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19.08.2004
 
 
       

Mannheimer Gespräche - Journalismus zwischen Kritik
und Kommerz
(November 2003)

 
 
"Meine Idee von Filmkritik wäre Herausforderung" (Christoph Hochhäusler; Foto: MILCHWALD)
   
 
 
 
 

"Ich glaube, der Leser will alles, was gut ist."
Auf der Suche nach der Filmkritik - ein Protokoll


An diesem Donnerstag beginnt das 53. Internationale Filmfestival Mannheim. Ein Newcomer-Festival, das Regisseure wie François Truffaut, Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Agnès Varda, Lars von Trier entdeckte. Ein guter Anlass, sich über die Rolle als Filmkritiker Gedanken zu machen, über die Verantwortung gegenüber Filmen und Publikum, über das journalistische Funktionieren im Tagesgeschehen der Zeitungsberichte. Zum Thema "Journalismus zwischen Kritik und Kommerz" diskutierten dort bereits im November 2003 auf einem informellen Seminar des "Verband der deutschen Filmkritik" (VdFk) Journalisten und Filmemacher zum Thema "Film-Journalismus zwischen Kritik und Kommerz". Teilnehmer waren unter anderem der in Berlin lebende Regisseur Christoph Hochhäusler, dessen gefeiertes Spielfilmdebüt MILCHWALD seit kurzem in deutschen Kinos zu sehen ist, der Weinheimer Regisseur und Kinobetreiber Zoltan Paul (GONE), der Kölner Filmkritiker Josef Schnelle, sowie Dunja Bialas und Rüdiger Suchsland (der auch die Moderation übernahm) für artechock. Weitere einzelne Teilnehmer und Fragesteller sind direkt bei ihren Wortmeldungen aufgeführt.
Praktisches Ziel des Gesprächs war das Sammeln von Fragen an die gegenwärtige Filmkritik, die einer Vertiefung wert sein könnten.
Aus Anlaß der Eröffnung des Festivals Mannheim-Heidelberg am kommenden Donnerstag veröffentlichen wir hier lange Auszüge aus dem Gespräch - zugleich Auftakt für eine Diskussion über Sinn und Unsinn, Praxis und Theorie einer gegenwärtigen Filmkritik, die, wie das Gespräch zeigte, zwischen Anschmiegung und Gefangenschaft in pragmatischen Schleifen ein wenig diffus flaniert. In einem Special zum Thema Filmkritik wollen wir das Thema weiterverfolgen.

Protokoll und redaktionelle Bearbeitung: Rüdiger Suchsland


*Nachtrag:
Nach der Veröffentlichung des Mannheimer Gesprächs erreichte uns eine Zuschrift von Christina Nord von der taz, die in einer Äußerung von Rüdiger Suchsland erwähnt wird. Sie wendet sich mit einem korrigierenden Einwand gegen die Darstellung ihrer Redaktionstätigkeit. Wir begrüßen die Ergänzung des in Mannheim stattgefundenen Gesprächs und erweitern die Runde virtuell mit dem Statement von Christina Nord. Es wurde im Wortlaut als Replik auf die sie betreffende Äußerung ins Gespräch integriert.

Rüdiger Suchsland: Zum Auftakt eine Geschichte: Die Filmkritikerin Claudia Lenssen schreibt derzeit an einem Buch über Frida Grafe. Im Gespräch berichtete sie neulich, Grafe habe sich mit den Jahren zunehmend in sich selbst zurückgezogen, sei esoterischer geworden. Lenssen hat das verglichen mit Wolfram Schütte und dessen Generation von Kritikerpäpsten, die den Neuen Deutschen Film in den 60er und 70er Jahren nicht nur groß gemacht haben, sondern ihn dann auch in irgendeiner Form aktiv verteidigt haben. Die also wie gut organisierte und disziplinierte Soldaten, auch gesagt haben: Wir begreifen uns als Parteigänger eines Films, wir verteidigen den, und gehen dafür in die Schützengräben. Und greifen auch an natürlich.
Lenssen erzählte dann von Rundmails von Alexander Kluge in den 60er, 70er Jahren. Da ging es dann darum: Welchen Kritiker bringen wir in dieses Gremium, welchen in jenes? Und was machen wir um diesen Film zu pushen, für dies und jenes muss man etwas tun. Also: es gab einfach ein klares Parteigängertum der Filmkritik. Ein Gemeinschaftsgefühl.
Aus meiner persönlichen Sicht ist das etwas, was ich einerseits als historische Erzählung wahnsinnig verführerisch und attraktiv finde. "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" heißt ein aktueller Song, und ich frage mich dann: Warum geht das heute nicht auch? Warum mache ich so etwas nicht? Sollte ich so etwas machen?
Andererseits denke ich: Vielleicht sind das naive Träumereien. Ein wenig auch wie die Geschichten, die die Eltern und Großeltern vom Krieg erzählt haben. Vielleicht geht das auch heute gar nicht mehr so. Und vielleicht ist es auch ganz gut, dass es nicht mehr so geht. Vielleicht muss man als Filmkritiker auch mehr Distanz haben zu Regisseuren und Produzenten, und darf sich nicht mit denen verwechseln.


Josef Schnelle
: Man kann es - da wir hier eine gemischte Runde sind, Filmemacher und Kritiker, noch zuspitzen: Gab es schon mal einen anderen Zusammenhang zwischen Filmemachern und Filmkritik? Ein gemeinsameres Generationsverständnis? Ist das wieder wünschenswert und möglich, so einen Diskurs zu beginnen? Oder geht das nicht, weil es gar keinen gemeinsamen Kulturbegriff mehr in der Gesellschaft gibt?


Christoph Hochhäusler
: Anstatt darüber zu reflektieren, was mal war, und ob das eine Legende ist, müsste man sich besser darüber verständigen, was man will.
Ich habe die Sehnsucht nach einer anderen Filmkritik. Diese Sehnsucht wird gar nicht erfüllt. Ich sehe drei große Defizite der deutschen Filmkritik: 99 Prozent besteht aus Service, aus falscher Gnade und aus Impressionismus.
Was meine ich mit Service? Zwei Daumen hoch, Sternchen, im weitesten Sinne jede Art von Eventberichterstattung und Infohäppchen, die sich auf die Frage zuspitzen: Soll ich in den Film gehen, oder nicht? Diese Art von Service verachte ich. Sie hat nichts mit Kino und Filmkritik zu tun.
Um die falsche Gnade kurz zu erläutern: ich habe ein Gespräch gehabt mit dem Filmkritiker Tobias Kniebe (Süddeutsche Zeitung). Der hat gemeint: "Wir dürfen ja alle nicht schreiben, was wir denken, sonst gäbe es den deutschen Film nicht mehr." Schlimmeres kann ich mir nicht vorstellen! Das finde ich wirklich schrecklich. Diese falsche Gnade haben wir Filmemacher nicht verdient. Und wenn wir uninteressante Filme machen, dann schreibt halt nicht drüber. Das ist völlig ok. Ich finde ganz wichtig, dass ein Kritiker eine Passion hat. Die kann im Verriß wie im Lob sein, und wenn die nicht hat, dann muss man nicht schreiben. Und so frei muß man sich dann eben auch kämpfen in dem Medienzusammenhang, dass man sagen kann: Über den Film kann ich nicht schreiben, oder dann muss ich einen Verriß schreiben. Diese falsche Gnade hat auch deshalb keiner verdient, weil dafür das Filmemachen zu anstrengend ist, dass man dann gesagt bekommt: Ja für 'nen deutschen Film…, und dafür, dass er billig war…, und bla bla bla - davon haben wir nichts!
Das dritte, der Impressionismus ist etwas komplizierter. Mein Eindruck ist, dass die besseren Leute - eine Art Rollenmodell für viele von Euch Kritikern ist da ja wohl Michael Althen (FAZ) -, zu sehr aus einer persönlichen Impression heraus schreiben. Das heißt sie reflektieren über - das Extrembeispiel ist wieder Tobias Kniebe - die Sandalen im Sand, und wie es ihnen geht an diesem Tag und darüber dass sie von einer Szene irgendwie ganz persönlich betroffen sind, uns so weiter… Ihren Eindruck malen sie dann unter Umständen sprachlich ganz brillant in sehr schillernden Farben aus. Was ich daran aber schwierig finde, ist dass daraus kein Zusammenhang entsteht, und keine Herausforderung.
Meine Idee von Filmkritik wäre aber Herausforderung. Und zwar Herausforderung in alle Richtungen: an den Leser, an den Filmemacher, aber eben auch an andere Kritiker.
Also eigentlich geht es schon darum, zu versuchen, größere Perspektiven herzustellen, die dann auch ins Gesellschaftliche gehen.
Zum Beispiel: Wir haben eine Filmwirtschaft, die eine Subventionswirtschaft ist. Da geht es offensichtlich um einen Kulturbegriff. Es gibt also einen Kulturbegriff, der dem zugrunde liegt. Der ist zumindest implizit vorhanden. Und deshalb muss man die Frage diskutieren: Warum sollen wir fördern? Und was?
Das ist sozusagen der filmpolitische Aspekt davon. Darüber, über diesen Kulturbegriff muss diskutiert werden. Absolut. Und darüber kann man nur diskutieren im Streit. Und diesen Streit muss man führen.
Das sind alles Dinge, die ich vermisse. Woran das liegt, kann ich nicht genau beurteilen. Es fehlt zum Teil an Publikationen, zum Teil an der Hausmacht in gewissen Zeitungen. Aber klar ist auch, dass die Kritiker das längerfristig auch selbst ändern könnten.


