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16.03.2006
 
 
     
Art Works
 
STAY: Sich auf das "Wie?" einlassen
 
 
 
 
 

Das Kino als Schmelziegel der Künste: Betrachtungen zu den
Filmen STAY und ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN

Die Eigenheit von guten Filmen ist es, alle anderen Künste in sich aufzunehmen und zu verschmelzen, ohne jedoch deren jeweiligen Gesetzmäßigkeiten zu übernehmen. Wenn sich die Regeln der anderen Kunstformen doch durchsetzen, ist das Ergebnis selten gelungen und wir sehen uns abgefilmten Theater, geschwätzig spröden Literaturverfilmungen oder inhaltsleeren Bilderfluten und Ausstattungsorgien gegenüber.

Die beiden zeitgleich bei uns angelaufenen Filme STAY und ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN bieten die seltene Gelegenheit, die Grenzen (und deren Überschreitung) zwischen Bildender Kunst und Film zu studieren.

Marc Forsters STAY ist vordergründig ein weiterer Realitätsverlustfilm, wie sie seit einigen Jahren immer öfter zu sehen sind (u.a. DER MASCHINIST oder DER MANCHURIAN KANDIDAT).

Ein Mann, hier der von Ewan McGregor gespielte Psychiater Sam, verliert mehr und mehr die Sicherheit darüber, was real ist. Was ist für ihn real, was für seine Mitmenschen und was für den Zuschauer?

Forster bebildert diesen Verlust der Gewissheiten mit einer überbordenden Menge an visuellen Tricks und Techniken, die in dieser Konzentration nur selten auf der Leinwand zu sehen sind. Nahezu zwangsläufig muss es dabei zu Konflikten mit der narrativen Seite des Kinos kommen, was hier nur deshalb nicht zu stark stört, da Realitätsverlustfilme weniger an einer logische Handlung (die Auflösungen solcher Filme am Ende sind immer "zweifelhaft"), als am Verstörungsprozess eines Menschens (und indirekt auch des Zuschauers) interessiert sind.

Somit sollte man sich als Zuschauer von STAY auch weniger Gedanken über das Wieso, Weshalb und Warum machen und sich stattdessen voll und ganz auf das Wie einlassen.
Nur wenige der gezeigten Effekte sind wirklich neu oder überraschend, doch die Art, wie sie hier verknüpft und ineinander verflochten werden, erzeugt eine ganz eigene, abstrakte Stimmung, wie man sie sonst vor allem aus innovativen Werbe- und Musikvideoclips kennt.

Die wahre Kunst Forsters ist es dabei, sowohl eine dünne Visual Effects-Leistungsshow, als auch ein Videokunstsammelsurium als auch ein verkopftes Bilderkunsträtsel zu umgehen.
STAY ist deshalb ein sehenswerter Ausflug an die experimentellen Ränder der visuellen Kunstform Film.

Um wie viel schlichter kommt da rein äußerlich Miranda Julys ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN daher. In dem auf Video gedrehten Film sind einige vorsichtig eingesetzte Zeitlupen die Spitzen der technischen Tricks und doch besteht auch hier ein unverkennbarer Kunstanspruch.

Der episodenhaft angelegte Film erzählt eine weitere Geschichte aus Amerikas Suburbia, in der die verschiedenen Geschehnisse lose miteinander verbunden sind.
Im Mittelpunkt steht der Schuhverkäufer Richard, der sich nach der Trennung von seiner Frau um seine beiden Söhne kümmern muss, sowie die Künstlerin Christine, die sich in Richard verliebt und nebenbei versucht, ihre Kunstwerke in einer Galerie unterzubringen.

Üblicherweise entstehen aus solchen Vorgaben präzise Zustandsbeschreibungen des Alltags, doch in diesem Film scheint alles leicht entrückt und versch(r)oben zu sein.
Sind die Personen und Ereignisse auch absolut realistisch, liegt über allem doch ein magisch unwirklicher Nebel, den man am ehesten noch in den Filmen von Paul Thomas Anderson findet.

Es sind gezielte, kleine Verschiebungen, die diesen Effekt erzeugen, etwa ungewohnte (aber nicht extreme) Kameraeinstellungen, abgehobene (aber nicht skurrile oder unsinnige) Dialoge, unerwartete (aber nicht konstruierte) Wendungen der Handlung.
Die entscheidende Verschiebung aber liegt bei der Wahrnehmung des Zuschauer, der durch die Machart von ICH UND DU... die "Magie des Alltages" (in 95 % ist diese Phrase totaler Quatsch, doch hier stimmt sie) erkennt.

Man könnte sagen, dass ICH UND DU... ein filmisches Objet trouvé bzw. Ready-made ist. So wie Künstler wie Marcel Duchamp Gegenständen des Alltags zu Kunst erhoben, indem sie sie in einen anderen Zusammenhang stellten und so die Blickweise darauf veränderten, so verschiebt die Regisseurin Miranda July (die als renommierte Künstlerin mit solchen Techniken sicher vertraut ist) den Blick auf das unspektakuläre Vorstadtleben und macht daraus (Film)Kunst.

Als Zuschauer glaubt man dabei ständig die üblichen Versatzstücke des Kinos und seiner Geschichten zu erkennen, doch sowie man meint ein einzelnes Thema oder Motiv bestimmen zu können, erscheint es plötzlich unklar. Es ist somit unmöglich, eindeutig zu sagen, in ICH UND DU... gehe es um die Liebe oder um Familie oder um das Erwachsenwerden oder Pädophilie im Internet oder um Sehnsucht oder was auch immer.
Es ist ein wenig so, wie bei René Magrittes bekanntem Bild, in dem eine naturalistische Pfeife zu sehen ist und zur allgemeinen Verunsicherung darunter steht: "Ceci n'est pas une pipe" (Das ist keine Pfeife).

Es mag Zufall sein, dass mich die sonderbare Stimmung in ICH UND DU... wie bei STAY immer wieder an verschiedenen Musikvideos (hier allen voran Airs "All I need" von Mike Mills) erinnert.
Möglicherweise ist die Videokunst aber auch ein wichtiger, bisher zu wenig gewürdigter Transformator zwischen den Galerien und Kinosälen.


Michael Haberlander

 

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