Sinnlichkeit und Sinn: Kate Winslet hat den Untergang der Titanic überstanden
Kate Winslet war eigentlich immer schon cool, nur brauchten einige eben etwas länger um das zu merken. Nun gibt es wieder Gelegenheit, denn es läuft LITTLE CHILDREN an, jenes Vorstadtdrama, das der 31-Jährigen im Februar bereits die fünfte Oscarnominierung ihrer Karriere einbrachte - womit sie weiterhin Rekordhalterin ist als jüngster Mensch, der je fünfmal nominiert wurde und immerhin Marlon Brando und Olivia de Havilland in den Schatten stellte. Regie führt Todd Field (IN THE BEDROOM), und Winslet spielt eine gelangweilte Ehefrau, die eine Affaire anfängt.
Vor ein paar Jahren, da war Kate Winslet der neue große Hoffnungsschimmer von Hollywood. Das würde heute so keiner mehr sagen, dazu ist sie zum einen schon viel zu lange dabei, zum anderen hat sie es längst auch dem Letzten zu verstehen gegeben, dass sie dieser Art Karriere ganz und gar nichts abgewinnen kann. "Los Angeles ist für mich ein einziger Albtraum", verkündete sie schon kurz nach ihrer Oscarnominierung für TITANIC, "Ich wollte mich nie nach Hollywood absetzen, und lebe gern in England". Und Schauspielerin sei sie auch nicht geworden, um berühmt zu werden, sondern weil die Tochter einer Schauspielerfamilie - Eltern, Großeltern und ihre beiden Schwestern sind allesamt Schauspieler - sich nie einen anderen Beruf vorstellen konnte.
Großer Mund, große Augen, große Gefühle. Etwas zu klein und etwas zu üppig für die üblichen Starmaße der Traumfabrik verkörpert Winslet auf der Leinwand eine einmalige und interessante Kombination aus Normalität und Ausbruch. Immer transportiert sie in ihre Rollen auch etwas Rebellisches, Unkonventionelles.
Sie, nicht Leonardo DiCaprio, war der Star des TITANIC-Films. Wenn ihr Gesicht bei Cameron die ganze Leinwand füllt, spiegelte sich in ihm alles Grauen, alle Verzweiflung, die gesamte Tragödie des Untergangs. Für diese Momente allein hatte sie den Oscar schon verdient, den dann eine andere bekam. Durch den Part in James Camerons TITANIC wurde sie bereits mit 22 weltberühmt und zum Idol von Millionen Teenager und junger Frauen. Dabei war Winslet, die 1994 als junge Mörderin in Peter Jacksons HEAVENLY CREATURES debütiert hatte, für die Rolle, die sie zum Star machen sollte, auf den ersten Blick eine Fehlbesetzung. Denn für ein Mädchen aus der britischen Oberklasse wirkt sie eigentlich viel zu lebendig. Aber sie scheint etwas auszustrahlen, das viele Menschen mit "Vergangenheit" verbinden und an eine verlorene Zeit erinnert. Auch vor TITANIC war sie vor allem mit Kostümfilmen bekannt geworden. In Ang Lees SENSE & SENSIBILITY spielte Winslet mal eben Emma Thomson und Hugh Grant an die Wand und schon hier eine ganz ähnliche Figur: der Schrei nach Leben inmitten einer toten Gesellschaft. Und in Michael Winterbottoms JUDE, bestimmt einer ihrer allerbesten Filme, war sie eine Rebellin, die an ihrem Widerstand gegen alle Konventionen zugrunde geht. Schließlich durfte auch der für eine junge britische Darstellerin wohl obligatorische Part von Shakespeares Ophelia - in Kenneth Brannaghs monumentaler HAMLET-Verfilmung - nicht fehlen. Aus dieser Zeit stammt auch ihr Branchen-Spitzname "Corset Kate". Der hat sie allerdings nicht daran gehindert, auch später immer wieder mal in Historienfilmen aufzutreten, etwa als Muse des Marquis De Sade in QUILLS oder als Muse des Peter-Pan-Autors in FINDING NEVERLAND.
