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"13. April 1972 / Uns ist wieder einmal gekündigt
worden / wir gehen freiwillig aus der Wohnung des falschen
Lebens / beim Weggehen werfen wir die Schlüssel / ins
Wasser" (V. Kristl, zeichnungen, in Filmkritik, 05/76)
7. Juli 2004. An einem Mittwochabend starb Vlado Kristl. Seine
engsten Vertrauten verbrachten die Zeit bis zum nächsten
Morgen bei ihm oder hatten ihm noch nachts einen letzten Besuch
abgestattet. Schön, vielleicht, nach dem plötzlichen
Schlaf plötzlich an einem anderen Ort in einer anderen
Zeit aufzuwachen, und dann noch die Freunde zu spüren,
die da waren, die Freundinnnen und Frauen, und einem die geliebten
Kleidungsstücke und viele kleine Blumen mitgaben, weil
sie auch wußten, dass da eine Bedürftigkeit war
und eine furchtsame Einsamkeit, und wachten. Am Donnerstag
morgen waren seine Kinder, Pepe aus Frankfurt und Madeleine
aus Frankreich angereist. Kurz bevor seine Leiche mitgenommen
wurde, kam auch ich dazu - als viel jüngerer, später,
vertrauter Bekannter, Freund wäre zu viel gesagt, weil
nicht fremd, aber zu fern geblieben. Die Verwaltung des Ereignisses
- Feststellung des Todes bis Beseitigung des toten Körpers
(mit kurzer Verzögerung, denn ohne Totenschein kein Abtransport,
und just war er kurzfristig außer Haus, der Totenschein,
zum Kopieren, wie Vlado Kristl selbst die letzten Jahre so
häufig in den Kopierladen ging), dokumententechnische
Abwicklung der erloschenen Identität (Einziehen des Personalausweises
- "Sehr geehrter Herr Bundesgerichtshofpräsident,
ich kann den Verdacht nicht loswerden, dass ich Ausländer
bin" oder: "Alle Staatsangehörigen sind Ausländer,
[...] auch zur Welt können nur Ausländer kommen..."),
und dann das Angebot eines leer-abstrakten Abschiedszeremoniells,
fast nur noch die Erinnerung an ein Ritual, - die Verwaltung
des Ereignisses war schon fast abgeschlossen: Es wartete noch
der reglose, erstarrte Körper, dass auch er der ins Ungewisse
und Unsichtbare entflohenen Lebendigkeit nachfolgen dürfe.
Vlado Kristls Widerstand war erloschen. Das ist in seinem
Fall genau dasselbe gesagt wie: Sein Leben war erloschen.
Er konnte sich jetzt nur noch fügen, eine unerträgliche,
die demütigendste Vorstellung. Doch fast alle Unerträglichkeit
war abgewendet worden und das Mögliche in seinem vermuteten
Sinne gestaltet. Nur seine grün-weißen Turnschuhe
durfte er nicht anbehalten, das sei verboten (gut, dass er
schon eine ganze Weile gegangen, unterwegs war). Wie grausam
nun doch, diese ungeheuren, kleinteiligen, bewußtlosen
oder doch sehr bewußten und zynisch-hoffnungslosen Maschinerien
- Machinationen - der Macht. Gegen die mit heiligem Witz und,
in einem verletzten Sinne, bösem Ernst zu kämpfen
sein ständiges Dasein und sein Umtrieb waren. Wie sie,
die Maschinerien, den nun Wehrlosen, den endlich Erledigten
- und doch mit schuldgetrübter Überheblichkeit:
eigentlich hättest du ja recht gehabt, aber wir
haben dich überlebt -, verhandeln und einsacken konnten.
Nein. Als hätte er doch seine Hände und Stimme und
Argumente weiterhin im Spiel gehabt: Nicht gerade, zur braven
Totenmarionette hingestreckt, lag er da, sein rechtes Bein
war leicht angewinkelt, in einer letzten erstarrten Figur
der freien Bewegung, in einer letzten erstarrten Übergänglichkeit
des Widerstands, als gäbe es noch etwas zu tun, mit diesem
Körper, ein allerletzter Schritt, ein allerletztes Zeichen
setzen, dessen Sinn erst in einer anderen Welt sich entdecken
würde.
Und dann, als man ihn hinüberhob, sah es so aus, als
wolle er gleich mit diesem Schritt von der Bahre wieder absteigen.
