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12.01.2006
 
 
     
Rausch und Wirklichkeit
Impressionen vom 35. Internationalen Filmfestival Rotterdam


 
Hypnotisch: THE PIANO TUNER OF EARTHQUAKES von den Quay Brothers
 
 
 
 
 

Eine Folge von flottierenden Farben, das ist aufs physikalische Phänomen herunter-gebrochen, Bewegung innerhalb des bewegten Kinobildes. Angenommen, all diese Farben überlagerten sich, dann wäre das visuelle Charakteristikum des Kinos nicht mehr und nicht weniger als weißes Licht.

White Light, so war der Titel einer Filmreihe auf dem diesjährigen 35. Filmfestival von Rotterdam. Hier wurden Filme gezeigt, in denen Drogen eine zentrale Rolle spielen. Weißes Licht, so kann der Effekt eines Rauschzustandes genannt werden, der das Auge in Halluzination versetzt, es wie unter Hypnose in andere Bewusstseinszustände bringt. Das Halluzinogene, die illusionäre Täuschung der Sinne, ist bekanntermaßen zugleich das, was das Kino von anderen Kunstformen unterscheidet: Denn das bewegte Bild ist nichts anderes als ein Artefakt. Es entsteht im kinematographischen Dispositiv, wo 24 Bilder in der Sekunde dem Auge ein bewegtes Bild vortäuschen.

Wie kein anderes Festival begreift Rotterdam das Kino als spezifische, illusionäre Kunstform, als "septième art", mit einem ähnlichen Stellenwert wie die bildende Kunst. In Zusammenarbeit mit den großen Museen der Stadt bringt das Festival Filme von bildenden Künstlern in den Zusammenhang ihrer malerischen Werke. Dieses Jahr wurde die Arbeit der amerikanischen Künstlerin Sarah Morris gezeigt. Ihre großflächigen, strukturalen Gemälde waren im Kontext ihrer Kurzfilme zu sehen, in denen sie Ansichten und innere Zustände von Großstädten in Bild- und Soundstrukturen überführt. Eine Verbindung von gemaltem und bewegtem Bild, von Abstraktion und Konkrektion, die das Wechselspiel zwischen den beiden Kunstformen deutlich machte.
Filme mit Kunstanspruch müssen jedoch nicht zwangsläufig in den Zusammenhang der bildenden Kunst gebracht werden. Der Schwerpunkt des Festivals liegt auf den Independent- und Arthouse-Produktionen der aktuellen Saison. In einem Dutzend Sektionen versucht es, die um die 600 Lang- und Kurzfilme seines Programms so zu gruppieren, dass man nicht den Überblick verliert. Elf Preise werden vergeben, darunter die beiden wichtigen "Tiger Awards" für jeweils einen Kurz- und Langfilm. Im Wettbewerb stehen ausschließlich Newcomer mit ihrem ersten oder zweiten Langfilm. Den Tiger zu gewinnen, bedeutet für die sehr jungen Filmemacher (sie sind überwiegend in den 70er Jahren geboren) einen großen, entscheidenden Sprung in die Welt des internationalen Kinogeschehens.
Die Aufbruchsstimmung in ein neues Kino, die das Festival antreibt, und sein Bewusstsein über Kinogeschichte und Kunstform, vereinen sich im Wahrzeichen des Festivals, einem Tiger: In einem kraftvollen Sprung fliegt er nach vorne, in die Zukunft des Kinos, blickt gleichzeitig zurück, auf seine Geschichte.

