|
Eine Folge von flottierenden Farben, das ist aufs physikalische
Phänomen herunter-gebrochen, Bewegung innerhalb des bewegten
Kinobildes. Angenommen, all diese Farben überlagerten
sich, dann wäre das visuelle Charakteristikum des Kinos
nicht mehr und nicht weniger als weißes Licht.
White Light, so war der Titel einer Filmreihe auf
dem diesjährigen 35. Filmfestival von Rotterdam. Hier
wurden Filme gezeigt, in denen Drogen eine zentrale Rolle
spielen. Weißes Licht, so kann der Effekt eines Rauschzustandes
genannt werden, der das Auge in Halluzination versetzt, es
wie unter Hypnose in andere Bewusstseinszustände bringt.
Das Halluzinogene, die illusionäre Täuschung der
Sinne, ist bekanntermaßen zugleich das, was das Kino
von anderen Kunstformen unterscheidet: Denn das bewegte Bild
ist nichts anderes als ein Artefakt. Es entsteht im kinematographischen
Dispositiv, wo 24 Bilder in der Sekunde dem Auge ein bewegtes
Bild vortäuschen.
Wie kein anderes Festival begreift Rotterdam das Kino als
spezifische, illusionäre Kunstform, als "septième
art", mit einem ähnlichen Stellenwert wie die bildende
Kunst. In Zusammenarbeit mit den großen Museen der Stadt
bringt das Festival Filme von bildenden Künstlern in
den Zusammenhang ihrer malerischen Werke. Dieses Jahr wurde
die Arbeit der amerikanischen Künstlerin Sarah Morris
gezeigt. Ihre großflächigen, strukturalen Gemälde
waren im Kontext ihrer Kurzfilme zu sehen, in denen sie Ansichten
und innere Zustände von Großstädten in Bild-
und Soundstrukturen überführt. Eine Verbindung von
gemaltem und bewegtem Bild, von Abstraktion und Konkrektion,
die das Wechselspiel zwischen den beiden Kunstformen deutlich
machte.
Filme mit Kunstanspruch müssen jedoch nicht zwangsläufig
in den Zusammenhang der bildenden Kunst gebracht werden. Der
Schwerpunkt des Festivals liegt auf den Independent- und Arthouse-Produktionen
der aktuellen Saison. In einem Dutzend Sektionen versucht
es, die um die 600 Lang- und Kurzfilme seines Programms so
zu gruppieren, dass man nicht den Überblick verliert.
Elf Preise werden vergeben, darunter die beiden wichtigen
"Tiger Awards" für jeweils einen Kurz- und
Langfilm. Im Wettbewerb stehen ausschließlich Newcomer
mit ihrem ersten oder zweiten Langfilm. Den Tiger zu gewinnen,
bedeutet für die sehr jungen Filmemacher (sie sind überwiegend
in den 70er Jahren geboren) einen großen, entscheidenden
Sprung in die Welt des internationalen Kinogeschehens.
Die Aufbruchsstimmung in ein neues Kino, die das Festival
antreibt, und sein Bewusstsein über Kinogeschichte und
Kunstform, vereinen sich im Wahrzeichen des Festivals, einem
Tiger: In einem kraftvollen Sprung fliegt er nach vorne, in
die Zukunft des Kinos, blickt gleichzeitig zurück, auf
seine Geschichte.
Rotterdam, Big Player im europäischen Filmgeschehen,
erlaubt seiner Leiterin Sandra den Hamer eine umfassende Programmierung.
Sie sieht sich vor der Möglichkeit, nicht nur in großen
Retrospektiven das Werk eines Regisseurs vorzustellen (dieses
Jahr standen der Japaner Nagasaki Shunichi und der britische
Avantgardefilmer Stephen Dwoskin im Fokus), sondern kann auch
in den Nebenreihen des Festivals, "Kings & Aces",
"Time & Tides" und "White Light",
kleinere Werkschauen von Regisseuren zeigen. Philippe Garrel,
der mit LES AMANTS RÉGULIERS, einer hypnotisierenden
éducation sentimentale über die Zeit um 68, derzeit
in Frankreich für Furore sorgt, war mit J'ENTENDS PLUS
LA GUITARE (1991) und SAUVAGE INNOCENCE (2001) mit zwei anderen
Werken vertreten. Ein wahres Kinoereignis wurde der sogenannte
"Pusher-Marathon", in dem die erfolgreiche Drogen-Trilogie
des Dänen Nicolas Winding Refn hintereinander gezeigt
wurde. Der erste Teil der Trilogie (damals noch nicht als
Dreiteiler geplant), PUSHER von 1996, war sein Filmdebüt
und wurde schlagartig zu einem riesigen Erfolg. Von einem
narrativen Sog getrieben, erzählt er den rasanten Abstieg
des Drogendealers Frank (Kim Bodnia), der, von Pech verfolgt,
immer tiefer in die Schuldenfalle des serbischen Drogenbarons
Milo (Zlatko Buric) gerät, übrigens damals tatsächlich
Dealer Nummer 1 von Kopenhagen. Ein gigantisches Figurenarsenal
wird hier dicht miteinander verflochten, das sich gegenseitig
in den kriminellen Abgrund zieht. Nach dem großen Erfolg
seines ersten Films begann Refn, künstlerisch ambitionierte
Filme zu machen. Er trieb sich dadurch selbst immer mehr in
die Schuldenfalle, bis er 2004, auf Anraten seiner Kreditgeber,
