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Das Werk des ukrainisch-russischen
Dokumentarfilmers Sergei Loznitsa auf den Écrans Documentaires
in Paris
Sergei Loznitsa, Jahrgang 1964, hat bislang acht mittellange
Dokumentarfilme gemacht, wurde auf Festivals mit Preisen überhäuft.
In einer Werkschau zeigten jetzt die "Écrans Documentaires",
ein kleines Dokumentarfilmfestival in Arceuil nahe Paris,
sein bisheriges Gesamtwerk, einschließlich des jüngst
fertiggestellten Films BLOCKADE. Unsere Autorin hat die seltene
Gelegenheit ergriffen und sich einen Überblick über
sein Werk verschafft.
Seine Filme zeigen reglose Menschen vor Landschaften, Schlafende
in einem Bahnhof, Wartende an einer Bushaltestelle. Das Innehalten
der Menschen in Russland ist für Sergei Loznitsa immer
Dokumentation und Metapher zugleich: Dokumentation einer tatsächlichen,
ökonomischen und sozialen Lähmung, in das die Menschen
seit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches gefallen sind; und
Metapher für den Stillstand eines Landes, das sich, verfangen
in mafiösen Strukturen, selbst blockiert.
Loznitsa begegnet der Realität wie einem Material. Er
formt es mit dem Blickwinkel seiner Kamera, verleiht ihm Dauer,
in dem er ähnliche Szenen in der Montage zu einer einzigen
großen Sequenz zusammenfasst, fügt ihm nachträglich
eine Tonspur hinzu, mit Tönen, die er den Szenen vor
Ort entnommen hat, aber auch mit Material aus seiner "Tonbibliothek".
Meist sind seine Filme schwarzweiß. Gesprochen wird
kaum, und wenn, dann sind es wie zufällig eingefangene
Gesprächsfetzen, oder die Tonspur ist so angelegt, dass
die Worte der Menschen in den Klängen ihrer industriellen
Umgebung untergehen. Loznitsa greift auf vielfältige
Weise mit seinen Filmen in die Wirklichkeit ein, es sind ästhetische
Eingriffe, die die Wirklichkeit sezieren: Nicht Realität
wird in seinen Filmen dokumentiert, sondern der Wirklichkeit
die Essenz einer tiefer liegenden Wahrheit entschält.
Vielleicht kann der Charakter seiner Filme am besten mit
einer Genre-Bezeichnung erfasst werden, die er selbst einem
seiner Filme zum Titel gegeben hat: das Portrait. Loznitsa
bündelt die Bilder seiner Filme zu Themen und kommt darüber
zu mehr oder minder in sich geschlossenen Darstellungen von
Menschen und Situationen, sozialen und historischen Portraits
eines Landes. Sein Film PORTRAIT aus dem Jahre 2002 macht
deutlich, wie radikal dabei seine Arbeitsweise sein kann:
Für seinen Film stellte er die Bewohner eines russischen
Dorfs in ihrer Arbeitskleidung auf dem Dorfplatz und in den
Wiesen auf, und ließ sie für seine Kamera posieren,
in den Händen die Gegenstände, die ihr tägliches
Leben bestimmen, ähnlich den Attribuierungen, die in
Herrschaftsgemälden die gesellschaftliche Funktion des
Porträtierten erkennen lassen. Derartig mit Eimer und
Mist- oder Heugabel bestückt, blicken die Menschen in
die unbewegte Kamera hinein, verharren minutenlang im Stillstand,
wie in den Anfangszeiten der Photographie. Seine "Langzeitbelichtungen"
der Menschen vor der Kamera provozieren das genaue Hinsehen
des Betrachters, der konfrontiert wird mit dem Stillstand
der Szenerien, in denen nur das Atmen der Porträtierten
und das leichte Schwanken ihrer Körper Bewegung erzeugt.
Die Schwarzweißbilder, mit denen Loznitsa das ländliche
Leben protraitiert, sind weit davon entfernt, Pittoreske zu
erzeugen. Die Gesichter der Landbewohner strömen Fremdheit
und Abwehr aus, die Kamera verhält sich zu den Menschen
meist in der respektvollen Distanz der totalen Einstellung.
Nicht das "Menschliche", die Psychologie, die sich
in tief furchenden Falten abbildet und sich im Close Up ergäbe,
interessiert Loznitsa, sondern die Einbettung der Menschen
in den Kontext ihres Lebens, das sich in den Gegenständen
und der Landschaft, die sie umgibt, zeichenhaft ablesen lässt.
