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Innerhalb von nur drei Tagen drei cineastische Highlights
erleben zu können, auf die man sonst das ganze Jahr über
verteilt warten müßte, dieses Vergnügen bieten
einem nur Filmfestivals, und von diesen wiederum nur ganz
bestimmte wie die Viennale in Wien: Gus van Sant ELEPHANT,
Tsai Ming-liang BU SAN und Vincent Gallo THE BROWN BUNNY konnte
ich in Wien sehen, Filme also, die hierzulande nicht unbedingt
einen Verleih finden werden, und wenn, dann nur mit wenigen
Kopien, so daß man nach dem bundesweiten Start, von
dem man in Zeitungen durch Besprechungen erfährt, erst
mal wochen-, ja monatelang und manchmal gar vergeblich warten
muß, ehe sie z.B. in München eine Leinwand in einem
Kino bekommen (aktuelle Beispiele für solche Ausfälle:
LE FILS der Brüder Dardenne oder JUNTA von Mario Bechis).
Aber zurück zum Wiener Filmfest, das sich traut, in
großer Dichte solche Filme zu zeigen, bei denen das
Münchner Filmfest bloß desertierende Zuschauer
fürchtet, eine Angst, für die in Wien allerdings
tatsächlich keinerlei Berechtigung besteht, denn auch
scheinbar unspektakuläre und wirklich unbekannte Filme
aus Kasachstan oder Japan haben volle Säle ("ausreserviert"
war eines dieser wienerischen Wörter, das ich bei der
Beschaffung der Karten zu lernen hatte). Und manchmal, bei
angesagteren Independents, herrscht im Kinofoyer ein Gedränge
und eine Atmosphäre wie direkt vor der Bühne bei
einem Rock-Konzert, wo man sich jeden Moment auf einen Stage-Diver
über sich gefaßt machen muß.
Hans Hurch, der Leiter der Viennale, hat, so war es nachzulesen,
das Motto von einem "primitiven" oder "rohen"
Kino ausgegeben, das mit dem Wiener Programm vertreten werden
sollte. Vielleicht dachte er dabei an Jacques Rivettes manifestartigen
Text "Wir sind nicht mehr unschuldig" (1950), der
im Begleitkatalog zur von der Viennale zusammen mit dem Österreichischen
Filmmuseum veranstalteten Retrospektive mit Filmen Rivettes
im letzten Jahr steht. (Die Reihe war dieses Jahr übrigens
dem japanischen unabhängigen Kino des Art-Theatre-Guild-Studios
von 1962 bis 1984 gewidmet). Rivettes emphatische Forderung
nach einem Kino "des Protokollierens direkt aufs Filmmaterial",
nach einem Kino, "das unvermittelt aufs Filmmaterial
transkribiert, im direkten Kontakt der Kamera mit der Realität",
ist vor allem gegen einen Realismus der Konvention gerichtet,
in dem sich alle Beteiligten (inklusive des Zuschauers) schon
vorab darauf geeinigt haben, was sie als Wirklichkeit ansehen
und was nicht. So kann man ein Kino durchaus als primitiver
oder ursprünglicher verstehen, das vor diese fest geschriebenen
Konventionen zurückgehen und mit seinem Kamerablick etwas
entstehen lassen will, was sich erst noch in einen Begriff,
eine Form, eine (Seh)Erfahrung prägen lassen muß,
wenn der Blick von Zuschauern darauf fällt.
Beim Sichten des Katalogs und Programms scheint sich das
gar als roter Faden durch das Programm zu ziehen, diese dokumentierende
Seite der Kinematografie, die Materialität der Realität
registriert und die Siegfried Kracauers phänomenologische
Theorie von der "Errettung der äußeren Wirklichkeit"
im Kino zugrunde liegt.