Josef Schnelle: Ich finde das sehr interessant. Man muss natürlich dabei bedenken, dass sich diese Entwicklung einbettet in die Entwicklung des Kulturjournalismus insgesamt. Man kann eigentlich über Filme nur noch auf zweierlei Art berichten: Entweder impressionistisch, wie Du beschreibst: Der Text über Film als Schmankerl. Oder der Film hat einen politischen Aufhänger. Dann wird er wahrgenommen. Aber wenn er keinen hat, sondern einfach nur interessant und gut ist, und man will sich mit ihm auseinandersetzen - dafür gibt es in vielen Medien gar keinen Ort und keinen Zugang mehr.
Die Süddeutsche Zeitung hat halt diesen Stil, nach dem der Schreiber der Star ist, über Jahre besonders entwickelt, und die Sonntags-FAZ geht jetzt auch in diese Richtung. Dahinter verschwindet natürlich Filmkritik.


Christoph Hochhäusler:
Für mich war so ein Wendepunkt zum Schlechten, als Andreas Kilb damals in der ZEIT einen Text geschrieben hat: "Im Kino gewesen, geweint." Also: Kafka…, er selbst wird Kafka…, sein Eindruck ist wichtiger als eine Auseinandersetzung.
Und das ist - auch wenn es andersrum klingt - letztendlich ein Minderwertigkeitskomplex. Ich finde ja, eine Kritik, die auch eine gesellschaftliche Perspektive herstellt, ist selbstbewusster, als diejenige, die nur schreibt: "Ich hab mich da so und so gefühlt."


Rüdiger Suchsland: Ich stimme Dir in fast allem zu. Nur zu diesem Punkt: wie persönlich darf Filmkritik sein, Impressionismus…, habe ich ein paar Anmerkungen:
Erstens: Ich finde tatsächlich, dass Festivalberichte, wie sie unter anderem von Tobias Kniebe, den ich sehr schätze als Autor, stammen, in denen er mehr als die Hälfte des Textes damit verschwendet - wie ich es empfinde -, dass er dann über die Palmen von Cannes, nicht die goldenen, sondern die grünen, räsoniert und über die Frauen, die darunter flanieren. Oder über die kleine Treppe in Venedig, und die Filme, die ihm einfallen, wenn er irgendwas gesehen hat - er hat mal aus Venedig so einen Text geschrieben, über das Hotel, das ihn an eine Szene aus irgendeinem alten Film erinnert hat, und dann hat er sich so entlang gehangelt an Assoziationen, die irgendwie mit Film was zu tun hatten, und ganz geistreich waren, aber doch nichts zu tun hatten mit den Filmen, die wir auf diesem Festival gesehen haben, und insofern, wie ich es wahrgenommen habe, auch nichts mit der Atmosphäre, damit wie es ist, auf diesem Festival zu sein. Das ist schlechter Impressionismus.
Es gibt aber auch guten. Der hat dann was damit zu tun, wie es ist, auf dem Festival zu sein, der interessiert sich primär für Phänomene und nicht primär für Empfindungen.
Michael Althen ist von Venedig aus mal zur Biennale gefahren, und hat die Filme, die er gesehen hat in Beziehung gesetzt mit den Kunstwerken der Biennale. Das finde ich durchaus legitim. Da könnte man auch sagen: Mei, der soll halt lieber noch über drei Filme schreiben, von der Biennale beichtet eh' der Kunstredakteur. Aber das, was einen starken Autor ausmacht, ist der persönliche Zugang. Also: Es gibt legitimen Impressionismus.
Gerade in Tageszeitungen. Tageszeitungsjournalismus ist auch noch mal etwas anderes, als der für Fachzeitungen und Magazine. Und Festivalberichte sind etwas anderes, als eine Filmkritik.
Zudem: Heute muss man von Festivals täglich berichten. Völliger Unsinn! Ein Wolfram Schütte hat maximal drei Berichte über ein zweiwöchiges Festival geschrieben. Aber er ist trotzdem die volle Zeit da gewesen, die Zeitung hat das finanziert, und keiner hat gefragt, warum er nicht da ist, um Redaktionsdienst zu schieben. Vielleicht kommt aus diesem täglichen Schreibzwang auch ein verstärkter Impressionismus.
Es gibt natürlich die moralische Forderung, dass ein Text irgendetwas mit dem Festival zu tun haben sollte. Das ist dann eine Frage der Gewichtung, an der sich die Moral entscheidet.
Ein zweiter Punkt: Wir alle - längst nicht nur die Filmkritik - leiden doch unter dem Problem, dass es so etwas wie gültige Weltanschauungen und Philosophien - also einen Kanon, also bestimmte feste Bewertungsmaßstäbe, an denen wir einen Film objektiv messen könnten - nicht gibt. Oder es scheint ihn nicht zu geben.
Das heißt: Jeder Kritiker trägt allenfalls einen Kanon in sich. Der Kritiker ist selbst das Medium, durch den der Film zur Sprache kommt. Durch den der Film sich in Worte verwandelt, die dann der Leser liest, um dann bestenfalls irgendwas davon zu haben. Ich glaube, dass es besser ist, diesen Charakter der Filmkritik - dass Filmkritik subjektiv ist. Dass wir als Kritiker gar nicht anders können, als unsere eigenen Empfindungen, ganz persönliche Vorlieben, die Tatsache, dass man einen Film vielleicht nur mag, weil man auf die Hauptdarstellerin steht - reinzubringen in die Filmkritik. Weil man nur dann dem Leser auch die Möglichkeit zu Distanz, natürlich auch umgekehrt zur Affirmation, gibt.


Christoph Hochhäusler:
Ich stimme Dir völlig zu, dass das auftauchen muss. Ich glaube auch, vor einem gewissen Hintergrund war diese persönliche Filmkritik ein Fortschritt. Nur ich finde eben, dass das nicht ausreicht. Man darf da nicht stehen bleiben.
Und was die These betrifft, es gäbe keinen Konsens mehr, was Kultur und Wertmassstäbe angeht - das habe ich so oft gehört, dass ich es stark bezweifle. Denn Ideologie ist immer präsent. Es gibt keine ideologiefreie Zeit. Jede Zeit verkörpert sich selbst. Und insofern kann man sagen: Wir leben in einem großen Konsens. Der heißt Kapitalismus. Der vielleicht gerade an ein paar Rändern bröckelt.
Dieser Kapitalismus ist sehr wohl ideologisch. Und dieser Individualismus ist ja Teil dieser Ideologie des Kapitalismus: Der einzelne Egoismus, der zum Gemeinwohl führt ist ja die Ideologie in der wir leben.
Also, wie Du sagst: Es scheint (!) so, als gäbe es keine Ideologie. Aber es kann nicht sein, dass es keine gibt.


