinen - zu sehen war. Während ihr Tochter zugleich in Peter Ho-Sun Chans HUI JIA - eine "extended version" der Episode aus der Asien-Horro-Anthologie THREE - als schöne Leiche zu sehen war. Was dort übrigens durchaus eine der Hauptrollen ist.)
Und schließlich: INTIMATE CONFESSIONS, in dem im gleichen Maße die Glycerintränen an den Wangen kullerten wie die Glyerinschweißtropfen auf den Stirnen perlten, inmitten herzerwärmenden Studio-Kunstschnees. Los ging's wie ein übler Sexploitation-Film, mit verschleppten Maiden und Jungfernschafts-Inspektionen bei Kerzenlicht. Aber dann ein großer Rachefeldzug, using sex (among other things) as a weapon; I SPIT ON YOUR GRAVE mit der Eleganz und Kunstfertigkeit chinesischer Kalligraphie geschrieben - allein was da an poetischen Sachen mit Großaufnahmen miteinander Sprechender alles gemacht wurde, der Wahnsinn! Weil aber mit dem Süßen auch immer das Bittere vom Schicksal verabreicht wird war freilich genau das der einzige in keinerlei Weise restaurierte Film der Reihe, und da konnte man sich nicht immer ganz sicher sein, was da leise rieselnder Kunstschnee und was nur Alters- und Gebrauchsspuren-bedingtes weißes Rauschen der Kopie war...

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SYMPATHIE FÜR WIEDERKEHRER

Wer einmal da war, der kommt immer wieder. Das ist nicht nur ein beliebter Werbespruch der Tourismusbranche sondern auch ein Motto der Berlinale. Keine Ahnung, ob es eine genaue statistische Erhebung darüber gibt, aber gefühlsmäßig würde ich sagen, dass bestimmt die Hälfte der Regisseure und Hauptdarsteller, die mit einem neuen Werk vertreten waren (oder jetzt in einer der unzähligen Jurys saßen) schon früher einmal Filme auf der Berlinale laufen hatten. Es war ein Festival der guten, alten Freunde.
Was unleugbar große Vorteile hat, wenn man die entsprechenden Filmemacher schätzt. Wer weiß, wann und wo man jemals SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE (BOKSUNEUN NAEGUT) zu sehen bekommen hätte, wenn Park Chan-uk nicht schon mal seinen großartigen JOINT SECURITY AREA im Wettbewerb hätte laufen gehabt. Aber wo J.S.A. auf dem Felde der Hochglanz-Politthriller hollywoodscher Prägung ackerte, nur mit mehr poetischer Bildmacht und melodramatischer Tragik, da ist SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE noch am ehesten vergleichbar mit Filmen des Meister-Verstörers Takashi Miike.
Sympathie - die hat Park hier mit all seinen Charakteren insoweit, als er keinen verurteilt, als die Handlungen von allen verständlich bleiben. Doch Mitleid, oder gar Gnade - das kennt der Film nicht im Geringsten, weder mit seinen Figuren, noch mit seinen Zuschauern.
Von den ersten Momenten an liegt eine grandiose Traurigkeit über diesem Film, als hätte er das Ende schon fest im Blick, während die Charaktere noch leben, lieben und hoffen. Gerade das Lieben und Hoffen ist es aber, das in die Katastrophe führt: Der junge, taubstumme Protagonist will seiner Schwester eine Nierentransplantation schenken, aber erst hat er zwar das Geld dafür, doch es fehlt ein passendes Spenderorgan. Also wagt er sich zu illegalen Organhändlern (deren "Klinik" im obersten Stockwerk eines unfertigen Hochhauses ist), die ihm eine passende Niere besorgen - im Tausch gegen eine seiner eigenen und eine hohe Gebühr. Weshalb nun also wiederum das Geld fehlt. Zusammen mit seiner Freundin, einer der letzten Marxisten Südkoreas, entführt er daraufhin die kleine Tochter seines Ex-Chefs, von dem er jüngst entlassen wurde. Und ab da geht erst recht alles schief, zumal der Ex-Chef, aus Liebe zu seiner Tochter, auf erbitterten Rachefeldzug geht... Das alles geschildert mit einer durch und durch meisterhaften, elegischen Distanz, die nie zynisch wird; mit einem Gespür für Bilder, Räume, Rhythmen die atemberaubend ist. Mit einer Gewalttätigkeit, die - vor allem, weil man die Charaktere so gut verstehen lernt - oft wie ein richtiger Tritt in den Magen wirkt. Und irgendwie schafft es Park auch noch, dem allen einen bizarren Humor abzugewinnen.
Ein Film, der selbst mir letztlich zu heftig war, als dass ich ihn direkt zu meinem Lieblingsfilm des Festivals hätte ausrufen wollen. Aber kein anderes Werk hat mich auf dieser Berlinale derart in die Mangel genommen, so tief eingesogen und am Ende so wacklig aus dem Kinosessel entlassen.