Das geht beim Viennale-Trailer des Avantgarde-Filmers Ernie
Gehr mit seinen Wolkenbildern an und reicht hinein bis in
Stücke der Reihe "Kinematografie - elementar"
aus der Sammlung des Filmarchivs Austria (etwa mit Pathé-Filmen
aus den Jahren 1901 bis 1908). Fortsetzen tut sich das, dem
Vernehmen nach, auch bei den aktuellen Filmen wie dem schon
letztes Jahr auf der Viennale gezeigten GERRY von Gus van
Sant, den ich leider verpasste und der Passagen "reiner
Kinematographie" (so Christoph Huber über den Film,
zitiert im Viennale-Katalog).
Gus van Sant
Auch Gus van Sants neuester Film ELEPHANT, der diesjährige
Preisträger aus Cannes, folgt einem phänomenologischen
Ansatz, wenn er in langen Einstellungen, gleichmütigen
360°-Schwenks und gelassenen Plansequenzen Schüler
auf den Wegen und Gängen einer High-School verfolgt,
einer High-School, die am Ende wie Columbine der Ort eines
willkürlichen Massakers werden wird. Das quasi-dokumentarische
Aufzeichnen der letzten Stunde vor dem Blutbad in der High-School,
das Verfolgen einzelner, durch Inserts namentlich kenntlich
gemachter Schüler wird dabei so genau genommen, dass
etwa eine Szene, bei der sich drei der herausgehobenen Figuren
begegnen, auch dreimal aus jeweils unterschiedlicher Perspektive
wiederkehrt.
Das alles baut sich langsam, mit einem fast epischen Gleichmaß
als harmloses, heiteres Mosaik auf, an einem schönen,
sonnigen klaren Herbstmorgen, der sich immer mehr eintrübt:
Diese zunehmende Verschlechterung des Wetters steht allerdings
im Widerspruch zu bereits gezeigten Szenen, die denselben
Vorgang, dieselbe Begegnung aus anderer Perspektive schon
zeigten, am Anfang des Films herrschte in diesen Szenen Sonnenschein,
aber je näher der Film auf seiner Zeitachse dem Massaker
rückt, um so bedeckter ist der Himmel auch in denselben
Szenen. Solche Brüche mit der Kohärenz des Raum-Zeit-Kontinuums,
auf dessen Erzeugung andererseits mit den schnittlosen Plansequenzen
so große Sorgfalt verwendet wird, zeigen an, dass van
Sant nicht einer naiven Reproduktion des phänomenologischen
Gestus aufsitzt, dass er mit der Unschuld des reinen Kamera-Blicks
ein den Zuschauer betörendes Spiel treibt. Nicht umsonst
ist einer der Schüler damit beschäftigt, zu photographieren
und die Bilder zu entwickeln, eine Bewußtheit der medialen
Vermittlung wird so signalisiert. Dass der Film allerdings
mit einer längeren Rückblende aus dem so souverän
gesetzten präsentischen Rahmen ausbricht, dass er damit
doch formal dem Erklärungsdruck nachgibt, den er inhaltlich
eigentlich zu negieren vorgibt, das schwächt diesen grandiosen
Film in meinen Augen leider. Und wenn er in eben dieser Rückblende
die beiden Täter an einem der Tage zuvor zusammen zeigt,
dann wird diese Sequenz bei aller aufgebotenen Beiläufigkeit
doch zu einer Tour de Force, in der in einer Art Multiple-Choice-Verfahren
alle möglichen Erklärungsangebote wie Optionen versammelt
werden (vom Video-Spiel über die Nazi-Dokumentation bis
zu per Versand ins Haus gelieferten Waffen). Auch wenn klar
ist, dass diese Erklärungsmuster in ihrer Häufung
eine Überspitzung und Entwertung erfahren, dass sie in
den Status der Unentscheidbarkeit überführt werden,
überzeugender wäre es mir erschienen, sie wären
hier gar nicht erwähnt worden.