Klaus Wecker
(AP, strandgut Frankfurt): Diese Kapitalismuskritik interessiert mich nicht so. Es gibt natürlich einen objektiven Grund für den subjektiven Stil. Nämlich, dass jeder sich als Autor am besten verständlich macht, indem er auch etwas von sich preisgibt. Es ist nur ehrlich, wenn man seine Meinung - nicht sein Empfinden - offen darlegt, und es nicht mit objektivierenden Floskeln verbrämt.
Zum Kanon: Was ich bei vielen Kollegen vermisse, ist, dass sie alte Filme sehen. Ich finde es unmöglich, dass Leute über Filme schreiben, die Murnau nicht kennen. Das führt dazu, dass viel zu positive Kritiken erscheinen. Die Leute jubeln irgendeinen Mist hoch, weil sie keine Massstäbe haben. Das finde ich ein ganz großes Manko.


Christoph Hochhäusler:
Ich gebe Dir völlig recht. Allerdings ist es ein Missverständnis, wenn Du glaubst, meine Kritik am Impressionismus bedeute, dass man sich "objektivierender Floskeln" bedienen soll.
Um ein Beispiel zu geben: Wen ich sehr schätze, ist Frida Grafe, ohne dass ich sie noch persönlich erlebt hätte, ich kenne sie nur aus ihren Texten. Sie hat sehr persönlich geschrieben. Aber sie war immer in der Lage, die Grundlagen ihrer Reflexion, und den gesellschaftlichen und theoretischen Zusammenhang in den Text mit einzubringen. Das meine ich.
Aber wenn man das alles weglässt, und sagt: Mir geht es so und so, und wenn man den dann noch kennt, dann kommt irgendetwas irgendein Gefühl heraus, aber es ist unangreifbar.
Die Filmgeschichte zu kennen ist zum Beispiel ein Referenzsystem, das auch hilft, eine Kritik zu verorten. Was aber auch unter Filmemachern nicht stattfindet.


Rüdiger Suchsland:
Klar, auf den Satz "Es wäre gut, wenn Filmkritiker historisches Wissen hätten", können wir uns alle einigen. Auf der anderen Seite: Jeder fängt mal an. Kann zu diesem Zeitpunkt gar nicht alles gesehen haben. Und ich glaube, keiner von uns hier am Tisch hat alles, was wir hätten sehen sollen, wirklich gesehen. Wir kennen auch Filmemacher, die wenig historisches Wissen haben. Die machen nicht immer schlechte Filme. Dann glaube ich auch, dass es Filmkritiker gibt, die nicht viel von diesem Wissen haben, und trotzdem gute Filmkritiker sind. Ich glaube, das ist nicht das Entscheidende.
Entscheidend scheint mir zu sein: Eine Haltung, mit der man Filme bespricht. Auch eine Idee, was man eigentlich will im Kino. Also warum man sich Filme anguckt. Dass man insofern qua definitionem eine implizite Vorstellung von einem idealen Film, oder mehreren idealen Filmen im Kopf hat, anhand derer man die Filme, die man sieht, befragt. Und dann sieht: Das klappt und dies klappt nicht. Und weiß warum er einem gefällt, oder warum nicht.
Sicherlich ist es dann auch eine ganz wichtige Frage, wie nahe man eigentlich dem Film und den Filmemachern kommen darf. Weil ja immer eine Voraussetzung unserer Tätigkeit eben einerseits Nähe ist, andererseits Unabhängigkeit. Was macht man, wenn man sie kennt, mag, und soll dann wieder einen Film von denen besprechen. Darf man das? Oder nicht?


Christoph Hochhäusler: Mein Bild von Freundschaft ist, dass man sich, weil man befreundet ist, möglichst gut, weil schonungslos kritisieren kann. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es keine Freundschaft. Natürlich stellt sich die Nähe-Frage, wenn es um Abhängigkeiten geht, a la: Der kennt mich und dadurch kenn ich den… Das ist gefährlich, und wir alle kennen ja auch Beispiele, die so in der Grauzone liegen.
Ich glaube, dass wir insgesamt mehr Konflikt brauchen und vertragen können. Und dass diese Konflikte auch gut innerhalb von Freundschaften sein können.
Generell ist es wahrscheinlich so, dass der eine Kritiker nicht befreundet sein darf mit Filmemachern, weil er dann nicht gut schreiben kann, und der andere kann das. Ich glaube es gibt einfach beides. Ich glaube nicht, dass man grundsätzlich sagen kann: Man muss die meiden, wie der Teufel das Weihwasser.


Zoltan Paul:
Man kritisiert sich ja auch mit einem gewissen Vorbehalt. Man sagt nicht zueinander: Du, Dein Film ist ja eine Riesenscheiße. Man ist einfach menschlich zueinander. Jetzt ist die Frage, ob ein Kritiker denn menschlich sein muss, wenn er den Film nicht gut findet. Inwieweit eine Redlichkeit stattfinden muss. Man muss doch das, was man schreibt, vor sich selber verantworten können, mit absoluter Übereinstimmung mit dem Eindruck, den man hat.


Christoph Hochhäusler:
Ja klar. Aber man diskutiert ja nicht den Menschen. Das muss man einfach sehen. Das muss ja jeder auch begreifen. Man kann einen Film in Grund und Boden stampfen, wenn es gut begründet ist. Das lese ich gern. Damit kann ich persönlich leben. Kein Problem - wenn es gut gemacht ist, wenn es begründet ist, habe ich überhaupt kein Problem damit.
Aber das hat nichts mit dem Menschen zu tun. Natürlich drückt sich der Mensch durch den Film aus. Aber schauen wir in die Filmgeschichte: Es gibt so schlechte Filme von so guten Regisseuren. Die haben die Kritik verdient. BRINGING OUT THE DEAD muss man verdammen, obwohl Scorsese ein paar gute Filme gemacht hat.


Josef Schnelle: Ich höre ja oft das Argument: Ja, aber die Franzosen… die haben eine ganz andere Filmkritik. Wenn bei uns über Kritik geredet wird, dann ist da immer noch viel Urteil und Systematik drin. In Frankreich ist die Filmkritik zum Großteil keine kritische Kritik in dem Sinne. Sondern sie beschäftigt sich sehr ausführlich, sehr zugewandt und sehr genau einfach mit dem Film und spitzt da keine Urteile zu.
Ich höre oft von Regisseuren, dass die sich mehr Eingehen auf den Film wünschen. Klar, es muss irgendwie diese Abteilung Filmkritik geben, wo es Urteile gibt, man klar wertet. Aber vielleicht bräuchten wir mehr von dem - erstmal - freundlichen Applaus. Das sind jetzt nicht alles meine Argumente - aber ich versuche mal die Position zu verteidigen. Im Theater macht man es ja auch so: Die Vorstellung ist zuende, und dann gibt es erstmal Applaus. Danach bei der Premierenfeier wird dann differenziert geredet. Das sind zwei verschiedene Abteilungen.


Christoph Hochhäusler:
Aber applaudieren ist Sache des Publikums. Das hat mit Kritik überhaupt nichts zu tun. Ich finde auch dass diese groben Urteile nicht weiter führen. Es geht schon um eine möglichst differenzierte ästhetische Debatte.
Aber Applaus… von der Kritik… ich weiß nicht…


Josef Schnelle: Naja ich dachte an Applaus in Anführungsstrichen. Vielleicht verdient der eine oder andere Film einfach eine Auseinandersetzung auf zehn Seiten anstelle einer Kritik


Rüdiger Suchsland: ein Auffächern, Entfalten des Films…


Josef Schnelle:
Ja. Natürlich gibt es für so etwas gar nicht so richtig die Medien. Am ehesten wäre das noch der Filmdienst. Die hätten die Möglichkeit. Im Vorderteil, wo längere Artikel sind, da kann man ganz anders mit Film umgehen. Und manchmal findet man dort einen Text, der sich anschmiegt an den Film. Und hinten gibt es eine Kritik, die sich mehr auseinandersetzt.
Aber vielleicht wäre das auch Diskussionsthema: Kann es bei uns diese beiden Formen von Kritik nebeneinander geben? Ist beides sinnvoll? Jedenfalls höre ich in Diskussionen mit Regisseuren oft das Argument: Ihr setzt Euch gar nicht mehr differenziert mit uns auseinander. Ihr nehmt uns gar nicht wichtig genug, das erst mal genau anzuschauen.
Natürlich: Wenn sie dann auch noch über sich lesen wollen, wie teuer der Film war, und wie schwierig die Dreharbeiten im Schlamm waren, oder so - das geht dann zu weit. Das meine ich nicht.