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WIR UNTERBRECHEN DIESEN TEXT FÜR EINE WICHTIGE MITTEILUNG AN HERRN JACKIE CHAN:
LIEBER HERR CHAN, WIR DANKEN IHNEN HERZLICHST FÜR DAS AUTOGRAMM UND GÖNNEN IHNEN DAFÜR OHNE DAS GERINGSTE BEDAUERN UNSEREN FOLIENSTIFT (DER OHNEHIN SCHON RECHT ALT UND LEERGESCHRIEBEN WAR). WENN SIE ABER DIE ZURÜCKGELASSENE KAPPE ZU DEM STIFT NOCH BRAUCHEN, DANN MELDEN SIE SICH BITTE ÜBER DIE UNTEN ANZUFINDENDE E-MAIL-ADRESSE. WIR WOLLEN JA AUF KEINEN FALL, DASS SIE SICH SCHMUTZIG MACHEN. UND MIT UNVERKAPPTEN FOLIENSTIFTEN GEHT DAS DOCH SO LEICHT.

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DIE BESTEN GESCHICHTEN

Ergänzen Sie bitte diesen Satz: Das wahre Leben schreibt doch... Oder, anders gesagt: Das Anschauen von Dokus führt meist zur Feststellung, dass man sich eigentlich viel mehr Dokus anschauen sollte. Denn während beim Spielfilm gilt "It's the teller, not the tale", hat eine Doku schon gewonnen, wenn sie ein gutes Thema hat und sich dann nicht völlig grob fahrlässig dumm anstellt.
Beweisstück A: POWER TRIP. Der dem Genre sicher formal keine neuen Welten erschließt. Aber was eine Story! Der amerikanische Energieliefer-Gigant AES macht sich auf nach Georgien, um im ehemaligen Sowjet-Staat die Stromverteilung geregelt (und selbstverständlich: bezahlt) zu bekommen. Also ein Film über den bösen Kapitalismus und seine ruchlose Ausweitung der Kampfzone? Weit gefehlt. Denn es schmeckt den Bürgern der Stadt Tblisi zwar anfangs keineswegs, dass sie nun für etwas zahlen sollen, das sie bisher gewohnt waren, sich zumeist auf kostenfreiem Weg zu besorgen; mit Strom-Abzapf-Konstruktionen, die die Grenze zum Lebensgefährlichen sowieso, teils scheinbar aber geradezu die Gesetze des physikalisch Möglichen überschritten. Mit der Zeit aber wird dem Film "Strom" immer mehr zur Metapher für Macht überhaupt, werden die Kreise, in denen dieses scheinbar einfache Geschäft sich verfängt immer größer, grundlegender und verschlungener. Und AES wird für die Georgier (zumindest zeigt der Film es so) immer mehr zum Hoffnungsträger: Verkörpernd die Utopie eines Systems, in dem zuverlässig und transparent Leistung und Gegenleistung zusammenhängen; in dem wenigstens einen Winter lang einmal Tblisi durchgängig mit Strom versorgt ist. Und in dem nicht allein der Verwandschaftsgrad zu Präsident Schevardnaze darüber entscheidet, ob man etwas bekommt oder nicht.
In gewisser Weise war POWER TRIP damit eine prima Doku-Ergänzung zum Abschlussfilm GANGS OF NEW YORK (der andernorts mit einer eigenen Hymne bedacht werden soll, um den Rahmen dieses Berichts nicht komplett zu sprengen): Auch da geht es ja um die Ablösung eines alten Systems durch ein neues, geht es um die Durchsetzung dessen, was wir als Zivilisiertheit betrachten.