Und dann, als man ihn im schwarzen Sack hinaustrug, dann ging
das nur aufrecht, weil das Treppenhaus so eng war, das Treppenhaus
des Hauses, das er als Gefängnis empfand, wie überhaupt
ganz München ein Gefängnis in seinen Augen war,
das man vollständig abreißen und ganz neu hätte
aufbauen müssen. "es ist an der Zeit, durch's Oberlicht
/ das Haus zu verlassen / ein Klavier von ozeanischer Größe
/ läßt sich nicht mehr stimmen" (V. Kristl,
Menschenfeind, München 2003)
*
12. Juli 2004. Die Beerdigungsfeier beginnt mit Klavier,
dann Vlado Kristls Stimme, sie spricht spontan Gedichte, "Das
Mißverständnis ist über die Berge hereingebrochen
...", irgendwann wieder Klavier, und wieder Gedichte,
der letzte Satz: "es ist überall Licht". Die
Tonspur seines Films HORIZONTE, 1973. Der Raum hallt, der
Ton ist dumpf und verrauscht, so dass die Worte nur erahnt
werden können. Sieben Minuten lang. Sätze und Sinn
verlieren sich im unkontrollierten Soundgemisch. Vlado-Kristl-Sound
und -Verweigerung, posthum, zufällig, fast möchte
man lächeln und froh sein. Natürlich machte er nie
Sound, sondern Ton, zärtlichen oder gewaltigen, schreienden,
verstörenden, in DIE GNADE NICHTS ZU SEIN, 1993-97, 84
Minuten lang die Wiederholung eines gequälten, quälenden
Schreis. Noch in diesem Moment seiner Abwesenheit also poetisch,
so wie stets etwas Anarchisch-Widerständiges und Stimmig-Rohes
aus dem bloß rohen Zufall der Realität hervorbringend
- Zerstörung und Aufbruch, und dann ist die Realität
die Utopie. Gegen das Wort "Anarchie" hatte er trotzdem
etwas. So wie gegen das Wort "Utopie". So wie gegen
alle Worte, wenn man sie nicht gleichzeitig befreite. So wie
gegen das Wort "Experimentalfilm". Nach den Dreharbeiten
zu KUNST IST NUR AUSSERHALB DER MENSCHENGESELLSCHAFT, 2002,
war es ihm gerade recht, dass man von seinen Gedichten, gesprochen
und gegen alles feindlich und fremd Umgebende geworfen und
geschleudert von Carola Regnier, kaum etwas verstand (für
den Ton war ich verantwortlich). Aber doch genug. So dass
da etwas war. Zumindest das, dass der Zuschauer darauf kommen
könne, das Buch zu kaufen (Menschenfeind, München
2003). "............wer sich in der Kunst nicht auskennt,
soll sich nach den Preisen richten" (Preise und Wert
von Kunstwerken, 28.2.2003, unveröffentlicht.)
Zweitens. Als die Zeremonie beendet ist und der Saaldiener
die Ausgangstüre öffnet, steht niemand auf. Eine
ganze Weile. Der Saaldiener blickt irritiert, eine ganze Weile.
Irgendwie beginnt erst jetzt das Feierliche, das Gefühl
von Verbundenheit und - nun - endgültig persönlichen
Abschieds. Dann steht Pepe Kristl auf, hutbewehrt, und geht
auf den Sarg zu, nach einer kurzen Berührung zum Ausgang,
und plötzlich ist es, als ginge da sein Vater, derselbe
raumbewußte, sichere und doch deutlich schlendernde,
freundliche Gang, die Arme schlenkernd, nicht geraden Schritts
zur Tür, sondern in einem elegant überflüssigen
Bogen. "Familienähnlichkeiten" - die "Stärke
des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser
durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß
viele Fasern einander übergreifen." (L. Wittgenstein,
Philos. Untersuchungen, Nr. 67) Fäden gesponnen, Freunde
gewonnen, aus Ähnlichkeiten, Fehden entsponnen, Freunde
verloren, aus Streitigkeiten, weil der Mensch ein "Ich"
hat, und sonst niemand, und Mensch-Sein bleibt ein unsicherer
und anfälliger "Mensch-Versuch". (Titel der
letzten geplanten Publikation, Titel von Johanna Pauline M.)
Drittens. Seine Tochter Madeleine, so apart und kraftvoll
und, einem nicht weiter begründbaren Eindruck nach, so
spielerisch-leicht und halsbrecherisch wie der Film (MADELEINE,
MADELEINE, 1963 - auf den Spaß des erotischen Tennisspielens
folgt der Zank und das Gewitter und der Gesang: "ich
haste durch den Wald"). Am anschließenden Kaffeetisch
kann ich sie eine Zeit beobachten. Sie ist in dieser Stadt
inzwischen fremd, nur die alten Freunde kennt sie. Sie schaut
in die Runde. In ihrem Gesicht eine Mischung aus Neugierde,
Erstaunen, Benommenheit und Angewidertsein, d'un air dégoûté
möchte man in ihrer Sprache sagen. Es ist die Mundpartie,
eine ähnliche Zeichnung, die Mundwinkel nach unten weisend,
die Lippen etwas schmollend, und dann doch dieses strenge,
ernste Schauen, ein bohrender, humorloser Blick, der aber
in diesem Moment das sieht, worüber gleich der unnachsichtige
und treffende Witz gemacht wird. Ein Witz, der Vlado Kristls
Filme durchzieht, seine Prosa, seine Zeichnungen, und seinen
leibhaftigen Auftritt (jetzt nur noch in den Filmen). Ein
Witz, der verschwindet oder nicht vorhanden ist, in den Gedichten
und den Gemälden, in ihnen stattdessen Schwärze,
Tiefe und Weite, Trauer.