Christoph Hochhäusler: Klar, die größte Ehre ist, lang vorzukommen. Egal was da drin steht. Von den Kritiken, die ich auf meinen Film MILCHWALD bekommen habe - gefreut hat mich erst mal: Da schreibt jemand viel darüber. Ganz egal, was er schreibt. Und dann natürlich hoffentlich genau. Weil es ja darum geht: Man versucht, sich zu erkennen.
Das ist finde ich der schwierigste Prozeß am Filmemachen: Zu verstehen, was man gemacht hat. Man weiß das oft auch danach noch nicht. Da kann einem die Kritik unter Umständen helfen.
Das betrifft jetzt nur die die Beziehung zwischen Filmemachern und Kritikern, die ja nur eine Nebenbeziehung ist. Das hat auf jeden Fall mit Platz zu tun. In einer kleinen halben Spalte kann man eine Szene schildern und ein Urteil unterbringen. Das war's dann. Daraus ziehe ich weder als Zuschauer, noch als Regisseur viel.


Rüdiger Suchsland: Aber für wen macht man das? Du, Christoph bist ja in dem Sinn auch Filmkritiker, dass Du mit mehreren Freunden die Filmzeitschrift "revolver" machst, und dafür dann auch von der anderen Seite aus Gespräche mit Regisseuren und Kameraleuten führst, und in Texten über Filme schreibst: Und mein Eindruck ist, dass Euer Selbstverständnis da eines ist, auch Filmkritiker zu sein.
Für wenn machst Du das?
Man hat ja irgendwelche Leute vor Augen. Man muss sich dann wie mir scheint schon vorstellen, was man dem Publikum zumuten kann, zumuten will, auf welcher Ebene man es ansprechen will, inwieweit man es erziehen will…


Christoph Hochhäusler: Wir nennen das nicht Filmkritik. Es hat auch nichts damit zu tun. Wir schreiben nicht "über Filme". Unser Publikum ist ein ganz anderes, als das, was ihr habt. Wir versuchen ein Forum zu sein für Leute, die Filme machen. Oder die sich so eng mit Film beschäftigen, dass man da anders diskutieren kann. Es geht eigentlich nur um Selbstzeugnis. Insofern ist es deutlich etwas anderes.
Wobei ich gerne so was in Deutschland machen würde, wie das, was den Ruhm von den "Cahiers" in Frankreich begründet hat - das fehlt bei uns.
Aber weil Du fragst: Will das der Leser überhaupt? Ich glaube, der Leser will alles, was gut ist. Das ist natürlich naiv, aber die Frage ist eher: Lässt man Euch machen? Oder erobert Ihr Euch die Macht, das zu schreiben. Denn einen Aufsatz von Bazin oder der Grafe kann man immer noch lesen. Solch ein Text bereichert das Leben. Natürlich kann nicht alles so sein. Aber die Spitzen sollten so sein.


ZWEITER TEIL:


Rüdiger Suchsland: Was habt Ihr als Kritiker für Leser vor Augen? Für Wünsche und Interessen? Man könnte ja auch sagen: Ich schreibe für die Filmemacher, versuche mich mit denen auseinanderzusetzen und bedient den Rest so nebenbei.
Es gibt natürlich auch Filmkritiker, die - die sagen das auch selber -, die Filmkritiken nur für sich selber schreiben. Oder für die jeweiligen Redakteure.


Zoltan Paul:
Wie ist das eigentlich? Wie sind die Strukturen? Kann man sich die Filme aussuchen? Oder wird man losgesendet? Und gibt es da eine Reglementierung, eine Zensur der Filmkritik?


Rüdiger Suchsland:
Das ist sehr verschieden. Ich weiß zum Beispiel von Cristina Nord, die Filmredakteurin der taz ist, dass sie sagt: Sie lässt nur Leute schreiben, die den Film so finden, wie sie. Das ist das Kriterium. [Lachen] … Nein - ich halte das für legitim. Es ist sehr scharf, aber völlig legitim. Dass man sagt: Ok, ich bin derjenige, der muss das letztlich verantworten, was da im Blatt steht, auch politisch. Auch philosophisch. Und darum möchte ich auch die Urteile im Blatt haben, die ich verantworten kann und angemessen finde.
Genau, wie man den Platz festlegt. Und dann haben Redakteure so eine Haltung, dass sie sagen: Der und der Film ist etwas für den und den Kritiker. Weil der Autor entweder ein Experte ist, oder weil er damit atmosphärisch was anfangen kann. Die Redakteure haben ja die Filme auch nicht in jedem Fall gesehen, das ist ein großer Nachteil. Die sitzen in ihrem Büro, müssen den ganzen Tag Texte redigieren, auf langweilige Konferenzen zu gehen, und haben keine Zeit fürs Kino.


Christina Nord*: So betreibe ich meine Redaktionsarbeit überhaupt nicht; im Gegenteil. Es kommt recht häufig vor, dass jemand zu einem anderen Schluss kommt als ich, und oft kommt es auch vor, dass ich den entsprechenden Film noch gar nicht gesehen habe, wenn die Rezension erscheint, dass ich mir also noch gar kein Urteil gebildet haben kann. Wenn es etwas Verbindliches gibt, dann dass ich mir ein paar Sachen wünsche: dass die Autoren und Autorinnen einen scharfen Blick und analytisches Geschick an den Tag legen, dass sie sich nicht nur für Mainstream interessieren, dass sie offen und neugierig sind und auch ein bisschen theorie-affin. Und okay, eine positive Besprechung von DER UNTERGANG würde nicht ins Blatt kommen, genausowenig wie ein Verriss von 2046 oder SPRICH MIT IHR; doch das hat etwas mit Haltung und im zweiten Fall auch mit Liebe zu tun und nichts mit Zensur.


Josef Schnelle: Wir wollen ja nur mögliche Themen anreißen, sammeln. Wenn ich darüber nachdenke: Eine große ausführliche Auseinandersetzungen mit Film, eine anschmiegende Filmkritik ist ja nur in einer idealen Welt möglich. Wenn man die Schablone der wirklichen Welt darüberlegt, sieht man: es gibt ein paar gute Zeitschriften, wo das möglich ist. Aber die haben eigentlich kaum Geld.
Das muss man dann als Liebhaberei betreiben, und mit seinen anderen Tätigkeiten so viel Geld verdienen, dass man das denen schenken kann.
Hinter einem ausführlichen Artikel ist ja eine gewisse Denk- und Recherchearbeit dahinter. Etwa wenn der Filmdienst ein Themenheft über "Die Farbe Blau" macht, und ich einen Text über das Meer im Kino schreibe, dann sehe ich das als Mäzenatentum. Ich schenke dieser Zeitschrift ziemlich viel Geld. Und so wird das auch von allen anderen betrieben. Man knappst sich die Zeit ab von der Tätigkeit, für die man dann wirklich bezahlt wird.
Das ist der Bereich, wo es kommerziell zugeht: Wenn man für Zeitungen schreibt, und davon leben will, muss man ziemlich viel schreiben. Oder für ziemlich viele Zeitungen.
Viele Zeitungen leisten sich schon gar keine Filmkritiker mehr, sondern drucken Agentur ab. Die Dame mit der Magisterarbeit in Marburg ist ja auf die Irrsinnszahl von 5000 Zeitungen in Deutschland gekommen. Davon kann man aber gleich schon mal über 3000 Zeitungen wegstreichen, die nur Pressematerial abdrucken.
Dann gibt es den Bereich von ernstzunehmenden Regionalzeitungen. Das ist schlecht bezahlt, aber wenn man da einige von beliefert, kann man einen schlecht bezahlten Beruf daraus machen. Und dann gibt es ein paar überregionale Zeitungen mit festen Redakteuren, die relativ gut bezahlen.
Und Radio, das sind andere Formen. Da muss man eine Stimme haben, O-Töne haben, ist abhängig von den Verleihern. Und dann gibt's noch die Fernsehanstalten, da findet kaum etwas statt.