Meist verleiht Loznitsa seinen filmischen Portraits eine
Mikrodramaturgie, die die Situation, die er zuvor portraitiert
hat, aus Stillstand und Starre erlöst. So in seinem Film
DAS WARTEN (2000), wo er fünfundzwanzig Minuten lang
Schlafende in einem Wartesaal zeigt, in den denkbar unbequemensten
Positionen: die Köpfe hintübergekippt, den Oberkörper
auf die Beine, den Kopf in den Schoß seines Sitznachbars
gelegt, in allen Stellungen wird geschlafen. Am Schluss erwacht
ein Kind unter den Schlafenden, reibt sich die Augen, blickt
um sich und schläft wieder ein. Mit diesem minimalen
Ereignis erwirkt Loznitsa ein finales Öffnen seines Films
und bringt Bewegung in die Gesellschaft, die er wie im Dornröschenschlaf
portraitiert. Ob diese Bewegung, verursacht durch ein Kind,
das wieder einschläft, hoffnungsvoll oder hoffnungslos
ist, gerade das läßt Loznitsa offen. Entscheidend
ist bei ihm, dass doch noch etwas passiert, etwas, das sich
kontrastiv setzt zu der Situation, der er in seinem Film Dauer
gegeben hat.
Eine ähnliche Situation wie in DAS WARTEN beschreibt
sein Film LANDSCHAFT von 2003, nur unter gänzlich anderer
Ästhetik. In einem langsamen, fortgesetzten 360-Grad-Schwenk
streift die Kamera zuerst über Wiesen und Felder, fährt
dann die Häuser eines Dorfplatzes entlang, passiert,
immer konzentrischer werdend, die Menschen, die auf einem
Marktplatz auf die Ankunft eines Busses warten, geht dabei
sukzessive von der Totalen ins Close-Up. Ein endloses, kontiunierliches
Kreisen, das erst dann innehält, als der Bus kommt und
das Warten beendet. Die Dreharbeiten dauerten zwei Monate.
Zu Beginn ist noch eine herbstliche Landschaft zu sehen, am
Schluss stehen die Wartenden bei klirrender Kälte auf
dem winterlichen Dorfplatz. Die "Landschaft" zurrt
sich zusammen wie in immer extremere Verhältnisse, die
Gesprächsfetzen, die die Wartenden austauschen, verhandeln
Leben, Krankheiten, Invalidentum und Tod, mit bisweilen sarkastischem
Humor, der zeigt, wie alltäglich diese Themen für
die Menschen geworden sind.
Über der Dauer der Szenen herrscht dabei bei Loznitsa
eine eigenartige Stille - ein Moment von akustischer Dauer,
da die Zeit über den Ton kaum Skandierungen erhält.
Einzelne Geräusche arbeitet Loznitsa heraus - wie das
pfeifende Atmen der Schlafenden - andere lässt er nebensächlich
werden, wie die Gespräche unter den Wartenden an der
Bushaltestelle, die, kaum ausgesprochen, von der klirrenden
Kälte schon wie verschluckt erscheinen.
In seinem jüngsten Film BLOCKADE, den Loznitsa erst
vor wenigen Wochen fertiggestellt hat, ist die Arbeit auf
der Tonspur ganz entscheidend. Der Film ist ein historisches
Portrait Leningrads während der Blockade im Zweiten Weltkrieg,
das Loznitsa ausschließlich aus Material aus den Moskauer
Archiven zusammengestellt hat. Loznitsa imaginiert zu dem
stummen Geschehen im Bild eine Tonspur, synchronisiert nachträglich,
was auf Bildebene zu sehen ist, ordnet Geräusche zu,
die auf der Tonspur unterstützen, was sich im Bild ereignet.
Die Töne sind technisch vollkommen, genau zum Bild gesetzt
und erzeugen eine unausweichliche, akustische Präsenz
der Szenen, so als würden sie im Moment passieren. Durch
diese Arbeit auf der Tonspur, entreißt Loznitsa die
Bilder dem Aspekt des Archivierten, Vergangenen; er "reanimiert"
sie und verlegt die Bilder wieder dahin, woher sie einst kamen:
in die Mitte eines sich im Moment des Filmens ereignenden
Lebens.
Im Kontext seiner eigenen Filme wirkt BLOCKADE wie ein Film,
in dem auch die Bilder Loznitsa selbst zugeordnet werden können.
Auch BLOCKADE faßt wiederkehrende Szenen zu längeren
thematischen Sequenzen zusammen, gibt den Archivbildern dadurch
Dauer, die ihnen eine ganz spezifische Präsenz verleiht.
Szenerien, wie das Aufsammeln des Bausschutts nach einem Bombenangriff
und das Abtransportieren von Leichen mit Handwägen, ruft
Loznitsa nicht als einmalige historische Situation auf, sondern
bündelt sie zu wiederkehrenden Handlungen. Erst in der
Wiederholung verlieren die Bilder das Präteritum einer
vergangen Zeit und erhalten in der Wiederkehr den Charakter
historischen Präsens, eines quasi präsenten Lebens.
Das Vergangene zur Gegenwart machen - bei Loznitsa erhält
der Zeitenwechsel immer auch die Dimension der Metapher. Die
Blockade ist auch noch heute auszumachen, die Geschichte kommt
nicht voran in Russland, sondern dreht sich, wie die Kamera
beim weitläufigen 360-Grad-Schwenk, im Kreis.
Dunja Bialas
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