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17.06.2004
 
 
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Reisende, Suchende und ein peruanischer »Taxi Driver«
13. Internationales Film Festival Innsbruck

 
 
DÍAS DE SANTIAGO
   
 
 
 
 

Auf Filme aus den Ländern des Südens hat sich das Filmfestival der Alpenstadt Innsbruck spezialisiert. Über 50 Werke dieser Provenienz konnten dieses Jahr zwischen dem 9. und 13. Juni begutachtet werden. Überraschend mag auf den ersten Blick die Eröffnung mit der Schweizer Produktion AU SUD DES NUAGES erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Wahl als sehr geschickt. Jean-Francois Amiguets wunderbar unaufgeregtes Railroad-Movie stimmte nämlich einerseits auf das heurige Motto "Reisekino - Kinoreisen" ein und schaffte andererseits den Brückenschlag zwischen der westlichen Welt und dem fernen China: Vier alte Walliser Jäger brechen mit der Transsibirischen Eisenbahn in den Fernen Osten auf. Heimweh bewegt einen nach dem anderen zur vorzeitigen Umkehr und nur der wortkarge Adrien erreicht sein Ziel. In sich versunken findet dieser eigensinnige Bergbauer aber weder den Zugang zur fremden Kultur noch zu den Menschen. Nur das schon Bekannte, das, was ihn an seine Heimat erinnert, nimmt er wahr und findet so in der Fremde nicht zu den Anderen, aber wenigstens zu sich selbst und stellt sich seiner Vergangenheit.

Die Reise der Walliser Bauern war innerhalb des Festivalprogramms freilich die einzige Reise, die touristischen Motiven entsprang. In MIEL PARA OSHUN (HONIG FÜR OSHUN) des kubanischen Altmeisters Humberto Solas kehrt der Literaturprofessor Roberto, der vor 32 Jahren mit seinem Vater aus Kuba in die USA floh, in seine Heimat zurück, um seine Mutter zu suchen. Gemeinsam mit seiner Cousine Pilar begibt er sich auf eine Reise durch die Karibikinsel. Solas nützt diese Geschichte aber nicht als Vordergrund für eine Erkundung der sozialen Verhältnisse im Lande Castros, sondern beschränkt sich auf touristische Ansichten. Und auch auf der Unterhaltungsebene funktioniert MIEL PARA OSHUN nicht, denn Solas erzählt zwar mit viel Gefühl, aber ohne jede Kraft, bieder und in schleppendem Tempo.

Eine Reise mit dem Fahrrad quer durch Brasilien unternimmt wiederum eine sechsköpfige Familie in Vicente Amorims O CAMINHO DAS NUVENS (DER WEG IN DIE WOLKEN). Dem persönlichen Motiv beim Kubaner Solas steht hier mit der Suche nach einem besseren Job ein soziales gegenüber. Spannend könnte das sein, doch Amorim findet keine dramaturgische Linie, lässt sich nie Zeit für genaue Beobachtungen. Mal wird mit Singen Geld verdient, mal wird zu Gott gebetet, mal gibt's einen kleinen Job, mal trifft die Familie hilfsbereite Leute, mal abweisende und auch interne Konflikte wie der zwischen dem autoritären Vater und dem heranwachsenden Sohn dürfen nicht fehlen. Weil beliebig Szene auf Szene folgt, verliert sich Amorims Film in Belanglosigeit, und auch kein Gefühl für die äußere Reise oder die Weite des Landes wird vermittelt, denn die Bilder von den Fahrradfahrten dienen nur als Bindeglieder zwischen den einzelnen Stationen. Dennoch vergab die Jury an O CAMINHO DAS NUVENS eine spezielle Erwähnung für "die sensible Familiendarstellung in ihren unterschiedlichen Schichten".

Während der Vater in diesem brasilianischen Werk zwar immer weiter will, aber seine Familie nie zurück lassen würde, ist in den afrikanischen Filmen ABOUNA und MILLE MOIS die Abwesenheit des Vaters der die Handlung bestimmende Umstand. Gemeinsam sind dem im Tschad spielenden ABOUNA und dem marokkanischen MILLE MOIS aber nicht nur dieser Ausgangspunkt und die Fokussierung auf die zurückgebliebenen Kinder, sondern auch eine bestechende Farbfotografie, das Erzählen in langen ruhigen Einstellungen und der Verzicht auf Dramatisierung. Mahamet-Saleh Haroun zeigt in ABOUNA nicht nur einfühlsam, welche Rolle der Vater im Leben von Kindern spielt, sondern auch, wie der 15jährige Tahir nach dem Verschwinden des Familienoberhaupts lernt Verantwortung für seinen 8jährigen Bruder zu übernehmen. - Ein kleiner und einfacher, aber universell gültiger Film, an dem nur das etwas zu hektische und ereignisreiche Ende stört, ist Haroun mit seinem zweiten Spielfilm gelungen.

Erst sieben Jahre alt ist die Hauptfigur von MILLE MOIS. Im Ramadan 1981 ist Bensaidi Faouzis Debüt zeitlich angesiedelt, der Schauplatz ist ein nicht näher bestimmtes marokkanisches Bergdorf. Mutter und Großvater erzählen Mehdi, dass der Vater in Frankreich sei, doch in Wahrheit wurde er bei einem Streik inhaftiert. Nichts Spektakuläres passiert, in sehr ruhigem Rhythmus werden Szenen des Dorflebens aneinander gereiht, werden zentrale Personen wie der Lehrer, ein verliebter Fernsehtechniker oder ein wegen seines Lebenswandels zwangsversetzter Richter vorgestellt. Immer wieder wird dabei sichtbar, wie die strengen religiösen Vorschriften den Knaben einschüchtern und prägen. Der versehentliche Genuss eines Apfels löst bei ihm Angst vor der Hölle aus, den Unfalltod eines jungen Mädchens, das sich nicht um die Vorschriften des Korans kümmerte, sieht er als Strafe Gottes an.