Dunja Bialas: Das große Problem ist, dass sich fast alles, was veröffentlicht wird, äußerlichen Kriterien zu beugen hat. Sprich: Wie groß kommt der Film heraus? Kleinere Filme können dann nicht besprochen werden, weil zu wenig Platz ist. Ich würde schon stärker differenzieren zwischen dem, was als Dienstleistung erfüllt wird, aber diese Dienstleistung gehorcht dem Markt. Deswegen braucht es eine Filmkritik, die abseits der alltäglichen journalistischen Arbeit stattfindet. Aber die - in anspruchsvolleren Magazinen - wird dann wieder nur vom interessierten Publikum wahrgenommen, dass sowieso bereits informiert ist. Also: Ein rein pragmatisches Verständnis von Filmkritik greift nur bedingt.
Es ist tatsächlich ein zentrales Problem, dass die Filmkritik zu stark auf die Geschichten des Films abhebt, und die filmischen Aspekte außer Acht lässt. Also: Keine Filmanalyse im Sinne von Filmsprachenanalyse. Was sagt mir der Film durch seine Bildsprache, Kameraführung, etc.?
Dieser ganze Impressionismus der Filmkritik, wie wir ihn heute haben, kommt auch ein bisschen aus der Not heraus, dass wir zu viele Geschichten haben, die wir irgendwo schon mal erzählt bekommen haben, sodass wir gar nicht so recht wissen, warum sie uns jetzt schon wieder interessieren sollen. Dann pickt man sich irgendein kleines Detail heraus, und entdeckt das für sich und führt das vielleicht in andere Strukturzusammenhänge über - aber man bleibt dabei immer noch auf dieser Geschichten-Ebene des Films, und hat noch lange nicht das Filmspezifische entdeckt.
Meines Erachtens sollte ein Auftrag der Filmkritik sein: Den Leser an den Film als Film heranzuführen, als Kunstform. Man wird in der Kunstgeschichte kaum eine Bildbeschreibung sehen, die nur auf den dargestellten Inhalt abhebt. Da wird es auch immer um kunsthistorische Aspekte gehen.


Bodo Schönfelder (freier Kritiker): Wenn man sich Feuilletonseiten auch abseits von Film anguckt, dann läuft das ähnlich ab. Dazu kommt: Es gibt keinen Platz. Aber auch das Selbstverständnis der Autoren ist nicht entwickelt. Was machen Sie, schreiben sie über Film, oder machen sie Filmanalyse? Man kann auch etwas ganz Subjektives machen: "Ich habe gefühlt." Oder mache ich eine Analyse? Oder was Historisches? Aber da muss dann eben der Autor auch bei der Arbeit an dem Text ein Selbstverständnis entwickelt. Das fehlt mir eben häufig. Da muss man 6000 Zeichen abliefern, dann werden die abgeliefert, egal in welchem Bereich.


Dunja Bialas: Aber das hat ja auch etwas zu tun mit der Verantwortung gegenüber dem Film. Und was Du, Rüdiger vorhin fragtest: "Welche Leser schreibt ihr denn vor Augen?" Das verdoppelt ja doch nun schon wieder die Kritikerperspektive. Sprich: Für welches Publikum ist der Film gemacht? Und für welches Publikum schreibe ich als Kritiker in Bezug auf das Publikum, was sich für den Film interessiert. Also: Du bist da in einer totalen pragmatischen Schleife verfangen. Letztlich sollte man doch über den Film als Film schreiben, also sich dem Film annähren. Und das Publikum meinetwegen bedenken in Wortwahl und Art der Darstellung. Letztlich ist doch der Film das Ausschlaggebende.


Rüdiger Suchsland:
Dass man versuchen muss, den Film als Film zur Sprache zu bringen und nachzuerzählen ist natürlich richtig - man kann ja auch Bilder nacherzählen, Schnitte, Rythmen, oder in irgendeiner Form Atmosphären nacherzählen.
Aber zur "pragmatische Schleife": Zumindest mein eigenes Selbstverständnis sieht dann so aus, dass ich zunächst mal einen Text schreibe. Der als Text funktionieren soll, gut sein muss. Ich mache keinen Film. Ich schreibe einen Text, und der hat unter Umständen den Film zum Gegenstand. Unter Umständen ist der Film aber auch nur Anlaß für anderes, zum Nachdenken über verschiedene Dinge.
Die Tatsache, dass man, wenn dieser Text eine Filmkritik ist, also mit der Aufforderung von einer Redaktion verbunden, diesen Film jetzt irgendwie zu bewerten, dann steht natürlich diese Bewertung im Vordergrund. Und die Aufgabe ist damit auch gewissen Beschränkungen unterworfen; oder sagen wir besser Vorgaben.
Die allererste Vorgabe, die man hat, ist der Platz. Das ist ganz wichtig. Es ändert vollkommen das Schreibverhalten, wenn ich weiß: ich habe gerade mal 60 Zeilen beim "Münchner Merkur", oder ich kann über den Film im "Filmdienst" relativ groß schreiben. Oder ich habe bei artechock im Internet sogar Platz, der völlig unbegrenzt ist. Das verändert dann meine Sprache, auch meine Art überhaupt über den Film nachzudenken.
Dann ist es schon so, dass ich mich frage - und ich finde es auch ignorant, wenn man das nicht tut -, für wen ich schreibe. Es kann vielleicht Gründe für diese Ignoranz geben, aber darüber müssten wir dann diskutieren.
Ich glaube schon, dass man einen Leser vor Augen haben muss. Das können sehr verschiedene sein. Das kann der beste Freund, die beste Freundin sein. es kann der Redakteur sein. Es können aber auch mögliche Kinogänger sein. Und wenn ich in einer bestimmten Zeitung schreibe, scheint mir das ein legitimes Anliegen zu sein, dass man sich auch auf die Leser dieser Zeitung einstellt. Aber auch da geht es gleich noch mit einer anderen Frage los: Schreibe ich nun für die die den Film gesehen haben, denen ich nun sozusagen einen Mehrwert zusätzlich zum Kinobesuch gebe, Handwerkszeug, Ideen, Maßstäbe gebe, um den Film noch anders zu beurteilen. Oder einfach Einfälle von mir, zu denen ich sagen würde: Die sind zumindest als Einfälle interessant. Da wabert mir etwas im Kopf herum, auch noch Tage danach, und insofern teile ich das jetzt mal anderen mit - sozusagen eher als Experiment, als Anregung zum Weiterdenken, auch dagegen-andenken. Man gibt ihnen etwas Zusätzliches, mit dem sie jetzt auf diesen Film auch noch anders schauen, auch anders darüber nachdenken.
Oder sind es Leute, denen ich sagen will, ob sich der Kinobesuch FÜR SIE lohnt? Was ich auch für ein legitimes Anliegen halte.
Oder will ich für den Filmemacher was tun? Oder gegen den Filmemacher? Ich will gar nicht darumherumlügen, dass nicht auch dies beides der Fall ist. Es gibt Filme, die sind mir aus irgendeinem Grund sympathisch, oder die, die den gemacht haben. Da gibt es dann Gründe, warum ich finde: Es sollten mehr Leute in diesen Film hineingehen. Oder ich denke: Hoffentlich geht da niemand rein. Das ist alles Dreck und es wäre am besten, wenn das gar nicht gezeigt würde.
Solche Haltungen können auch Motivationen sein, überhaupt einen Text zu schreiben.
Dann ist es so, dass sich der Text dadurch verändert, in was für einem Ort man schreibt. Bei den Lesern des Münchner Merkur - wo ich die Leserstruktur ungefähr kenne, sie mir auch immer wieder von den Redakteuren bewusst gemacht wird - scheint es mir nötig zu sein, bestimmte Dinge zu erklären, zu erläutern, die der Leser der "Frankfurter Rundschau" einfach weiß, weil er im Schnitt gebildeter ist. Oder der Leser des "Filmdienst", weil er cineastischer ist.
Beim Münchner Merkur" bediene ich mich auch einer Sprache, die einfacher ist: Kürzere Sätze, weniger Latinismen, weniger komplizierte Gedanken, weniger Subtext. Das Ergebnis ist dann natürlich ein anspruchsloserer Text.
Es wäre ist die große Illusion, zu glauben, man könne alles immer "auch ganz einfach sagen". Nein!
Wenn es mal nicht so ist, dann weil ich nicht immer Lust habe, mich dem anzupassen, weil ich denke: Die sollen sich auch mal an mich anpassen. Aber vielleicht ist das arrogant.
Wenn ich mich ganz an den Lesern orientiere, dann würde ich beim "Münchner Merkur" immer Vereinfachungen vornehmen, die ich bei anderen Zeitungen nicht vornehmen würde, Dinge erklären, die ich woanders einfach voraussetzen kann.
Dafür muss ich bei der "Frankfurter Rundschau" vielleicht andere Dinge erklären: Da muss ich zum Beispiel meine Urteile und wie ich zu ihnen komme, viel genauer begründen, wofür ich beim "Münchner Merkur" überhaupt nicht den Platz habe, und das Urteil einfach hinhaue: Das ist jetzt so und so.