PUSHER II drehte. Den zweiten Teil lässt er um einen
Säugling kreisen, dessen angeblicher Vater der eben aus
der Haft entlassene Tonny (Mads Mikkelsen) sein soll. Auf
seinem Schädel hat er sich "Respect" tätowieren
lassen, und auf der Suche nach Anerkennung tappert er hilflos
in seinem Halbstarken-Leben herum, bis er endlich die Zärtlichkeit
zum Kinde entdeckt. Family values machen den Film zum schwächsten
Teil der Trilogie, die Kamera zeigt sich wild schwenkend im
epigonalen Dogma-Fieber. PUSHER III fährt dann aber wieder
die Größe einer starken Milieu-Erzählung auf,
konzentriert auf den Drogenboss Milo. Dieser versucht vergeblich
clean zu bleiben, während er für seine erwachsene
Tochter ein Geburtstagsessen ausrichtet und ihm von albanischen
Dealern der neuen Generation übel zugesetzt wird. Ein
Film über das Alter und den Tod, mit einer gigantischen
Splatterszene, in der man dem "Angel of the Death"
dabei zusehen kann, wie er nach allen Künsten der Fleischfiletierung
die unehrenvollen Drogen- und Mädchenhändler kleinmacht.
Die Pusher-Trilogie wurde in der Reihe "White Light"
gezeigt, die Drogen jedoch werden im Durchgang durch die drei
Teile immer marginaler, zu ganz normalen Ingredienzen eines
Leben in einer kriminellen Parallelwelt. Weißes Licht
war hier als ästhetisches Phänomen weniger zu finden.
Dass weißes Licht aber einen inneren Bewusstseinszustand
auszudrücken vermag, führte auf hypnotisierende
Weise THE PIANO TUNER OF EARTHQUAKES von den Quay Brothers
vor. Timothy und Stephen Quay, zwei "Kings & Aces",
animieren in ihren Filmen Puppen und Objekte und verbinden
sie mit realen Akteuren im naturalistischen Set. In ihrem
zweiten Langfilm kreieren sie eine phantastische Jenseitswelt.
Mechanische Apparaturen halten Stimmen gefangen, die der vampiristische
Dr. Emmanuel Droz (Gottfried John) seinen Opfern entrissen
hat und in Jahrmarktsorgeln orchestriert. Ein Klavierstimmer
soll die Gesangs-Automaten wieder auf Stimme bringen und entdeckt
dabei das nächste Opfer von Droz, eine Sängerin,
die einer Konzertaufführung entrissen wurde. In dieser
Welt der geraubten Stimmen, die an die Automaten-Phantastik
und die abgetötete Natur von Egar A. Poe und Joris-Karl
Huysmans erinnert, ertönen die Klänge, als hätte
man sie ihrer Resonanz geraubt, die Stimmen fallen oft in
ein Wispern hinein, was eine sehr dichte, sehr nahe Atmosphäre
verbreitet, wie ein Bettgeflüster kurz vor dem Einschlafen.
Die Gegenstände, die Landschaft und die Menschen wirken
eigentümlich fahl und kraftlos, nicht nur, als hätte
man ihnen den Lebenssaft entzogen, sondern zugleich auch alle
Farblichkeit. Eine matte Dunkelheit dominiert die Bilder,
die immer wieder in ein stumpfes Weiß abgleitet, wenn
die Sängerin im somnambulen Zustand vor dem hellgrauen
Himmel dahingleitet, oder in den blinden Spiegelungen eines
Glases, die sich ergeben, wenn der Klavierstimmer in die mechanischen
Innenwelten der Apparaturen hineinblickt. Ein Film, der Dunkelheit
und Helligkeit eins werden lässt, der am Ende die große
Realwelt hineingleiten lässt in die traumhafte, beseelte,
weiße Innenwelt einer Schneekugel.
*
In the real world, in der Wirklichkeit, befindet man
sich, wenn man aus den rauschhaften Zuständen wieder
auftaucht, wenn man erwacht aus der inneren Versenkung. Viele
der Filme, die in Rotterdam gezeigt wurden, waren gesättigt
von der fiktional ausgetragenen Wirklichkeit. Zwei Spielfilme
befassten sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Algerienkrieg,
der in Frankreich groß herausgekommene LA TRAHISON von
Philippe Faucon und der vom Rotterdamer Publikum hochgeschätzte
NUIT NOIR, 17 OCTOBRE 1961 von Alain Tasma. LA TRAHISON ist
ein dichtes Drama, das sich in der algerischen Wüste
zwischen den französischen Besatzungssoldaten und der
Nationalen Befreiungsarmee der Algerier (FLN) abspielt. Es
geht um Verrat zwischen den Lagern, unter der Oberfläche
spitzt sich unausweichlich die statische Situation der Besatzung
zum Höhepunkt einer Falle zu. Faucon hat einen sehr atmosphärischen
Film geschaffen, der den Algerienkrieg als ein gefährliches,
psychologisches Minenfeld inszeniert. Über die Gespräche
zwischen den Soldaten, über Blicke und Ahnungen, die
beim Zuschauer wachgerufen werden, entwickelt sich das Drama
der Ereignisse. Der Film erklärt nur wenig, lässt
die authentische Geschichte nach den Aufzeichnungen des jungen
Leutnant Claude Sales in seiner unausgesprochenen, inneren
Spannung geschehen.
