Wiederaufnahme
Am 10. Juni 1968 filmen Studenten der
Pariser Filmhochschule IDHEC die Wiederaufnahme der Arbeit in
der Fabrik ‘Wonder’ in Saint-Ouen. Eine junge Arbeiterin sagt,
daß sie nicht in die Fabrik zurück will. Die Suche
nach dieser Frau weitet sich zu einer fast besessenen Untersuchung
aus. „Hervé Le Roux scheint selbst überrascht zu sein von
dieser lebendigen Erinnerung, die nichts will, als sich in die
Leinwand einzuschreiben und zwar auf eine Weise, die so gar nichts
mit Fernsehen zu tun hat in ihrer übersprudelnden Lustigkeit
und teilweisen Bitterkeit. Der Filmemacher muß das Gesicht
der empörten Frau geliebt haben, und den Kerl am Ende des
Films ... In diesen Bildern lebt eine tragische Dimension und
ein unglaubliches Engagement, das oft überfließt vor
Nostalgie und sich manchmal hinter einem eher mitleidigen als
spöttischen Humor verbirgt. Was sich 1968 auf den Straßen
abgespielt hat, war mehr als die Wiederaufnahme der Arbeit: es
war die radikale, unumkehrbare Enteignung des Individuums von
jeglicher Macht über das Soziale. Hier arbeitet das Kino
in jedem Augenblick: Reprise ist ein schwieriger Film im besten
Sinne des Wortes. Keine schicke, distanzierte Trauer-Arbeit für
Geschichts-Ästheten, sondern ein solider und gründlicher
Film, in dem Le Roux ohne jede Affektiertheit sein handwerkliches
Können zeigt." Aus: Vincent Dieutre, La Lettre du Cinéma,
Spécial Sadoul
Hervé Le Roux über seinen Film (Auszüge):
Ausgangspunkt des Films war tatsächlich ein Photo,
das ich in einer Kinozeitschrift entdeckte. Und dann, eines Tages,
habe ich den Film von’68 gesehen, der mich nie wieder losgelassen
hat. Meine Gedanken kreisten um den Film, ich dachte sogar einen
Moment daran, ihn in einen Spielfilm einzubauen. Schließlich
habe ich mir dann gesagt, daß ich mich, statt aufs Geratewohl
zu drehen, lieber direkt mit dem befassen sollte, was mir von
diesem Film nicht aus dem Sinn ging, nämlich mit dieser
jungen aufgebrachten Arbeiterin, und daß ich sie wiederfinden
mußte, und daß das der einzige Film war, den ich
machen konnte. ... Ich habe dann eine kleine Recherche gemacht,
die bereits etwas von einem Polizeifilm hatte: in dem Maße,
in dem ich mit der Untersuchung vorankam, mußte ich mir
eingestehen, daß mein Geldgeber, Richard (Copan, Produzent),
der 1968 Student an der IDHEC und einer der Initiatoren des Streiks
gewesen war, darüber schon viel länger Bescheid wußte
als ich ... Das war Anfang 1992 ... Zwei Jahre später erinnerten
wir uns. Wir hatten beide immer noch die gleiche Lust, den Film
zu machen, und mit einem kleinen Vorschuß des CNC und der
Unterstützung des Arbeitsministeriums konnten wir recht
bald mit dem Drehen beginnen. ... Die Dreharbeiten dauerten drei
Monate, von Mai bis August 1995, mit Unterbrechungen und parallel
zu den Nachforschungen. Das heißt, daß wir an einem
Tag ein Interview machten, daß ich den nächsten Tag
am Telefon verbrachte, um neue Spuren zu finden, die zu einer
der gesuchten Personen führten, oder um eine weitere Verabredung
für den nächsten oder übernächsten Tag zu
ergattern. Eine Spielregel hieß, zu versuchen, die Personen
nicht vor dem Drehtermin zu treffen, sie also nur mit der Kamera
zu sehen, um ein Maximum an Frische und Spontaneität zu
bewahren. Ich rief die Leute also an, erzählte ihnen meine
kleine Geschichte - daß ich einen Film über Wonder
machte, daß ich ihnen gern eine Video-Kassette zeigen würde
- man verabredete sich, traf bei ihnen ein, installierte die
Kamera, zeigte ihnen die Kassette, und dann wurde diskutiert.
Die Interviews betreffend könnte man mir vorwerfen, daß
ich sie nicht wie ein ‘Journalist’ führe, daß ich
selten widerspreche, daß ich die Themen teilweise nicht
weiterverfolge. Ich nehme aber für mich in Anspruch, daß
ich schließlich keine Kriminellen aus dem bosnisch-serbischen
Krieg interviewe. Dazu wäre ich im übrigen gar nicht
in der Lage. Wenn ich eine Fiktion inszeniere, muß ich
jede Figur lieben. In einem Dokumentarfilm, in dem die Person
zugleich die Figuren sind, ist das viel schwieriger. Es ist unabdingbar,
daß jeder seine Chance bekommt und über seine Gründe
sprechen kann. Abgedruckt in 27.Internationales Forum des Jungen
Films, Berlin 13/1997
BIO-FILMOGRAPHIE HERVÉ LE ROUX
Geboren
1956. Journalist und Kritiker, schreibt u.a. für die ‘Cahier
du Cinéma’, wirkte 1984 und 1988 an der Programmgestaltung des
‘Festival d’Automne’ in Paris mit. Er war Regie-Assistent bei
Incognito (Regie: Alain Bergala) und wirkte bei der Herstellung
der beiden Kurzfilme L’Ourse bleue (1988, Regie: Marc Chevrie)
und Tu m’as dit (1990, Regie: Renée Falson) mit. Er ist Drehbuchautor
und Regisseur von Grand Bonheur, der 1993 die Sektion französischer
Filme beim Festival in Cannes eröffnete. Daneben schrieb
er 1995 zusammen mit Gilles Cornec und Patrick Leboutte ‘Cinégénie
de la bicyclette’.
Filme:
1993 GRAND BONHEUR 1996 REPRISE
(Katalog
des 12. internationalen
Dokumentarfilmfestivals)
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