Dunja Bialas: Wir haben ja gesagt: Filmkritik kann in zwei Teile zerfallen: Eine, die sich an den Film anschmiegt, und eine, die sich mit dem Film kritisch auseinandersetzt, aber auch im Sinne einer gewissen Pragmatik. Du repräsentierst letztendlich klar den zweiten Teil.
Es ist wahrscheinlich tatsächlich so, dass wir in Deutschland tatsächlich nicht das Medium haben, wo ersteres möglich wäre. Es sei denn ein Beispiel wie Helmut Färber, der seine Texte ja größtenteils im Selbstverlag veröffentlicht hat. Das ist auch unheimlich traurig.


Josef Schnelle: Ja. Vieles von Frieda Grafe ist auch nur in entlegenen Zeitschriften veröffentlicht, und nicht als "Filmkritik" sondern eher als Cinephilie oder Cinefolia oder wie auch immer zu verstehen.
Das wäre auch mal eine interessante Tagung: Wenn man verschiedene Länder vergleichen würde. Und die Auffassung der Filmkritik in den verschiedenen Ländern: Da gibt es einerseits filmhistorische Traditionen, die sehr unterschiedlich sind - wie Filmkritiker aufgewachsen und künstlerisch sozialisiert sind.
Es gibt aber auch sprachliche Unterschiede. Das Französische neigt auch eher zu dieser Art von Blumensträußen. Das Deutsche verfällt immer ins Urteil. Deutsche Philosophen waren auch immer die, die Systeme entwickelten. Und so ist das eben auch bei der vorigen Filmkritikergeneration - Wolfram Schütte oder Peter Buchka - gewesen: Die haben versucht, kritische Systeme zu entwickeln.
Die angelsächsische Filmkritik ist wieder anders: es gibt dort kaum Kritik, die nicht darauf Rücksicht nimmt, wie der Film ökonomisch funktioniert. Hinzu kommt noch diese gewisse Formelhaftigkeit der Sprache, die Urteile ineinander verdrechselt, sodaß sie sehr kurz und pointiert gesetzt werden. Diese verschiedenen Stile haben auch damit zu tun.
In Amerika gibt es ja noch nicht mal ein Feuilleton. Da heißt das Entertainment. Darin gehen dann die anderen filmjournalistischen Formen in eins über.


Rolf-Rüdiger Hamacher (freier Kritiker): Das Problem dieser Runde ist meiner Meinung nach, dass hier nur Leute sitzen, die sich der vertiefenden Filmkritik verschrieben haben. Wir haben keinen Kollegen hier, der sich der Werbekritik verschrieben hat. Die halten sich trotzdem für Filmkritiker.
Bei ganz vielen Zeitungen haben wir nur die Spitze hier behandelt. Bei den meisten Zeitungen aber verstehen sich die Redakteure schon als Quotenrichter. Die wollen Quote haben.
Und die frühere Verantwortung gegenüber dem deutschen Film ist auch bei denen, die noch eine funktionierende Filmseite haben, wie die "Süddeutsche" und der "Kölner Stadtanzeiger", heute einfach nicht mehr da. Ich bin da immer ganz erschrocken. Vor zwei Wochen zum Beispiel schlage ich den Kölner Stadtanzeiger auf, da sind dann zwei Filme, die völlig unwichtig sind, sehr negativ besprochen, aber sie nehmen die Hälfte der Seite ein. Und WOLFSBURG von Christian Petzold und SIE HABEN KNUT, die beide beachtenswert sind, und in der gleichen Woche starteten, werden dann auf zwei Sätzen abgehandelt.
In der "Süddeutschen" lese ich dann Elogen über Schauspielerinnen und ein kleiner deutscher Film ist einfach nicht vorhanden. Oder dass Frau Nord in der taz ihren Massstab zum Mass der Dinge macht, finde ich auch problematisch. Wenn das woanders wäre, dann dürfte man nur noch amerikanische Renner positiv besprechen. Das ist sehr sehr problematisch, wenn man das macht.
Da ist man als Schreiber in Abhängigkeit von einem Redakteur - das finde ich schon eine Diktatur des Schreibens.


Josef Schnelle: Ich muss dies etwas verteidigen. Wenn da in der Woche 12 Filme starten, dann kann man nicht mehr eine Filmseite der alten Art machen, auf der alle Filme besprochen werden.


Hamacher: Doch, man kann dann die schlechten Filme, die den Leser sowieso nicht interessieren, klein auf zwei Zeilen besprechen. Erzähl mir nicht, dass die Leser des "Kölner Stadtanzeiger" nur in amerikanische Komödien gehen.


Josef Schnelle: Aber Du kannst 12 Filme da nicht angemessen unterbringen.


Hamacher: Davon reden wir nicht, wir reden nur von der Gewichtung.


Zoltan Paul:
Ich glaube auch, dass die Filmkritik eine Riesenverantwortung gegenüber dem heimischen Filmschaffen trägt.


Josef Schnelle: Wenn es eine kleine Zeitung ist, dann bekommt er 15 Euro. und dafür soll er auch noch eine Riesenverantwortung tragen?


Zoltan Paul:
Das muss ja ins Bewusstsein der Kritiker reingehen, dass eine heimische Filmproduktion nur mit Pflege der heimischen Präsenz gestützt werden kann.


Rüdiger Suchsland:
Filmkritiker sind keine Landschaftspfleger. Schon gar keine patriotischen Landschaftspfleger. Und ich verstehe meine Aufgabe überhaupt nicht so, dass ich dem deutschen Film irgendwie anders verpflichtet wäre, als irgendeinem anderen national oder regional oder religiös unterschiedenen Film. Ich bin "dem" Film verpflichtet.


Zoltan Paul:
Das ist jetzt nicht als "falsche Gnade" gemeint. Sondern dass stilistische Tendenzen erkannt und klar definiert werden.


Rüdiger Suchsland:
Jetzt muss ich schon Cristina Nord verteidigen - auch wenn ich es wahrscheinlich als Redakteur etwas anders machen würde: Ich halte es für sehr legitim, dass man eine Filmseite als verantwortlicher Redakteur nach seinen eigenen, höchstpersönlichen Vorstellungen gestaltet, seine eigenen Prioritäten zugrunde legt. Was denn sonst?
Es ist genau das, was gute, prägnante Filmkritik vom Durchschnitt: Dass man es nicht diffus wabern lässt. Sondern dass man bestimmte Vorstellungen und eine klare Haltung hat. Dass kann dann auch die sein, dass man besonders viel deutsche oder europäische Filme groß bespricht, oder dass man deutsche Filme nur positiv bespricht, oder dass man das gut bespricht, was das Volk will. Diese Haltung kann man dann kritisieren - aber ohne Haltung geht es gar nicht.
Ich finde es einen sehr guten Ansatz, dass ein Filmredakteur sagt: Meine Autoren sollen die Filme ungefähr so finden, wie ich. Das heißt ja nicht, dass die gegen ihre eigene Meinung schreiben wollen. Sondern sie fragt vorher ab: Wie fandest Du den Film? Und man sagt: mir hat er gefallen, ich fand das und das daran wichtig. Und wenn sie dann merkt, dass sie das ganz anders sieht, dann sucht sie einen Autor, der mehr auf ihrer Wellenlänge liegt, und der betreffende Kollege schreibt dann andere Texte. Natürlich ist die Gefahr da, den Redakteuren in diesem Fall nach dem Mund zu reden. Aber das würde ich niemandem unterstellen wollen.
Der andere Ansatz ist, dass Peter Körte, als er noch "Frankfurter Rundschau"-Redakteur war, gemeint hat, er will im Prinzip keine Verrisse drin haben. Nur in wenigen Fällen fand er, das sei nötig, und manchmal hat er auch niemanden gefunden, der das gut fand. Aber im Prinzip sollen Leute schreiben, die einen Film gut finden - selbst wenn er den nicht so gut fand. Das ist ja heute auch ein bisschen das Prinzip bei der "Süddeutschen".
Die Idee, die dahinter streckt, ist einfach: Es ist die, dass sowieso Kino in der Defensive ist, und dass man es zu verteidigen hat. Dass man für das Kino an sich, für ein sich-einlassen zu werben hat. Und dass es auch bei schwächeren Filmen meist Dinge gibt, die ganz gut sind, und dass man als Filmkritiker die herauszuarbeiten hat. Weil man Kino liebt.
Da steht die Kinoliebe am Anfang, Auch das ist ein legitimer Ansatz.