Beweisstück B: HERR WICHMANN VON DER CDU, vom heimlichen Gewinner der letzten Berlinale, Andreas Dresen. Dokument einer verlorenen Zeit, als es noch Bundesländer (in diesem Fall: Brandenburg) gab, in denen der SPD über 50% Stimmanteil sicher waren - September 2002. Und also ein Herr Wichmann, Direktkandidat der CDU, dort einen vergeblichen Windmühlenkampf führte beim Versuch, "frischen Wind in die Politik" zu bringen, wobei ihm meist einfach nur sein (seltsamerweise roter) CDU-Sonnenschirm um- und fortgeweht wurde. Unter dem er sich allüberall im Wahlkreis postierte, um hauptsächlich Kugelschreiber zu verteilen, nebensächlich aber auch die immergleichen Sprüche abzulassen von den bösen, Industrieansiedlung-verhindernden Umweltschützern mit ihren "Trockenwiesen und Fröschen" und ansonsten den diskussionswilligen Leuten schön brav ihre meist ausländerfeindlichen Stammtischsätze mit nur leicht abmilderndem "Na ja..." gutzuheißen, in der Hoffnung, dass ihn daraufhin doch irgendwer wählt.
Ziel des Filmes ist es dabei keineswegs, Herrn Wichmann bloßzustellen (obwohl der das teilweise selbst ganz gut erledigt). Es geht um ein Bild von Politik, oder genauer: Wahlkampf, auf der untersten, direktesten Ebene. Als solches ist der Film in gleichen Maßen absurd, komisch, ernüchternd und pessimistisch. Dazu geht es um ein Bild von einer Randregion Deutschlands, und da verschiebt sich der Eindruck deutlich hin zum Erschreckenden: Auch wenn es einer delirierenden Komik nicht entbehrt, wenn da beispielsweise im Wurstbuden-Biergarten zur Heino-Platte die Nationalhymne abgesungen wird und dabei die Kinder einen Fackelzug veranstalten müssen. Dann aber gibt es noch diese Szene im Altersheim, in das sich Herr Wichmann auf Stimmenfang begibt, woselbst ihm aber sehr bald die Sprüche ausgehen. Was nichts mit Politik und auch nicht viel mit Herrn Wichmann zu tun hat: Da gerät der Film durch die zufälligen äußeren Umstände plötzlich an Themen, neben denen sich seine eigentlich beabsichtigten sehr klein ausnehmen. Da kann er nicht anders als tieftraurig-nüchtern zu berichten über Einsamkeit, Hinfälligkeit und Sterblichkeit; über Konditionen menschlicher Existenz, bei denen Politik, Sprache und Bilder gleichermaßen blass und machtlos werden.

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KEIN PREIS GEHT AN... (3. ABTEILUNG, BEINHALTEND DEN GEGANGENEN PREIS)

Schließlich waren da im Wettbewerb selbstverständlich all die Quoten-Filme, von denen kaum je wirklich erwartet wird dass sie anderes erreichen als sicherzustellen, dass das afrikanische Kino repräsentiert ist und genug Werke über Straßenkinder oder sonstige bedauernswerte Randgruppen das Gewissen beruhigen, indem man sich anderthalb Stunden in absolut sicherem Rahmen ein schlechtes solches machen darf. In gewisser Weise zählen dazu auch die deutschen Beiträge, auch wenn die dieses Jahr ihren Platz im Wettbewerb viel eher qualitativ zu rechtfertigen wussten als 2002; Oskar Röhlers DER ALTE AFFE ANGST möglicherweise ausgenommen, von dem nie anderes zu hören war als dass man recht daran getan hatte, wenn man ihn sich gleich ersparte.
Patrice Chéreau hingegen hat schon einen noch reichlich frischen Goldenen Bären im Regal, was SON FRÈRE von vornherein auf ziemlich aussichtslosen Posten stellte; Zhang Yimous HERO war viel zu sehr pures, fantastisches, bild-, farb-, musik- und illusionsfreudiges Kino, um hier Gnade zu finden. Und Spike Lees THE 25TH HOUR kam für einen Bären nicht in Frage, weil... Tja, warum eigentlich nicht? Wo es doch sein überzeugendster Film seit Jahren ist; eine im Privaten gespiegelte, große, fast epische Post-11.09.01-New York-Elegie, die Raum hat sowohl für eine vitriolversprühende Hasstiraden-Fantasie und einen paradiesischen Traum von Amerika. Ein grandios gespielter, grundmusikalischer Film, dessen Atmosphäre fast mit Händen zu greifen ist - und endlich mal wieder ein Werk, in dem Lee nicht doziert und belehrt, in dem er nicht WEISS sondern FÜHLT.

