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Erinnen Sie sich an Professor Brian O'Blivion in VIDEODROME
von David Cronenberg? Der radikale Medienphilosoph, der nach
seinem Tod als riesiges Lager von Videokassetten weiterlebte?
Als Sammlung von Filmschnipsel; zu jedem Thema noch immer
die passende Aussage parat, zu Lebzeiten aufgenommen, um die
Öffentlichkeit auf unbestimmte Zeit mit neuen Bildern
und Ideen versorgen zu können.
Fast scheint's, als wären O'Blivion und Orson Welles
enge Verwandte im Geiste. Denn was von Orson blieb, das sind
etliche Tonnen von Filmmaterial, das - über die ganze
Welt verstreut - in seinen Filmdosen ruht und darauf wartet,
das Licht einer Projektorlampe zu sehen. Als wäre der
Wust an Versionen seiner veröffentlichten Filme nicht
schon schwer genug zu durchschauen, gibt's da noch Material
genug, um Filmforscher bis zum Sankt Nimmerleins-Tag beschäftigt
zu halten.
Das reicht von mehr oder minder kurzen Schnipseln - Interviews,
Testaufnahmen, kleine Spielerein zum Privatvergnügen
oder als Geschenk für Freunde - bis zum Rohstoff für
komplette Spielfilme.
Der größte Unterschied zu O'Blivion freilich:
Welles hatte seinen Nachlaß so nie geplant. Es gibt
da zwar die böse Theorie von der "Anxiety of Completion",
die besagt, Welles hätte im Lauf seines Lebens psychologische
Barrieren aufgebaut, die ihn zunehmend daran gehindert hätten,
irgend etwas fertigzustellen; er habe gerne an Sachen herumgebastelt,
aber Angst davor gehabt, sie je bis zu einem Punkt der Abgeschlossenheit
zu bringen. Aber diese Theorie ignoriert nicht nur vollständig
all die Werke, die Welles auch in späten Jahren noch
in fertigen Fassungen geschaffen hat. Sie mißachtet
auch alles, was man über Welles' unermüdliche Bemühungen
weiß, seine übrigen Projekte, die Fragment bleiben
mußten, zu vollenden.
Ja, er hat oft an vielen Sachen gleichzeitig gewerkelt, war
oft von Ideen spontan so begeistert, daß er sich sofort
an ihre Ausarbeitung gemacht hat, auch wenn Anderes noch nicht
ganz abgeschlossen war. Aber bereits in den 30ern (wo er auch
für all die Anhänger des Mythos vom unaufhaltsamen
Niedergang noch als uneingeschränktes Wunderkind gilt)
hat er ständig bewiesen, daß er eine atemberaubende
Zahl von Projekten und Verpflichtungen gleichzeitig jonglieren
konnte, ohne daß dies den einzelnen groß geschadet
hätte. Kein Indiz also, daß er das Interesse am
Fertigstellen später verloren hat - einfach nur die Arbeitsweise
eines überbordend Kreativen.
Ja, Welles hat sich im Umgang mit Produzenten oft rückblickend
erstaunlich naiv, gutgläubig oder undiplomatisch verhalten.
Er war gewiß kein Großmeister der Filmbusiness-Politik
- war manchmal etwas zu blauäugig und oft sicher kompromißlos.
Aber soll man ihm das ankreiden? Wer ist schuld, wenn ein
Genie, wie es das Kino nur wenige kennt, immer wieder daran
gehindert wird, seine Vision ungebrochen auf die Leinwand
zu bringen? Der Künstler, der den falschen Leuten vertraut
und zu wenig Geduld hat für endlose Diplomatie? Oder
das System, dem er zu unbequem ist und das ihn hintergeht
und blockiert, wo es nur kann? Damit es weiter ungestört
seine dominante Mainstream-Ästhetik verkaufen kann.
Soll man es wirklich Welles ankreiden, daß RKO sein
THE MAGNIFICENT AMBERSONS (der vielleicht Orsons schönster
Film gewesen wäre) verstümmelt und die Negative
der herausgeschnittenen Stunde verbrannt hat, damit er garantiert
nichts mehr retten konnte? Nur weil er zu dem Zeitpunkt (ähnlich
wie später noch einmal bei TOUCH OF EVIL) fernab von
Hollywood weilte, beschäftigt bereits mit den Dreharbeiten
zum nächsten Film (IT'S ALL TRUE - der auch nie fertig
werden durfte). Mir kommt das so vor, als würde man Säureattentate
auf Gemälde damit entschuldigen, daß die im Museum
so offen rumhingen und der Maler nichts schützend davorstand.
