Sechs Lebensläufe deutscher, österreichischer und russischer
Juden, die sich im gemeinsamen Fluchtpunkt Shanghai kreuzen.
Aus Erzählungen, Photos, Dokumenten und neuen Bildern aus
der größten und widersprüchlichsten Metropole
des Fernen Ostens wird ein Ganzes, in dem das historische Exil
aktuelle Brisanz gewinnt.
Filmkritik:
„Die Regisseurin
teilt hier einmal nicht nur die Faszination von einer Landschaft,
einer Kultur mit, wie es ihre letzten Filme taten. Sie läßt
an sechs Schicksalen teilhaben, die für die mehrerer tausend
aus Deutschland, Österreich und zuvor schon aus der Sowjetunion
emigrierter Juden stehen. In Shanghai, zu jener Zeit ein exterritorialer
Handelsort unter britischer Hoheit, fanden sie bis zum Kriegseintritt
Japans ein sicheres Terrain vor, wo viele ihr früheres Leben
fast geradlinig fortsetzen konnten, sieht man davon ab, daß
sie einen Großteil ihrer Habe zurücklassen mußten.
Als die Japaner alle in ein Ghetto zwangen, zerstob die Illusion
vom freieren Leben am Gestade des ostchinesischen Meers. Von
tödlicher Verfolgung sollten die Emigranten zum Glück
verschont bleiben. Heute schmücken chinesische Souvenirs
ihre Wohnzimmer in Amerika, wo sie Ulrike Ottinger aus ihrem
Leben erzählen. „Es war wie ein Traum", sagt die eine und
meint damit keineswegs einen Albtraum. Fern jeder politischen
oder ideologischen Drangsalierung erlebten sie das Zusammenleben
verschiedener Nationen und Rassen." Aus FAZ, 15. Februar 1997,
Hans-Jörg Rother Auszüge aus einem Interview mit
Ulrike Ottinger Grundlage des Films waren die Interviews. Mit
ihnen habe ich die Arbeit begonnen, und zwar in San Francisco.
Dorthin sind viele Shanghaier Juden weiteremigriert. Ich kommentiere
den Film nicht, aber die verschiedenen Standpunkte der einzelnen
Interviewten liefern ein sehr genaues und komplexes Bild. Die
Russen, die ich interviewt habe, von denen manche schon in die
koloniale Welt hineingeboren worden waren und dort teilweise
in großem Reichtum lebten, haben natürlich einen ganz
anderen Blick auf die Stadt als die deutschen und österreichischen
Emigranten, die viel später eintrafen und meist in großer
Armut lebten. Sechs verschiedene Blicke und Erfahrungen kommen
zusammen: Rena Krasno, die aus einer russischen Familie stammt;
ihr Vater war Verleger, Herausgeber einer Zeitung, Schriftsteller
und Journalist. Die Familie mußte aufgrund des niedrigen
Einkommens des Vaters eher bescheiden leben. Im Kontrast dazu
stehen die russischstämmigen Familien von Georges Spunt
und Inna Mink, die sehr wohlhabend waren. Aber dann kamen die
deutschen und österreichischen Juden, und etwas ganz Neues
geschah: Sie brachten nicht nur europäisches Flair mit,
sondern zum Teil eine andere Haltung den Chinesen gegenüber.
Als beispielsweise 1945 die Amerikaner Bomben auf das Ghetto
warfen, in dem Chinesen und Juden auf engstem Raum zusammenlebten,
behandelten die jüdischen Ärzte auch die chinesischen
Verwundeten. So etwas hatte es in der kolonialen Zeit nicht gegeben.Zuerst
habe ich die alten Orte aufgesucht. Ich habe eine alte Karte
von Shanghai gekauft, auf der die Straße je nach den Settlements
französische, englische und auch chinesische Namen hatte.
Dann kaufte ich eine Karte mit den Straßennamen von heute
und stellte fest, daß die Hausnummern identisch geblieben
sind. So konnte ich nachvollziehen, wo ‘Zum weißen Rössel’
gewesen war und wo das ‘Eldorado Café’, wo die Leihbücherei
Nathan und wo der Zigarrenladen Weinberg. Und dann gab es natürlich
die ‘Heime’, das waren Notunterkünfte, wo die ärmeren
Emigranten untergebracht wurden. Die Interviewten haben alle
wunderbare Privatarchive mit Photos und Zeitungen. Ich habe aber
auch in Shanghai mit Leuten gesprochen, die sich an die damalige
Zeit erinnern. Beispielsweise habe ich ein Interview mit den
Betreibern der ehemaligen Wäscherei ‘Schneeweiß’ geführt,
die noch von dem früheren jüdischen Besitzer, von denen
sie den Laden übernommen hatten, erzählen konnten.
Leider zeigten sich bei diesem Erinnern oft auch Gedächtnislücken.
Das Mosaik von Gestern und Heute, Europa und Asien spiegelt sich
auch auf der Musik- und Tonebene. All die Lieder, die wir als
typisch wienerisch betrachten - also beispielweise ‘Sag beim
Abschied leise Servus’ oder auch der bekannte Berliner ‘Sportpalastwalzer’
- sind von jüdischen Komponisten und Textern. Die Musik,
die man damals hörte und die in die Emigration mitgenommen
und dort wiedergesungen wurde, habe ich im Film verwendet, und
zwar ganz konsequent nur von alten Schellack-Platten, die sozusagen
selbst Dokumente sind. Auf der anderen Seite habe ich chinesische
Adaptionen europäischer Musik der 30er Jahre eingesetzt.
Das Gespräch führte Sissi Tax am 1. Februar 1997 in
Berlin, abgedruckt in 27. Internationales Forum des Jungen Films,
Berlin 1/1997
BIO-FILMOGRAPHIE ULRIKE OTTINGER
Sie
lebte 1962-68 als Malerin und Photographin in Paris. 1966 schrieb
sie ihr erstes Drehbuch, ‘Die mongolische Doppelschublade’. In
Zusammenarbeit mit dem Filmseminar der Universität Konstanz
und ‘galeriepress’ (Galerie und Edition) 1969 gründete sie
den Filmclub ‘Visuell’, den sie bis 1972 leitete. Seit 1973 lebt
sie in Berlin. Sie inszeniert auch Theaterstücke.
Filme:
1972/73
LAOKOON & SÖHNE 1973 BERLINFIEBER 1975 DIE BETÖRUNG
DER BLAUEN MATROSEN 1977 MADAME X - EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN 1979
BILDNIS EINER TRINKERIN 1981 FREAK ORLANDO 1984 DORIAN
GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE 1985 CHINA. DIE KÜNSTE
-DER ALLTAG 1986 SUPERBIA - DER STOLZ 1987 USINIMAGE 1989
JOHANNA D’ARC OF MONGOLIA 1990 COUNTDOWN 1991/92 TAIGA 1996
EXIL SHANGHAI
(Katalog des 12.
internationalen Dokumentarfilmfestivals)
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