Ganz anders NUIT NOIR, der die Ereignisse rekonstruiert, als
der Algerienkrieg auf Paris übergriff und dabei auch
in den Nebensächlichkeiten erklären und verdeutlichen
will. Es geht um die Schikane, die von der Polizei auf die
algerischen Immigranten ausgeübt wurde, um die zufälligen
Verhaftungen und die Folter bei den Verhören. Im Gegenzug
ermordeten die Aktivisten der FLN wahllos Polizisten in den
Straßen von Paris. Die Situation spitzte sich damals
auf ein Ereignis zu, das aktuell in CACHÉ von Michael
Haneke als Schlüssel des Algerientraumas aufgerufen wird:
Eine friedliche, unbewaffnete Demonstration von Algeriern
in den Straßen von Paris wurde in der Nacht des 17.
Oktober 1961 von von der Staatsgewalt brutal niedergeknüppelt,
es kam zu Erschießungen von Demonstranten. Schwarzer
Höhepunkt der Geschehnisse war, als Polizisten die "Ratten",
wie sie die Algerier nannten, von einer Brücke in die
Seine warfen und buchstäblich ertränkten. Der Film
ist sicherlich eine historische Belehrung, dramaturgisch wie
ein TV-Thriller aufbereitet, aber eine wichtige Doku-Fiktion,
um den Franzosen die blinden Stellen ihrer eigenen Geschichte
vor Augen zu führen.
Fiktionen können von Wirklichkeit gesättigt sein.
Dokumentationen können ihrerseits Geschichten erzählen,
die Wirklichkeit wie in einer Fiktion fremd werden lassen.
Der Filmessay EAST OF PARADISE von Lech Kowalski, der letzte
Teil seiner WILD WILD EAST-Trilogie, ist ein faszinierendes
Beispiel dafür, wie ausgehend von der dokumentierten
Wirklichkeit Erzählung entsteht, die in den Bann zieht,
und die einen zweifeln lassen möchte über die Wirklichkeit
des Erzählten, so unerträglich unfassbar ist sie.
In dem Dyptichon erzählt im ersten Teil die Mutter des
Regisseurs, Maria Werla Kowalski, wie sie zu Beginn des Zweiten
Weltkriegs von Polen ins russische Sibirien deportiert wurde,
berichtet von dem Eingepferchtsein im Zug, von Wanzen, die
sich blutsaugend über die Körper hermachten, von
der Folter im Lager. Aber sie erzählt auch von einer
Liebe, die zwischen einem Aufseher und ihr entbrannt war.
Immer weitere Deportierungen folgten, bevor sie wieder in
die Freiheit entlassen wurde. Während sie erzählt,
sieht man nur sie, im dichten Close-Up auf ihr Gesicht, ihre
Stimme spinnt den Faden der Erinnerung, in den sich ganz allmählich
die Emotionen verweben. Dann ertönt Jazzmusik, man sieht
einen Junkie, der sich nach seiner morgendlichen Dusche die
Spritze setzt. Kowalski taucht in seine eigene Vergangenheit
hinab. Der zweite Teil zeigt die Bilder aus seinen früheren
Filmen, als er die Porno- und Drogen- und Musikszene New Yorks
der 70er und 80er Jahre festhielt. Es geht um die Selbstauslöschung
des Körpers, um die drogenstimulierte Wiederauferstehung
der Außenseiter als heimliche Helden der Gesellschaft.
Es geht um Macht und Ohnmacht, die sich in der Welt des Underground
vereinen. In beiden Teilen erscheint die erlebte Wirklichkeit
als etwas Unfassbares, außerhalb von Menschlichkeit
und Zivilisation. Die Erzählung darüber wird zur
reinigenden Notwendigkeit, ohne die vergangenen Ereignisse
jedoch verstehbarer zu machen. Und der Film wird zum verstörenden
Erlebnis, wenn er Geschichte als eine Geschichte von Opfer
und Opfergang begreift.
"The world exists", sagt der amerikanische Fotograf
William Eggleston in dem Dokumentarfilm IN THE REAL WORLD.
Er setzt trocken hinzu: "In colors." Vielleicht
sollte man hinzufügen, dass ja die Farben der Wirklichkeit
in der Summe wieder weißes Licht ergeben. Und darüber
auch die geballte Wirklichkeit im Sprung in die Überhöhung
sich selbst rauschhaft entkommen kann.
Dunja Bialas
|