So ruhig die afrikanischen Filme vielfach sind, so intensiv und vibrierend kann das lateinamerikanische Kino sein: Eine Frau und dann ein Mann - auf der Straße stehend, gefilmt in grobkörnigem Schwarzweiß. Von der ersten Einstellung an nimmt DIAS DE SANTIAGO des 28jährigen Peruaners Josué Mendez den Zuschauer gefangen: Drei Jahre lang hat Santiago als Soldat für sein Land gedient, jetzt kehrt er als 23jähriger ins Zivilleben zurück - besser gesagt: er möchte zurückkehren. Der Staat kümmert sich aber um seine Veteranen nicht, Förderungen für eine Weiterbildung oder Umschulung gibt es für Santiago nicht. Sein Vater fordert ihn auf aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, bald kommt es auch zum Streit mit seiner Freundin und einige Ex-Kollegen von der Armee wollen ihn überreden sich an einem Banküberfall zu beteiligen. Doch Santiago lehnt ab: er möchte anständig bleiben, eine Familie gründen. Der Militärdienst und Einsätze an der Grenze zu Ecuador sowie im Kampf gegen Terrorismus und Drogenhandel haben ihn geprägt, der Drill hat ihn deformiert. - Immer weniger kommt er mit der Situation klar.

Sichtlich an US-Filmen über Vietnam-Heimkehrer hat sich Mendez orientiert. Santiago kann nachts so wenig schlafen wie Martin Scorseses Travis Bickle in TAXI DRIVER, beginnt wie dieser Taxi zu fahren und träumt von einer sauberen Stadt, in der die Jugendlichen den richtigen Lebensweg finden. Aggressionen stauen sich in Santiago auf. Zuerst richten sich diese nach außen und dann in einer quälenden, schwer zu ertragenden Schlusssequenz nach innen. Kongenial bringt Josué Mendez Santiagos Desorientierung und Konfusion durch die formale Gestaltung zum Ausdruck. Schwarzweiß, vielfach verfremdet durch extreme Überbelichtung, wechselt mit Farbe, Handkamera und innerer Monolog ziehen den Zuschauer direkt in die Gefühls- und Gedankenwelt der von Pietro Sibille mit unglaublicher Intensität gespielten Hauptfigur und lassen ihn bis zur letzten Sekunde nicht mehr los. Ein Psychogramm von atemberaubender Dichte ist so entstanden, aber gleichzeitig indirekt eine vehemente Abrechnung mit dem Militär. Denn nach dieser Ausbildung gibt es kaum mehr ein Zurück und so fühlt sich Santiago "out of all" und das Zivilleben ist für ihn bald schlimmer als das in der Armee. Ein Solitär stellte DÍAS DE SANTIAGO im Wettbewerb des Innsbrucker Festivals dar und wurde folglich auch völlig zu Recht mit dem mit 5000 Euro dotierten Filmpreis des Landes Tirol ausgezeichnet.

Belanglos wirkte dagegen Ömer Kavurs ENCOUNTER ("BEGEGNUNG"). Nicht mehr als handwerklich solid gefertigte Konfektionsware ohne jede persönliche Handschrift bietet dieser Thriller über einen Architekten, der durch eine Bekanntschaft mit einem zwielichtigen Spielhallenbesitzer seinen verstorbenen (?) Sohn und damit auch eine neue Familie findet. Kein Bild weist hier über das Gezeigte hinaus, nach dem ersten Sehen gibt es nichts mehr zu entdecken.
Unverständlich bleibt auch, wieso die abstruse Bollywood-Produktion RAGHU ROMEO in das Festivalprogramm aufgenommen wurde. Witzig ist zwar noch der Beginn, wenn sich der Kellner Raghu in einen Filmstar verliebt und in Folge immer weniger zwischen Realität und TV-Soap unterscheiden kann. Eine ironische Reflexion über Kino als Opium für das Volk hätte dies werden können, doch, was als Kritik am Illusionskino beginnt, bedient sich bald selbst dieser Muster und mixt in haarsträubenden Wendungen Action und verkrampften Humor. - Standen hier wirklich keine überzeugenderen Arbeiten aus Asien, das heuer sehr schwach in Innsbruck vertreten war, zur Verfügung?

Eine Wohltat war im Vergleich mit dieser seichten Unterhaltungsware der mitreissende südafrikanische Dokumentarfilm AMANDLA!. In einer geschickten Mischung aus Interviews und Wochenschaumaterial dokumentiert der Amerikaner Lee Hirsch nicht nur die Geschichte der Apartheid von 1948 bis 1994, sondern vermittelt auch eindrücklich, welche Rolle Protestsongs beim Widerstand gegen das rassistische Regime spielten. Wenn die Interviewpartner vom Gespräch in Songs wechseln, mit denen sie die jeweilige politische Situation kommentierten, und wenn diese Songs mit Archivmaterial kombiniert werden, wird die Kraft dieser Musik spürbar, wird intensiv das Aufbegehren und der Widerstands- und Überlebenswillen dieses geschundenen Volkes erfahrbar gemacht.

Walter Gaspari

Detailinformationen zum Festival unter: www.iffi.at

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