Rotterdam, Big Player im europäischen Filmgeschehen, erlaubt seiner Leiterin Sandra den Hamer eine umfassende Programmierung. Sie sieht sich vor der Möglichkeit, nicht nur in großen Retrospektiven das Werk eines Regisseurs vorzustellen (dieses Jahr standen der Japaner Nagasaki Shunichi und der britische Avantgardefilmer Stephen Dwoskin im Fokus), sondern kann auch in den Nebenreihen des Festivals, "Kings & Aces", "Time & Tides" und "White Light", kleinere Werkschauen von Regisseuren zeigen. Philippe Garrel, der mit LES AMANTS RÉGULIERS, einer hypnotisierenden éducation sentimentale über die Zeit um 68, derzeit in Frankreich für Furore sorgt, war mit J'ENTENDS PLUS LA GUITARE (1991) und SAUVAGE INNOCENCE (2001) mit zwei anderen Werken vertreten. Ein wahres Kinoereignis wurde der sogenannte "Pusher-Marathon", in dem die erfolgreiche Drogen-Trilogie des Dänen Nicolas Winding Refn hintereinander gezeigt wurde. Der erste Teil der Trilogie (damals noch nicht als Dreiteiler geplant), PUSHER von 1996, war sein Filmdebüt und wurde schlagartig zu einem riesigen Erfolg. Von einem narrativen Sog getrieben, erzählt er den rasanten Abstieg des Drogendealers Frank (Kim Bodnia), der, von Pech verfolgt, immer tiefer in die Schuldenfalle des serbischen Drogenbarons Milo (Zlatko Buric) gerät, übrigens damals tatsächlich Dealer Nummer 1 von Kopenhagen. Ein gigantisches Figurenarsenal wird hier dicht miteinander verflochten, das sich gegenseitig in den kriminellen Abgrund zieht. Nach dem großen Erfolg seines ersten Films begann Refn, künstlerisch ambitionierte Filme zu machen. Er trieb sich dadurch selbst immer mehr in die Schuldenfalle, bis er 2004, auf Anraten seiner Kreditgeber, PUSHER II drehte. Den zweiten Teil lässt er um einen Säugling kreisen, dessen angeblicher Vater der eben aus der Haft entlassene Tonny (Mads Mikkelsen) sein soll. Auf seinem Schädel hat er sich "Respect" tätowieren lassen, und auf der Suche nach Anerkennung tappert er hilflos in seinem Halbstarken-Leben herum, bis er endlich die Zärtlichkeit zum Kinde entdeckt. Family values machen den Film zum schwächsten Teil der Trilogie, die Kamera zeigt sich wild schwenkend im epigonalen Dogma-Fieber. PUSHER III fährt dann aber wieder die Größe einer starken Milieu-Erzählung auf, konzentriert auf den Drogenboss Milo. Dieser versucht vergeblich clean zu bleiben, während er für seine erwachsene Tochter ein Geburtstagsessen ausrichtet und ihm von albanischen Dealern der neuen Generation übel zugesetzt wird. Ein Film über das Alter und den Tod, mit einer gigantischen Splatterszene, in der man dem "Angel of the Death" dabei zusehen kann, wie er nach allen Künsten der Fleischfiletierung die unehrenvollen Drogen- und Mädchenhändler kleinmacht.

Die Pusher-Trilogie wurde in der Reihe "White Light" gezeigt, die Drogen jedoch werden im Durchgang durch die drei Teile immer marginaler, zu ganz normalen Ingredienzen eines Leben in einer kriminellen Parallelwelt. Weißes Licht war hier als ästhetisches Phänomen weniger zu finden. Dass weißes Licht aber einen inneren Bewusstseinszustand auszudrücken vermag, führte auf hypnotisierende Weise THE PIANO TUNER OF EARTHQUAKES von den Quay Brothers vor. Timothy und Stephen Quay, zwei "Kings & Aces", animieren in ihren Filmen Puppen und Objekte und verbinden sie mit realen Akteuren im naturalistischen Set. In ihrem zweiten Langfilm kreieren sie eine phantastische Jenseitswelt. Mechanische Apparaturen halten Stimmen gefangen, die der vampiristische Dr. Emmanuel Droz (Gottfried John) seinen Opfern entrissen hat und in Jahrmarktsorgeln orchestriert. Ein Klavierstimmer soll die Gesangs-Automaten wieder auf Stimme bringen und entdeckt dabei das nächste Opfer von Droz, eine Sängerin, die einer Konzertaufführung entrissen wurde. In dieser Welt der geraubten Stimmen, die an die Automaten-Phantastik und die abgetötete Natur von Egar A. Poe und Joris-Karl Huysmans erinnert, ertönen die Klänge, als hätte man sie ihrer Resonanz geraubt, die Stimmen fallen oft in ein Wispern hinein, was eine sehr dichte, sehr nahe Atmosphäre verbreitet, wie ein Bettgeflüster kurz vor dem Einschlafen. Die Gegenstände, die Landschaft und die Menschen wirken eigentümlich fahl und kraftlos, nicht nur, als hätte man ihnen den Lebenssaft entzogen, sondern zugleich auch alle Farblichkeit. Eine matte Dunkelheit dominiert die Bilder, die immer wieder in ein stumpfes Weiß abgleitet, wenn die Sängerin im somnambulen Zustand vor dem hellgrauen Himmel dahingleitet, oder in den blinden Spiegelungen eines Glases, die sich ergeben, wenn der Klavierstimmer in die mechanischen Innenwelten der Apparaturen hineinblickt. Ein Film, der Dunkelheit und Helligkeit eins werden lässt, der am Ende die große Realwelt hineingleiten lässt in die traumhafte, beseelte, weiße Innenwelt einer Schneekugel.