Der Goldene Bär für IN THIS WORLD geht trotzdem in Ordnung, auch wenn zu befürchten ist, dass der Film ihn weniger wegen (oder gar: trotz) seiner letzte Woche beschriebenen Qualitäten bekommen hat und mehr aus thematisch-politischen Erwägungen; dass also unter Umständen eher der Film ausgezeichnet wurde, den man aufgrund einer Inhaltsangabe erwarten würde als der wirklich auf der Leinwand zu sehende. So oder so, Michael Winterbottom erhält den güldenen Meister Petz zu Recht allein schon deswegen, weil er ihn vor zwei Jahren für THE CLAIM schon hätte kriegen müssen.

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GENIALES MEISTERWERK, WIE GEHABT

Noch so eine Berlinale-Tradition, wenn auch zuletzt nicht ganz so regelmäßig wie Johnnie To-Premieren: Sabu kommt, stellt sich vor als Genie, kündigt seinen neuen Film als Meisterwerk an, macht ein Foto vom Publikum. Und dann kommt der Film, und unverschämterweise hat Sabu mit seiner großen Schnauze auch jedesmal recht. Dieses Jahr hat er immerhin selbst festgestellt er komme jedesmal, stelle sich als Genie vor, kündige an sein Film sei ein Meisterwerk und mache dann ein Foto vom Publikum. Um dann genau das zu tun.
Und vielleicht hatte er mit der Meisterwerk-Behauptung bei THE BLESSING BELL (KOUFUKU NO KANE) sogar noch ein bisschen mehr recht als sonst schon immer.
(Es ist ein bisschen schwer, diesen Film angemessen zu preisen, ohne dabei gleich viel zu viel zu verraten, deswegen sollten sicherheitshalber jetzt mal alle weglesen, die noch hoffen, THE BLESSING BELL irgendwann zu sehen zu bekommen. Die Chancen auf einen deutschen Verleih stehen übrigens gar nicht schlecht...)
Wenn man beschreibt, wie extrem ruhig, reduziert, superstreng, ultragenau dieser Film zu Werke geht, klingt das wahrscheinlich sofort nach klassischer japanischer Schule, ohne dass das Wichtigste dabei bewusst würde: Nämlich wie rasend komisch dies alles zugleich ist. Das Berlinale-Programmjournal zog den Vergleich zu Kaurismäki, und der ist nicht verkehrt; aber noch viel mehr fühlte ich mich an Jacques Tati erinnert: Das ist die selbe hohe Schule eines Humors, der ganz auf Rhythmus beruht. Susumu Terajima könnte man in THE BLESSING BELL auch durchaus als einen ganz entfernten, japanischen Verwandten von Monsieur Hulot sehen: Völlig wortlos und ziemlich frei von emotionaler Regung streift er durch die Gegend - auf der Leinwand stets von links nach rechts - und tappt dabei in eine absurde Episode nach der anderen. Er erlebt unter anderem den Tod eines Yakuza, wird als vermeintlicher Mörder verhaftet, sieht einen Geist, gewinnt Millionen im Lotto, rettet ein Kind, verliert die Lottomillionen wieder... (Den Geist spielt übrigens kein geringerer als Seijun Suzuki - laut Sabu nicht als Verneigung gegenüber dessen Werk, sondern weil es in Japan so wenige alte Männer als Schauspieler gäbe...)
Das wäre alles an sich schon reichlich genial, aber man kennt ja das alte Problem bei solch völlig episodischen Geschichten: Sie sind schwer zu einem überzeugenden Ende zu bringen. Und da zieht THE BLESSING BELL seinen brillantesten Trumpf: Zum Finale RENNT sein Held die gesamte Strecke des Films zurück, nun von rechts nach links durch alle erlebten Stationen. Kehrt heim - der vermeintlich stoische Einzelgänger und Outsider - in ein Einfamilienhaus, wo Frau und Kind auf ihn warten. Und beginnt - nachdem er den ganzen Film kein einziges Wort gesagt hat - mit belanglosem Smalltalk. Über allem japanisches Abendglockenläuten.
Es gab tatsächlich einen im Publikum, der das so 1:1 nahm, dass er sich bei der anschließenden Diskussion bemüßigt fühlte zu fragen, warum Sabu denn die Kleinfamilie als Lösung aller Probleme sähe...

