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Exil Shanghai

 
 
D 1997 - 255 Minuten -
Regie: Ulrike Ottinger
Kamera: Ulrike Ottinger
Drehbuch: Ulrike Ottinger
Besetzung:
 
 
 
 

Sechs Lebensläufe deutscher, österreichischer und russischer Juden, die sich im gemeinsamen Fluchtpunkt Shanghai kreuzen. Aus Erzählungen, Photos, Dokumenten und neuen Bildern aus der größten und widersprüchlichsten Metropole des Fernen Ostens wird ein Ganzes, in dem das historische Exil aktuelle Brisanz gewinnt.

Filmkritik:

„Die Regisseurin teilt hier einmal nicht nur die Faszination von einer Landschaft, einer Kultur mit, wie es ihre letzten Filme taten. Sie läßt an sechs Schicksalen teilhaben, die für die mehrerer tausend aus Deutschland, Österreich und zuvor schon aus der Sowjetunion emigrierter Juden stehen. In Shanghai, zu jener Zeit ein exterritorialer Handelsort unter britischer Hoheit, fanden sie bis zum Kriegseintritt Japans ein sicheres Terrain vor, wo viele ihr früheres Leben fast geradlinig fortsetzen konnten, sieht man davon ab, daß sie einen Großteil ihrer Habe zurücklassen mußten. Als die Japaner alle in ein Ghetto zwangen, zerstob die Illusion vom freieren Leben am Gestade des ostchinesischen Meers. Von tödlicher Verfolgung sollten die Emigranten zum Glück verschont bleiben. Heute schmücken chinesische Souvenirs ihre Wohnzimmer in Amerika, wo sie Ulrike Ottinger aus ihrem Leben erzählen. „Es war wie ein Traum", sagt die eine und meint damit keineswegs einen Albtraum. Fern jeder politischen oder ideologischen Drangsalierung erlebten sie das Zusammenleben verschiedener Nationen und Rassen." Aus FAZ, 15. Februar 1997, Hans-Jörg Rother
Auszüge aus einem Interview mit Ulrike Ottinger Grundlage des Films waren die Interviews. Mit ihnen habe ich die Arbeit begonnen, und zwar in San Francisco. Dorthin sind viele Shanghaier Juden weiteremigriert. Ich kommentiere den Film nicht, aber die verschiedenen Standpunkte der einzelnen Interviewten liefern ein sehr genaues und komplexes Bild. Die Russen, die ich interviewt habe, von denen manche schon in die koloniale Welt hineingeboren worden waren und dort teilweise in großem Reichtum lebten, haben natürlich einen ganz anderen Blick auf die Stadt als die deutschen und österreichischen Emigranten, die viel später eintrafen und meist in großer Armut lebten. Sechs verschiedene Blicke und Erfahrungen kommen zusammen: Rena Krasno, die aus einer russischen Familie stammt; ihr Vater war Verleger, Herausgeber einer Zeitung, Schriftsteller und Journalist. Die Familie mußte aufgrund des niedrigen Einkommens des Vaters eher bescheiden leben. Im Kontrast dazu stehen die russischstämmigen Familien von Georges Spunt und Inna Mink, die sehr wohlhabend waren. Aber dann kamen die deutschen und österreichischen Juden, und etwas ganz Neues geschah: Sie brachten nicht nur europäisches Flair mit, sondern zum Teil eine andere Haltung den Chinesen gegenüber. Als beispielsweise 1945 die Amerikaner Bomben auf das Ghetto warfen, in dem Chinesen und Juden auf engstem Raum zusammenlebten, behandelten die jüdischen Ärzte auch die chinesischen Verwundeten. So etwas hatte es in der kolonialen Zeit nicht gegeben.Zuerst habe ich die alten Orte aufgesucht. Ich habe eine alte Karte von Shanghai gekauft, auf der die Straße je nach den Settlements französische, englische und auch chinesische Namen hatte. Dann kaufte ich eine Karte mit den Straßennamen von heute und stellte fest, daß die Hausnummern identisch geblieben sind. So konnte ich nachvollziehen, wo ‘Zum weißen Rössel’ gewesen war und wo das ‘Eldorado Café’, wo die Leihbücherei Nathan und wo der Zigarrenladen Weinberg. Und dann gab es natürlich die ‘Heime’, das waren Notunterkünfte, wo die ärmeren Emigranten untergebracht wurden.
Die Interviewten haben alle wunderbare Privatarchive mit Photos und Zeitungen. Ich habe aber auch in Shanghai mit Leuten gesprochen, die sich an die damalige Zeit erinnern. Beispielsweise habe ich ein Interview mit den Betreibern der ehemaligen Wäscherei ‘Schneeweiß’ geführt, die noch von dem früheren jüdischen Besitzer, von denen sie den Laden übernommen hatten, erzählen konnten. Leider zeigten sich bei diesem Erinnern oft auch Gedächtnislücken. Das Mosaik von Gestern und Heute, Europa und Asien spiegelt sich auch auf der Musik- und Tonebene. All die Lieder, die wir als typisch wienerisch betrachten - also beispielweise ‘Sag beim Abschied leise Servus’ oder auch der bekannte Berliner ‘Sportpalastwalzer’ - sind von jüdischen Komponisten und Textern. Die Musik, die man damals hörte und die in die Emigration mitgenommen und dort wiedergesungen wurde, habe ich im Film verwendet, und zwar ganz konsequent nur von alten Schellack-Platten, die sozusagen selbst Dokumente sind. Auf der anderen Seite habe ich chinesische Adaptionen europäischer Musik der 30er Jahre eingesetzt. Das Gespräch führte Sissi Tax am 1. Februar 1997 in Berlin, abgedruckt in 27. Internationales Forum des Jungen Films, Berlin 1/1997

BIO-FILMOGRAPHIE ULRIKE OTTINGER

Sie lebte 1962-68 als Malerin und Photographin in Paris. 1966 schrieb sie ihr erstes Drehbuch, ‘Die mongolische Doppelschublade’. In Zusammenarbeit mit dem Filmseminar der Universität Konstanz und ‘galeriepress’ (Galerie und Edition) 1969 gründete sie den Filmclub ‘Visuell’, den sie bis 1972 leitete. Seit 1973 lebt sie in Berlin. Sie inszeniert auch Theaterstücke.

Filme:

1972/73 LAOKOON & SÖHNE
1973 BERLINFIEBER
1975 DIE BETÖRUNG DER BLAUEN MATROSEN
1977 MADAME X - EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN
1979 BILDNIS EINER TRINKERIN
1981 FREAK ORLANDO
1984 DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE
1985 CHINA. DIE KÜNSTE -DER ALLTAG
1986 SUPERBIA - DER STOLZ
1987 USINIMAGE
1989 JOHANNA D’ARC OF MONGOLIA
1990 COUNTDOWN
1991/92 TAIGA
1996 EXIL SHANGHAI

(Katalog des 12. internationalen Dokumentarfilmfestivals)

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