Zoltan Paul: Man muss aber auch das Vorurteil abzubauen, dass deutsche Filme nicht besuchenswert sind.


Josef Schnelle: Das ist doch gar nicht so. Es wird doch unglaublich viel über deutsche Filme geschrieben. da hat sich sehr viel getan.


Rüdiger Suchsland:
Wenn man amerikanische Filme, auf kleinen Größen bespricht, weil sie schwach sind, sagt keiner was - ist ja nur Hollywood. Wenn wir einen deutschen Film, der genauso schwach ist, auf der gleichen Größe bespricht, dann sind wir immer gleich Verräter am nationalen Kulturgut.
Wenn ich mir anschaue, wie schwach tolle Filmländer wie Frankreich, Spanien, China, wo im Schnitt pro Jahr mehr gute Filme entstehen, als in Deutschland, bei uns vertreten sind - in Filmzahlen ebenso wie im Hinblick auf Aufmerksamkeit, dann denke ich: Wenn man für jemanden etwas in den Feuilletons offensiv tun muss, ist es nicht der deutsche Film. Der deutsche Film ist überrepräsentiert.


Josef Schnelle: Diese Diskussionen hab ich schon oft geführt, wirklich… Man kann ja, wenn Regisseure sagen: mein Film müsste mehr beachtet werden, das übersetzen in den Klartext: "na wir haben nicht genug Geld für 'ne vernünftige Werbung, die Prothese dafür sind dann die Filmkritiker, die sollen jetzt mal gut und schön und ausführlich schreiben. Und das haben di gefälligst zu machen."
Und dann gibt es dann noch diese Argumentation mit dem einen Boot, in dem wir alle sitzen. Da möchte man gerne die Filmkritiker funktionalisieren.
Es ist doch klar, dass alle, die einigermaßen Grips im Kopf haben, und ihre Arbeit ernst nehmen, sich dagegen wehren. Wir wollen schon frei im Urteil sein.
Ich finde darum auch die Kriteriendiskussion immer so unselig: Wieso sind diese Filme jetzt gut, wieso läuft dies und das im Wettbewerb eines Festivals? Was sind denn die Kriterien? Wenn man klare Kriterien hätte, dann könnte man irgendwelche Hilfskräfte dran setzen, denen gibt man 'ne Liste mit Kriterien und die haken sie dann ab.
So leicht ist es aber nicht. Das Kriterium ist der ganze Mensch. Beim Radio gibt es so ein "gerichtetes Mikrophon", in das ich dann reinspreche, das nimmt nur sehr schematisch, systematisch auf. Es gibt aber auch Kunstkopf-Mikrophone, die nehmen alles auf. Dann bekommt man die Geräusche, so wie sie im Kopf aus allen Richtungen ankommen. Jeder von uns, der das über viele Jahre macht, hat sich so einen eigenen Kunstkopf zugelegt. Die sind sehr unterschiedlich und manchmal sehr schräg. Die Lebenserfahrung gehört auch dazu. Es mal einer gesagt, unter 30 sollte man gar keine Filmkritiken schreiben, denn man hat zu wenig erlebt.
Weil man ja mit jedem Film auch eine neue Lebenswelt erfährt. Deinen Film, Zoltan Paul, kann man doch mit 20 Jahren noch nicht verstehen, das ist doch klar.
Diese Kriteriendiskussion kommt immer wieder. Es gibt aber riesige Unterschiede, es gibt Filme, die nichts tun, als das sie etwas über den Zustand der Gesellschaft verraten. Da trifft dann Kracauers Aussage zu: "Filmkritik von rang kann nur als Sozialkritik verstanden werden." Dann schreibe ich natürlich einen Text, der sich daran orientiert. Das ist oft bei Mainstreamfilmen der Fall.
Es gibt Filme, die nur ihre Ästhetik vor sich hertragen, dann schreibe ich eben darüber. Und dann gibt es Filme, die sich an einen Star hängen. Dann steht das im Vordergrund. Wieso soll das nicht alles möglich sein?


Rüdiger Suchsland: Es hat noch einen ganz anderen Grund, warum über Hollywood-Filme und deutsche Filme überproportional berichtet wird: Die Frage: was ist besonders wichtig für uns? Dafür gibt es diese Formel vom gesellschaftlichen Ereignis.
Zum Beispiel MATRIX RELOADED. Ich hatte ein Gespräch mit Jan schulz-Ojala vom "Tagesspiegel" in Cannes, der stöhnte, weil er den Film gleich im Anschluß an die erste Pressevorführung für den nächsten Tag besprechen musste. Auf vier Spalten. Obwohl er ihn schlecht fand.
Ich frage: "Warum macht ihr das nicht nur auf 60 Zeilen? Das reicht doch auch." Und er meinte, ja, das wäre lustig, aber das kann er nicht machen, weil der Film eben zu wichtig ist.
Und irgendwie muss ich ihm da auch recht geben. es wäre nur ein Scherz, den Film wie irgendeinen abgelegenen Dreck zu besprechen. Und da auf einen Kontrapunkt zu dem zu setzen, was alle anderen machen - die ja alle MATRIX RELOADED mit Bild auf vier Spalten als Aufmacher besprochen haben.
Nur: Andererseits kann man es dann irgendwie doch nicht. Weil es tatsächlich viele Leser giubt, die mehr drüber lesen wollen. Und weil der erste MATRIX tatsächlich ein sehr guter und sehr interessanter Film war. Und man was über das Verhältnis dieser Filme schreiben muss.
Das alles, was wir diskutieren, kann man zu der Leitfrage bündeln: Was interessiert eigentlich am Film?
Wie sich die verschiedenen Interessen zusammenfassen lassen.
Den anderen Punkt sehe ich in dieser sehr sehr guten Unterscheidung zwischen anschmiegender Filmkritik und pragmatischer Filmkritik. Was genau anschmiegende Filmkritik ausmacht, ist noch etwas nebulös, aber das muss es vielleicht sein.
Sie schmiegt sich jedenfalls an den Film an, während die pragmatische Filmkritik versucht, alle verschiedenen Interessen auszubalancieren.
Dabei kommt dann eben manchmal der Umschlag in das, was Christoph Hochhäusler Impressionismus nennt: dass man aus diesen vielen Interessen nur ganz persönlich das auswählt, was einen gerade sehr subjektiv interessiert, wozu man gerade Lust hat.
Ich frage mich nur, ob es nicht bei der anschmiegenden Filmkritik einen Impressionismus anderer Art gibt. Im Idealfall würde "anschmiegende Filmkritik" heißen: Den Film in Sprache zu verwandeln, ohne ihm den Filmcharakter zu nehmen. Aber wie soll das konkret gehen? Wie funktioniert das Anschmiegen, wie unterscheidet es sich vom Besinnungsaufsatz?


Josef Schnelle: Dafür gibt es die schöne Definition von André Bazin: Den Choc des Kunstwerks zu verlängern in diese literarische Gattung namens Filmkritik. Das ist es. Da geht es nicht um Kriterien.
Man muss auch mal fragen, ob nicht das Feuilleton entfeuielletonisiert wird. Da versandet alles. Wo ist denn noch das Feuilleton? Das ursprüngliche Feuilleton ist eines, das Themen setzt. Heute gibt es nur noch ein Rezensionsfeuilleton. Aber wo ist das richtige Feuilleton, das im Wortsinne: schön geschriebene? Die besten Feuilletons stehen heute im Sportteil.
Aber warum ist das so? Weil wir die faktische Information längst durch das Radio und Fernsehen bekommen haben. Also gibt es nur ein Bewertungsdefizit und ein Erlebnisdefizit. Und das deckt das Feuilleton. Vielleicht müssen wir uns daran orientieren, die Filme als Fußballspiele sehen: Auch ein Film dauert 90 Minuten.


Schönfelder:
Es gibt ja noch die andere Tendenz: Dass Print-Magazine nur dadurch überleben, dass sie im Internet existieren. Vielleicht ist das die Zukunft der ernsthaften Filmkritik? Da kann man lange schreiben.