Nein, nichts außer dem Wunsch, einem der Großen
Unbequemen, einem ästhetisch wie politisch Unangepaßten,
kräftig an's Bein zu pinkeln gibt Grund, Welles die Hauptschuld
anzulasten an seinem umfangreichen Fragmente-Legat.
Aber so hat der Zelluloid-Zauberer ungewollt immerhin eine
Möglichkeit gefunden, als wahrscheinlich einziger Regisseur
der Filmgeschichte posthum noch regelmäßig Filme
zu machen - na ja, wenigstens machen zu lassen.
Denn einen solchen Nachlaß, den kann man nicht einfach
liegen lassen. Den will man selbstverständlich auch irgendwie
noch in eine ansehbare Form bringen, will retten, was zu retten
ist und zumindest Annäherungen schaffen an jene Welles-Werke,
die ihm und uns zu seinen Lebzeiten versagt geblieben sind.
Im Münchner Filmmuseum lagert der größte Teil
des Welles-Vermächtnisses (1,8 Tonnen), und dort ist
man - seit 1995 Welles' letzte Lebensgefährtin und enge
Mitarbeiterin Oja Kodar das Material zu treuen Händen
übergeben hat - fleißig damit beschäftigt,
überhaupt erst einmal zu sichten, was da alles vorliegt
(wobei Enttäuschungen und unerwartete, freudige Überraschungen
sich wohl die Waage halten), das Material zu sichern und dann
- wie auch immer - womöglich zu rekonstruieren.
Klar, daß Letzteres nicht leicht ist: Schwer genug,
im Dschungel aus Erbstreitigkeiten überhaupt an alles
nötige Material zu kommen, das eben teilweise auch an
zahlreichen anderen Orten noch zu finden ist. Ungleich schwerer
in den meisten Fällen, zu erahnen, was Welles vorhatte
mit den unzähligen Filmmetern, die vorliegen. Denn Orson
war nun einmal kein braver Sklave der Konvention. Und wo bei
so manch anderem Regisseur der Schnitt im Wesentlichen nur
noch Formsache sein mag, hat man Drehbuch und das gesamte
Bildmaterial, fängt bei Welles hier freilich die Arbeit
erst nochmal an. Ganz zu schweigen vom Ton - an dem der alte
Radio-Fuchs stets gebastelt hat wie kein Zweiter; stets mit
höchst originellen Resultaten.
Da liegt der Hund für die Rekonstruktion halt begraben:
Wie kann man getreu im Sinne eines Künstlers dessen Werk
vollenden, wenn es zum Grundprinzip des Künstlers gehört
hat, sich selbst nie zu kopieren, sich immer wieder neu zu
erfinden. Wer hätte sich, um nur ein Beispiel zu nennen,
in Kenntnis der anderen, mise en scène-verliebten Welles-Filme
getraut, OTHELLO so schnell zu schneiden, außer Orson
selbst?
Kein Wunder, daß sich das Filmmuseum nun Welles-Experten
und Freunde aus aller Welt zu einer Konferenz lädt. Gewiß
auch, um denen stolz die ersten Erfolge der eigenen Arbeit
zu präsentieren. Aber vor allem wohl - darf man vermuten
- in der Hoffnung, daß der geballte Sachverstand, der
da versammelt ist, diese Arbeit auch weiterbringt.
Uns soll es so oder so recht sein - Hauptsache, wir können
nun endlich ein paar Blicke werfen auf bisher Ungesehenes.
Denn 15 Minuten Welles-Fragmente im Rohschnitt sind noch immer
ungleich interessanter und gewinnbringender als das Gesamtwerk
von Michael Bay.
So ganz wird man das Gefühl aber auch nicht los, daß
der große Orson irgendwo mit einem guten Glas Rotwein
auf seiner Wolke schwebt oder unsichtbar zwischen den Tonnen
von Filmdosen herumgeistert, amüsiert das ganze Treiben
beobachtet und all das wissenschaftliche Brimborium, daß
sich an seinen Hinterlassenschaften entzündet - und darüber
vergnügt und herzlich lacht.
Thomas
Willmann
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