Viertens. Der Witz in DER BRIEF, 1966. "Längeres
Beispiel: In einem Schwabinger Café unterhalten sich
ein paar Männer, vielmehr: sie benehmen sich, als unterhielten
sie sich, spucken sich aber ständig ins Gesicht und loben
gegenseitig verbindlich ihre Spuckkünste. Der Mist, den
die Leute reden, ist auch nichts anderes, hat Vlado Kristl
sich gedacht. Vielleicht hat er aber nur gehofft, die betreffenden
Filmkritiker und Konsorten würden doch in Rage kommen
und sich richtig prügeln." (H. Färber, Der
Brief in: Filmkritik 4/67)
*
"Wir verbrennen alle unsere Wünsche" - Jean-Marie
Straub und Danièle Huillet stehen in Vlado Kristls
OBRIGKEITSFILM, 1971, vor einem großen Feuer, mit dem
Rücken zur Kamera, und sie wissen irgendwann nicht mehr,
was sie nun noch spontan sagen könnten, das ist nicht
so ihre Sache (das Feuer dagegen schon).
"Wie kann man da noch etwas ändern und etwas umstürzen.
Der Kampf um irgendwelche Freiheiten, der ist praktisch zu
gewinnen und ist in jedem einzelnen Fall auch gewonnen, ist
aber im Ganzen verloren eigentlich dadurch, daß die
Obrigkeit diese Freiheiten nicht unterdrückt, sondern
sie zum Zwang macht. Die Obrigkeit bleibt die Natur der Gesellschaft."
(V. Kristl, Filmkritik, 07/71)
Dieter Reifarth erzählt während des Kaffeetrinkens
nach der Beerdigungsfeier: Vlado hätte den letzten Straub-Huillet-Film,
EIN BESUCH IM LOUVRE, 2004, im Münchner Filmmuseum gesehen
(dort in Klaus Volkmer im übrigen ein wirklich großer
Kristl-Freund) und danach Straub mitgeteilt, der Film sei
großartig, er habe nur den falschen Text und er handle
von den falschen Bildern, und fast könne man glauben,
dass er, Straub, kein Genie sei. "Verbrennt den Louvre,
jetzt, gleich, wenn man Angst hat vor dem Schönen..."
(Cézanne, nach Joachim Gasquet, im eben genannten Film)
Vlado Kristls Bilder, die wahren, sind vorerst weggepackt,
in einem Lagerhaus in einer Münchner Strasse, die sehr
lange in einem frühen Straub-Film abgefahren wird. Und
schon wieder ein großer Witz: ein gigantisches Netz
endloser, gerader Gänge mit rechtwinkligen Abzweigungen
auf mehreren Stockwerken, ein Storage-Abteil neben dem anderen,
ununterscheidbar, wären sie nicht numeriert, das Ganze
gut abgesperrt und gesichert. Darin nun das große Schlummern
der Wünsche, das große Schwelen des Feuers. Wer
will sie, diese Bilder? Die ganze Welt, die ganzen einzelnen
Mensch-Versuche. "Danke, Freund. Manchmal verwechselt
man die Niedrigkeiten der Welt mit den Kränkungen gegen
die Welt. Ah! Gäbe es nur Messer und Scheren, Stempel,
Lanzen und Hakenbüchsen; Mörser, Sicheln und Hämmer,
Kanonen, Kanonen, Dynamit." (Straub-Huillet, SICILIA!,
1998)
*
"umarme die Luft, geh, ohne Grenzen
winke ihr das letzte Mal zu
und ich setze mich hin
und über mir ein jubelnder und winkender Wind
alle auf! Und ich versuche zu zaubern
Liebeserklärung an den Wind
auf! Ihr Bäume, jetzt werdet ihr mein Weg sein
Gedanke verschone mich
daß ich kein Ziel nennen kann"
Vlado Kristl, spontan gesprochenes Gedicht aus dem Film "DIESE
GEDICHTE", 1975. Als Schluß einer nicht mehr zustande
gekommenen Veröffentlichung 2004 - "Mensch-Versuch"
- vorgesehen. Im Nachruf von Fritz Göttler, SZ vom 9.7.2004,
zitiert.
Markus Nechleba
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