Seit der berühmtesten Wasserleiche der Literaturgeschichte und dem siebenmonatigen TITANIC- Dreh in südkalifornischen Studiobassins kann Winslet Wasser, jedenfalls auf der Leinwand, nicht mehr sehen. Und ging nach dem TITANIC-Hype prompt erst einmal in die Wüste - im mehrfachen Sinn: Ihr nächster Film HIDEOUS KINKY führte sie als Hippiebraut nach Marrakesch, und viel ist davon nicht in Erinnerung, außer dass Winslet am Set ihren ersten Mann kennenlernte, James Threapleton, mit dem sie ihre Tochter Mia hat und von dem sie sich 2001 wieder trennte. Kurze Zeit später war sie mit AMERICAN BEAUTY-Regisseur Sam Mendes - auch einem Briten - liiert, den sie inzwischen geheiratet hat. Beide haben einen Sohn zusammen und leben je nach Arbeitslage abwechselnd in London und in New York.
Vielleicht war ihre kurze erste Ehe so etwas wie die persönliche Post-"Titanic"-Krise der Kate Winslet, doch von Außen kann man sie Rückblick nur bewundern für die Gelassenheit die sie damals bewahrte, die Selbstsicherheit und Klugheit ihrer Rollenauswahl. Im Gegensatz zu ihrem Co-Star Leonardo DiCaprio, der seitdem nie wieder die Rolle des "romantischen Liebhabers" übernommen hat, hatte sie es auch gar nicht nötig, sich überdeutlich von dergleichen Auftritten zu distanzieren. Allerdings lehnte auch sie diverse Angebote für Hauptrollen ab, unter anderen in gehobenen Blockbustern wie SHAKESPEARE IN LOVE, mit dem dann Gwynneth Paltrow den Oscar gewann, und ANNA AND THE KING, die dann Jodie Foster spielte. Oder einen Part in DER HERR DER RINGE.
"Statt irgendwelche Nebenrollen in Hollywood zu spielen, bekomme ich doch lieber eine Hauptrolle in einem englischen Film, wo ich den Part wirklich interessant finde", meint sie stattdessen und ist immer wieder mal in Independent-Projekten zu sehen. Ihre schönsten Filme drehte sie allerdings in Amerika, etwa ETERNAL SUNSHINE OF MY SPOTLESS MIND ("Vergissmeinicht") von Michel Gondry. Kein Kostümfilm. Da spielt sie mit leuchtendroten Haaren die Chaotin Clementine, die ihren Lover Joel (Jim Carrey) dermaßen verwirrt, dass er versucht, sie aus seinem Gedächtnis zu löschen. Doch während das passiert, verliebt er sich wieder in sie. Kann man verstehen. Dazu muss man Winslet gar nicht auf der Leinwand sehen, wo sie immer wieder mal aussieht wie eine Frau auf einem alten Gemälde. Es genügt, sie einmal zu erleben, wenn sie einfach Kate Winslet ist: In Stiefeln auf dem Roten Teppich, unbeeindruckt von den Puritanern eine Zigarette paffend, in einem Kleid, für das andere noch fünf Kilo abgenommen hätten, sich über den Schlankheitsirrsinn Hollywoods mokierend und in jedem Satz gescheiter als 90 Prozent ihrer Kolleginnen.
Noch in dem kleinsten Interview ist sie smart, souverän, persönlich und auf ganz bezaubernde Weise mit beiden Beinen auf dem Boden. Kein Hauch von Primadonna-Syndrom. Man kann mit ihr über das Wetter und über ihre Kinder reden, oder über die Lieblings-Zigarettenmarke. Sie ist ein Star, der sich nicht wie einer benimmt. Jetzt spielt sie bald sogar wieder mit DiCaprio, erstmals seit Cameron: In dem Melo REVOLUTIONARY ROAD, einer Regiearbeit ihres Ehemanns Sam Mendes nach einem Roman von Richard Yates, werden sie als unglückliches Paar auftreten.
Ganz klar: Das Kino braucht mehr Kate Winslets. Immerhin können wir uns trösten: Kate Winslet hat die TITANIC überlebt. Sie wird uns bleiben, und sie wird sie selbst bleiben.
Rüdiger Suchsland |