Rüdiger Suchsland:
Aber im Kapitalismus gilt: Was nichts kostet, ist nichts wert. Artechock, das kein Print-Pendant hat, verbindet Information und Filmkritik. Wir haben mit monatlich 20.- 30.000 Lesern locker mehr Leser, als der Filmdienst. Wir könnten also theoretisch auch als Druckerzeugnis überleben, und selber Geld verdienen. Aber ich weiß nicht, wieviel wir hätten, wenn das Geld kosten würde.


Josef Schnelle:
Abgabe auf Kinokarten - wie wär denn das? 2 Cent auf jede Kinokarte - da kann man drei Zeitschriften und fünf Internetmagazine vernünftig von finanzieren.
Das Internet hatte ich jetzt vergessen: Tatsächlich gibt es da neue Möglichkeiten. Aber in dem Moment, wo es nicht bezahlt wird, ist es dann wieder Liebhaberei -und leidet dementsprechend. Wenn ich für den Filmdienst schreibe, und kaum Geld verdiene, dann tickt irgendwann bei mir die Uhr, und ich muss anfangen Geld zu verdienen.
Gut: Die Filmemacher sind auch arm. Also sind hier arme Leute, die sich gegenseitig ihr Leid klagen.


Zoltan Paul: Ja, Filmemachen ist Liebhaberei. Man nagt am Hungertuch, opfert Zeit und Energie. Die Welt ist ungerecht.


Josef Schnelle: Wenn ich dann höre, dass der Regisseur Jan Schütte, der in Mannheim in die Jury gesollt hätte, das gerne gemacht hätte, aber es sich einfach nicht leisten kann, dort zwei Wochen zu verbringen, bei denen er nur die Reisekosten und das Hotel erstattet bekommt. Das wäre mal was für unsere Kulturministerin Weiss.
Ich will Euch nicht nerven mit der Akademie und dem Filmförderungsgesetz: Eigentlich müsste sich so eine Gesellschaft Euch Filmemacher leisten können. Und uns eben auch. Das muss man auch fordern können. Denn die Folge der jetzigen Zustände ist ein Verlust der Möglichkeiten kultureller Identitätsbildung.


Rüdiger Suchsland:
Hier sitzen wir dann - Filmemacher und Filmkritiker - tatsächlich in einem Boot. Nicht ästhetisch, aber politisch. Weil man gewisse gemeinsame Interessen hat - zumindest an den Strukturen, in denen überhaupt Film stattfindet.
Und zu diesen Strukturen gehört wie Vertriebswege und Förderung auch die Art, wie ein fertiger Film an das Publikum herangetragen wird. Also auch das Vermögen oder fehlende Vermögen des Publikums, sich damit auseinander zu setzen. Wenn man für schwierige Filme - nicht abwertend gemeint - ein kompetentes Publikum will, dann muss man natürlich darüber sprechen: Wie kommt denn diese Kompetenz zustande?
Durch einen Kanon, durch Filmbildung an den Schulen, die meiner Meinung nach absolut im Interesse von Filmkritik liegt, und auch gefördert werden müsste, weil wir damit auch langfristig eine Erziehung unserer Leser erhalten - aber es muss dann eben auch eine Erziehung des älteren und nicht mehr schulpflichtigen Publikums sein.
Darum muss sich Filmkritik auch selber in irgendeiner Form als Erziehung verstehen. Damit ist nicht gemeint, dass wir wieder die Prügelstrafe verhängen wollen, das ist nicht so autoritär gemeint, wie es klingt, eher in dem Sinn, in dem bei Schiller von "ästhetischer Erziehung" die Rede ist.


Josef Schnelle: Wenn ich das richtig verstehe, ist diese Erziehung ja im Sinne von Geschmacksbildung gemeint. wenn man ein bisschen mehr weiß, dann kann man auch kompliziertere Dinge schätzen. Wenn man immer nur Aldi-Wein trinkt, dann sind einem manche weine nicht zugänglich. Jedes Kino zieht sich sein Publikum heran. Man muss etwas wissen, um bestimmte Dinge schätzen zu lernen. Und im Bereich dieser Geschmackserziehung haben die Programmkino-Betreiber gesündigt.
Ich kann jetzt wie im Märchen anfangen: Es war einmal… es gab mal eine Zeit, da haben sich drei Leute in Köln einen VW geteilt und sind nach Paris gefahren, um bestimmte Filme zu sehen - da war ich nicht dabei. So alt bin ich auch nicht Rüdiger.
Aus diesen Paris-Fahrten sind dann Bemühungen geworden, Filmklubs zu gründen, Diskussionen anzufangen. Programmkinos sind daraus geworden, wo man Gespräche über Film anzettelt und die Filme den Leuten nahe bringt.
Jetzt geht das Märchen leider traurig weiter: Die Programmkinos waren in Deutschland richtig stark. Noch vor 15 Jahren war das eine blühende, vollentwickelte Landschaft. Da fanden Filme ihr Publikum, die man hheute nirgendwo mehr im Kino unterbringen kann. Ich weiß nicht, was dann passiert ist: Da hat es einen Größenwahn gegeben. Alle wollten groß werden, Vollprogramme zeigen. Und plötzlich waren drei Viertel der Filme in Programmkinos auch nur US-Major-Filme. Das hat eine Weile Erfolg gehabt, aber um ihr Publikum haben sie sich nicht mehr gekümmert. Die sitzen heute vor dem Fernseher. Eine neue Generation haben sie sich aber nicht geschaffen. Und können heute Filme von zum Beispiel Tsai Ming-liang nicht mehr zeigen. Die Programmkinos sind weggebrochen. Es gibt sicher auch strukturelle Gründe, aber zum Teil sind die selber schuld. Die müssen wieder anfangen mit der Publikumsbindung. Das müssen Filmemacher von denen auch fordern.
Zur Zeit gibt es ja schon die ungekehrte Tendenz: Die Multiplexe stehen leer, die versuchen jetzt Programmkino zu werden. Das betrifft die großen Städte: In der Fischwirtschaft nennt man das Überfischung. Da sagen sie: Machen wir jetzt Programmkino. Aber sie wissen gar nicht, was sie da machen können. Aber den kleinen Kinos, die noch übrig geblieben sind, werden die Filme entzogen.


Rüdiger Suchsland: Damit das sich ändert, muss natürlich auch beim Publikum das Bewusstsein anders sein. Was in den Institutionen passiert, ist ja nur der Reflex von dem, was in der Gesellschaft passiert. Und wenn man dort, wenn man bei der famosen Kulturstaatsministerin Christina Weiss eine Verachtung des Films als Kulturgut gibt, dann ist das eine Verachtung, die in der ganzen Gesellschaft stattfindet, die beim Publikum stattfindet. Man muss nicht immer das Publikum verteidigen. Als ob die immer recht hätten. Das Publikum in Deutschland ist ganz schön blöd.


Josef Schnelle:
Weiß ich nicht. Es gibt natürlich auch beim Publikum diesen Irrglauben: Was hat Erfolg? Das muss gut sein, das will ich auch sehen. Aber ich bin immer wieder überrascht, welche Karriere kleine gute Filme machen, von denen ich fürchtete, dass das keiner sehen will. Es gibt vielleicht auch dummes Publikum.


Zoltan Paul:
Aber Filmkritik muss solche Programmkinos auch stützen. Es ist einfach eine Tatsache, dass die kleinen Filme keine Möglichkeit haben, richtig zu werben. Ein Film wie HIERANKL bekam immerhin 30.000 Zuschauer, weil die Presse wirklich dahinter stand.


Rüdiger Suchsland:
Aber man sollte Filmkritik auch nicht überfordern. Nehmen wir BUNGALOW, ein toller deutscher Film. Der wurde zum Start sehr positiv besprochen, kam aber erst nach Monaten in Städten wie München und Frankfurt ins Kino.
Und wenn ich höre: HIERANKL hat 30.000 Zuschauer - dann denke ich: DAS WUNDER VON BERN, der von vielen verrissen wurde, hat 2 Millionen. Also ist das ein Erfolg, wenn ein Film, der weißgott besser ist, 30.000 bekommt?
Man muss sich klar machen, was da unsere eigene Rolle ist. Die eigene Rolle ist vielleicht nicht die, die Zuschauer ins Kino zu treiben, oder zu verhindern, dass sie reingehen.

 

 

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