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SCHWEIN

Sie wollen jetzt auch noch wissen, was der allerschönste, also der wirklich allerallerschönste Film der ganzen schönen Berlinale war? Tja, der lief gar nicht im offiziellen Programm, sondern auf dem Filmmarkt, im Unterbauch des Maxx, bis in den keinerlei Glamour vordringt; wo alles nach Arbeit und Geschäft riecht, die Kinos schmucklose 40-Plätze-Schachteln sind und die Besucher (außer ein paar eingeschlichenen Journalisten) keine Filmfans, sondern Einkäufer.
Den schönen Titel trug er MY LIFE AS MCDULL, und ein Zeichentrickfilm aus Hong Kong war's, über ein kleines Schwein, dessen Mutter hochfliegende Pläne für es hat und das selbst davon träumt, etwas Großes zu werden (zum Beispiel Olympiasieger im "Bunsnatching" - für Bayern: Semmelstehlen, für Berliner: Schrippenschnappen -, einer ausgestorbenen Traditions"sportart" einer chinesischen Provinz). Das aber viel zu traumduselig und dödelig ist für alles, und zu unattraktiv obendrein.
Das war a) ein unglaublich süßer Film b) einer der visuell weitaus am verrücktesten und innovativsten dieser zwei Kinowochen c) voller bizarrer Gags und vor allem d) schlussendlich ganz unerwartet ein wirklich tiefer, gar nichts verniedlichender, großer Film über die Enttäuschung im Leben. Leider ging dann aber meine Ein-Mann-Demo "Einen Bär für das Schwein!" im Anti-Kriegs-Protestmarsch ein wenig unter.

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DIE RÜCKKEHR DER REQUISITEURIN

Also, nun doch endlich zurück zu unserer Requisiteurin vom Anfang, die dabei war, jede Hoffnung für's Kino zu verlieren. Diese Dame ist eine Figur aus LAST SCENE von Hideo Nakata (auch so ein Wiederkehrer: sein DARK WATER war letztes Jahr einer der wenigen Lichtblicke).
Es war der vorletzte Film, den ich mir auf der Berlinale angeschaut habe, und eine schönere, wärmere Liebeserklärung ans Kino hätte ich mir zum Abschluss gar nicht wünschen können.
Besagte junge Requisiteurin arbeitet in LAST SCENE wie erzählt bei einer Kino-Version einer TV-Arztserie, mit einem trotteligen, planlosen Jungregisseur (dessen prägendes Filmerlebnis, das ihn seinen Berufswunsch fassen ließ, THE OMEN 2 war...), einer weitgehend uninteressierten Crew und unfähigen Schauspielern, in einem Studio am Rande der Pleite.
Aber da ist dieser Nebendarsteller, ein alter Mann, der einen sterbenden Krebspatienten zu verkörpern hat. Seit 40 Jahren war er in keinem Film zu sehen, nachdem es in den '60ern mit seinem Ruhm fast über nacht zu Ende gegangen war. Damals war er nicht einmal ein besonders engagierter oder liebenswerter Vertreter seiner Zunft - ehrlich gesagt sogar ein ziemliches Arschloch. Aber jetzt will er noch ein einziges Mal auf die Leinwand. Fast verliert er die Chance dazu, weil er sich seinen Text einfach nicht merken kann und die Zeit drängt, seine Szene gestrichen zu werden droht. Aber dann erscheint ihm seine tote Frau, probt mit ihm den Text. Die junge Requisiteurin und die paar alten Hasen im Team reißen sich zusammen, entdecken plötzlich wieder ihre Liebe zum Detail, zum Perfektionismus, nehmen Regisseur und tobendem Produzenten das Heft aus der Hand. Auf einmal ist es da, das Gute, Wahre, Schöne, inmitten all des Falschen und Zynischen dieser belanglosen Produktion. So stark, dass selbst die Fernsehschauspieler es spüren, angesteckt werden.
Es wird eine Szene von herzzerreißender Größe. Man weiß: Sehr lange wird der alte Schauspieler sie nicht überleben. Aber die Requisiteurin, die die ganze Zeit während der Großaufnahme am Bühnen-Sterbebett saß als wäre es ein echtes, sieht ihn danach an und verspricht: Sie wird nie auffhören, Filme zu machen.

Selbst wenn diese Berlinale nicht voll gewesen wäre von begeisternden Werken, wenn sie nicht eine solche Feier gewesen wäre des Films und seiner Möglichkeiten; ja, wenn es sonst keinen einzigen erträglichen Streifen gegeben hätte auf dem ganzen Festival: Hier, am Schluss von LAST SCENE, dieser wunderschönen Ode von tiefstem Herzen, hätte man zusammen mit der jungen Requisiteurin den Glauben an die Magie des Kinos zurückgewonnen.

Thomas Willmann

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