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In the real world, in der Wirklichkeit, befindet man sich, wenn man aus den rauschhaften Zuständen wieder auftaucht, wenn man erwacht aus der inneren Versenkung. Viele der Filme, die in Rotterdam gezeigt wurden, waren gesättigt von der fiktional ausgetragenen Wirklichkeit. Zwei Spielfilme befassten sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Algerienkrieg, der in Frankreich groß herausgekommene LA TRAHISON von Philippe Faucon und der vom Rotterdamer Publikum hochgeschätzte NUIT NOIR, 17 OCTOBRE 1961 von Alain Tasma. LA TRAHISON ist ein dichtes Drama, das sich in der algerischen Wüste zwischen den französischen Besatzungssoldaten und der Nationalen Befreiungsarmee der Algerier (FLN) abspielt. Es geht um Verrat zwischen den Lagern, unter der Oberfläche spitzt sich unausweichlich die statische Situation der Besatzung zum Höhepunkt einer Falle zu. Faucon hat einen sehr atmosphärischen Film geschaffen, der den Algerienkrieg als ein gefährliches, psychologisches Minenfeld inszeniert. Über die Gespräche zwischen den Soldaten, über Blicke und Ahnungen, die beim Zuschauer wachgerufen werden, entwickelt sich das Drama der Ereignisse. Der Film erklärt nur wenig, lässt die authentische Geschichte nach den Aufzeichnungen des jungen Leutnant Claude Sales in seiner unausgesprochenen, inneren Spannung geschehen.
Ganz anders NUIT NOIR, der die Ereignisse rekonstruiert, als der Algerienkrieg auf Paris übergriff und dabei auch in den Nebensächlichkeiten erklären und verdeutlichen will. Es geht um die Schikane, die von der Polizei auf die algerischen Immigranten ausgeübt wurde, um die zufälligen Verhaftungen und die Folter bei den Verhören. Im Gegenzug ermordeten die Aktivisten der FLN wahllos Polizisten in den Straßen von Paris. Die Situation spitzte sich damals auf ein Ereignis zu, das aktuell in CACHÉ von Michael Haneke als Schlüssel des Algerientraumas aufgerufen wird: Eine friedliche, unbewaffnete Demonstration von Algeriern in den Straßen von Paris wurde in der Nacht des 17. Oktober 1961 von von der Staatsgewalt brutal niedergeknüppelt, es kam zu Erschießungen von Demonstranten. Schwarzer Höhepunkt der Geschehnisse war, als Polizisten die "Ratten", wie sie die Algerier nannten, von einer Brücke in die Seine warfen und buchstäblich ertränkten. Der Film ist sicherlich eine historische Belehrung, dramaturgisch wie ein TV-Thriller aufbereitet, aber eine wichtige Doku-Fiktion, um den Franzosen die blinden Stellen ihrer eigenen Geschichte vor Augen zu führen.

Fiktionen können von Wirklichkeit gesättigt sein. Dokumentationen können ihrerseits Geschichten erzählen, die Wirklichkeit wie in einer Fiktion fremd werden lassen. Der Filmessay EAST OF PARADISE von Lech Kowalski, der letzte Teil seiner WILD WILD EAST-Trilogie, ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie ausgehend von der dokumentierten Wirklichkeit Erzählung entsteht, die in den Bann zieht, und die einen zweifeln lassen möchte über die Wirklichkeit des Erzählten, so unerträglich unfassbar ist sie.
In dem Dyptichon erzählt im ersten Teil die Mutter des Regisseurs, Maria Werla Kowalski, wie sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von Polen ins russische Sibirien deportiert wurde, berichtet von dem Eingepferchtsein im Zug, von Wanzen, die sich blutsaugend über die Körper hermachten, von der Folter im Lager. Aber sie erzählt auch von einer Liebe, die zwischen einem Aufseher und ihr entbrannt war. Immer weitere Deportierungen folgten, bevor sie wieder in die Freiheit entlassen wurde. Während sie erzählt, sieht man nur sie, im dichten Close-Up auf ihr Gesicht, ihre Stimme spinnt den Faden der Erinnerung, in den sich ganz allmählich die Emotionen verweben. Dann ertönt Jazzmusik, man sieht einen Junkie, der sich nach seiner morgendlichen Dusche die Spritze setzt. Kowalski taucht in seine eigene Vergangenheit hinab. Der zweite Teil zeigt die Bilder aus seinen früheren Filmen, als er die Porno- und Drogen- und Musikszene New Yorks der 70er und 80er Jahre festhielt. Es geht um die Selbstauslöschung des Körpers, um die drogenstimulierte Wiederauferstehung der Außenseiter als heimliche Helden der Gesellschaft. Es geht um Macht und Ohnmacht, die sich in der Welt des Underground vereinen. In beiden Teilen erscheint die erlebte Wirklichkeit als etwas Unfassbares, außerhalb von Menschlichkeit und Zivilisation. Die Erzählung darüber wird zur reinigenden Notwendigkeit, ohne die vergangenen Ereignisse jedoch verstehbarer zu machen. Und der Film wird zum verstörenden Erlebnis, wenn er Geschichte als eine Geschichte von Opfer und Opfergang begreift.

"The world exists", sagt der amerikanische Fotograf William Eggleston in dem Dokumentarfilm IN THE REAL WORLD. Er setzt trocken hinzu: "In colors." Vielleicht sollte man hinzufügen, dass ja die Farben der Wirklichkeit in der Summe wieder weißes Licht ergeben. Und darüber auch die geballte Wirklichkeit im Sprung in die Überhöhung sich selbst rauschhaft entkommen kann.

Dunja Bialas

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