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Berlinale 2000 Februar 2000
 
 

Alte Meister, verlorene Paradiese
Das Internationale Forum auf der Suche nach dem anderen Kino

30. Internationales Forum
 
 
 
 

Zuerst sieht man nur einen Apfel. Gut ausgeleuchtet vor dunklem Hintergrund schwebt er im Raum. Einen kurzen meditativen Augenblick bleibt alles in diesem paradiesischen Stillstand. Dann setzt sich die Kamera in Bewegung.
Diese filmische Version eines niederländischen Stillebens ist natürlich kein Zufall. Denn im Folgenden begleitet Michael Kreihsls eindringlicher Film "Heimkehr der Jäger" den Maler Franz (Ulrich Tukur) auf seinem täglichen Weg ins Wiener Kunsthistorische Museum. Dort arbeitet er als Kopist. Im ersten Teil des Films erinnert man sich an Thomas Bernhards Roman "Alte Meister": Franz trifft auf einen nervtötenden Konkurrenten (Nikolaus Paryla), dessen Gerede ihn nicht weniger in stille Wut versetzt, als die Besuchsgruppen und das aus seiner Sicht oberflächliche Geplauder der Führer. Eines Tages beschließt Franz zu handeln, und seine Zuschauer werden zu Zeugen einer modernen Don-Quixotterie, in der der Held sich mit den Zerrüttungen des modernen Daseins und des eigenen Lebens nicht mehr abfinden will. In der Schneelandschaft des österreichischen Ostens sucht er sein eigenes verlorenes Paradies wiederzufinden.

"Heimkehr des Jägers" ist einer von den rund 80 Filmen im Internationalen Forum der Berlinale. Angesichts eines mehrheitlich enttäuschenden Wettbewerbs verdient dieser Teil des Festivals diesmal besondere Aufmerksamkeit. Hier pflegt man bewußt ein Kino abseits des Glamour, neben Unterdogs, Outsidern und jüngeren Filmemachern tummeln sich hier aber auch viele in ihrer Heimat renommierte Regisseure, die den Sprung in den Wettbewerb verpaßt oder gar nicht erst anvisiert haben.
Neben dem traditionellen Asien-Schwerpunkt bilden diesmal Filme aus kleineren europäischen Ländern ein zweites Zentrum. Dabei offenbaren sich überraschende Verwandtschaften.

In der Satire "Der Geist von Marschall Tito" des Kroaten Vinko Bresan reist der Polizist Stepan per Fähre auf eine Insel. Er will das Gerücht überprüfen, dort erscheine gelegentlich der Geist des jugoslawischen Marschalls Tito. So beginnt eine absonderliche, märchenhafte Geschichte, in der alle Darsteller aus der historischen Mottenkiste des Balkan durcheinanderpurzeln. Mit neuen Geschäftemachern rechnet Bresan genauso ab, wie mit den Ewiggestrigen seiner Heimat - ein kurzer Einblick in den gegenwärtigen geistigen Zustand des östlichen Europa.

Die Insel als lost paradise - dieses alte Motiv, im Wettbewerb durch Danny Boyles mißglückten "The Beach" in Werbespotmanier variiert, begegnet einem auch in "Das Frühlingstreffen der Feldhüter" des Griechen Dimos Avdeliodis. Mit der Langsamkeit des Landlebens erlebt man die vier Jahreszeiten auf einer Mittelmeerinsel, begleitet von Vivaldi-Klängen, und sieht vier Umweltschützern dabei zu, wie sie in ihrer Aufgabe scheitern - ein dreistündiger melancholischer Abgesang auf die gute alte Zeit, unübersehbar beeinflußt von Angelopoulos Endzeitepen.

Neben solchen sehenswerten europäischen Spielfilm-Ausnahmen gibt es auch großartig-ungewöhnliche Dokumentationen zu sehen: Ruth Beckermanns "Ein flüchtiger Zug nach dem Orient" zeichnet die große Ägyptenreise der Kaiserin Sisi nach - auch dies gewiß eine Flucht in jene künstlichen Paradiese, die die Natur bereithält. Flucht, Flüchtigkeit - wie Sisi selbst flaniert auch die Kamera durch die europäischen Traumlandschaften des 19. Jahrhunderts.
Schließlich der große Altmeister Chris Marker: in seinem ganz einzigartigen Stil montiert er diesmal Tagebuchaufzeichnungen des Regisseurs Andrej Tarkowskij mit Bilddokumenten, die kurz vor dessen Tod entstanden. So wird "Une journée d'Andrei Arsenevitch" zu mehr als einer Hommage an den bedeutenden russischen Filmemacher, der Film ist vor allem eine perspektivische Einführung in Markers eigenes Filmemachen.
Keine Frage: wer sich auf fremde, manchmal angestaubte, aber immer herausfordernde Erzählweisen einläßt, kann im Forum viel entdecken - und einmal mehr im Kino dem Paradies am nächsten sein.

Rüdiger Suchsland

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