Vincent Gallo
Auf eine erläuternde, illustrierende Rückblende
wollte auch Vincent Gallo in seinem seit Cannes skandalumwitterten
Film THE BROWN BUNNY am Ende nicht verzichten: Sein Held Bud
Clay, gespielt von Gallo selbst, ein Motorradrennfahrer, ist
quer durch die Staaten zum nächsten Rennen in einem Kleintransporter
unterwegs, seine Maschine ist im Laderaum untergebracht. Die
in Wien gezeigte Fassung weist gegenüber der in Cannes
gezeigten angeblich einige Schnitte auf (sie enthält
nach wie vor einen expliziten Blow Job), zeichnet sich allerdings
durch bemerkenswert monotone, eintönige, handlungsarme
Bilder vom Fahrersitz aus. Es werden auch keine besonders
pittoresken, malerischen oder sonstwie konventionell schönen
Hochglanz-Panoramen und Landschaftsaufnahmen gesucht. Die
Suggestivität dieses Road Movies verdankt sich der kargen
Ökonomie der verkümmerten, verarmten Empfindungswelt
seines Protagonisten, der den Verlust seiner Liebe Daisy zu
betrauern hat. Die Leere der Fahrten kann die innere Leere
nicht füllen, die Bud Clay begegnenden Frauen, die Violet,
Lily und Rose heißen, bilden eine Blumenkette von vergeblichen
Substituten für die einzige Blume Daisy, nach ersten
Annäherungsversuchen wird die Kontaktaufnahme von Bud
immer wieder abrupt beendet.
Besonders beklemmend und bitter ist der Besuch irgendwo in
den Tiefen der Provinz bei den alten Eltern von Daisy, wo
Bud sich von der Mutter das Lieblingskaninchen (the brown
bunny) seiner ehemaligen Geliebten zeigen läßt
und sehr vage und evasiv von einem verlorenen Kind Daisys
spricht. Später sehen wir Bud dann in einer Zoohandlung
wieder, der Verkäufer erläutert, dass die Kaninchen
höchstens sechs, sieben Jahre alt werden und offenbart
damit den Selbstbetrug der Mutter, die Daisy schon wesentlich
länger nicht gesehen hat und sich das Bunny als Ersatz
für die verlorene Tochter hält. Auch Bud Clay schreitet
zu dieser Ersatzhandlung.
Die Rückblende am Ende, die intermittierend zu seiner
phantasmatischen, im Delirium des Blow Jobs sich auflösenden
Wiederbegegnung mit Daisy geschnitten ist, gibt drastische
Einblicke in das emotionale Desaster eines gekränkten
Machos, der Film THE BROWN BUNNY erweist sich hier als anrührende,
peinliche und schonungslose Selbstabrechnung, in der es Gallo
gelingt, seinen exhibitionistischen und narzißtischen
Hang zur Selbstdarstellung in einem Moment verzweifelter Aufrichtigkeit
aufzuheben.
Gallos filmischer Stil ist ein experimentell-dokumentarischer,
naiv ist aber auch sein Blick nicht, er ist geprägt und
überformt von phantasmatischen Besetzungen, die die Wirklichkeit
als Luftspiegelung und als von den Schmutzspuren der Windschutzscheibe
durchsetzte Projektionsfläche vorführen. Am bezeichnendsten
für den widersprüchlichen Wunsch dieses Blickes,
selbst zu verschwinden in dem, was er erfaßt, aufzugehen
in der Funktion des Schauens bis zur sich selbst bestrafenden
Verlöschung, ist wohl die Einstellung, in der Bud Clay
auf seiner Honda in die blendende Helle und das Flirren der
Salzwüste hinein verschwindet.
Tsai Ming-liang
Kommunikationslosigkeit ist das große Thema in den
Filmen des Taiwanesen Tsai Ming-liang. Immer wieder findet
er im Räumlichen sich objektivierende Darstellungen der
Entfremdung und Abgeschnittenheit. Sein filmischer Stil ist
dabei enigmatisch und elliptisch: Man bekommt nichts erklärt
und starrt erst einmal nur gebannt auf die Bilder, in denen
die Dinge nur für sich einzustehen scheinen. Der Raum,
den er in seinem neuen Film BU SAN (Goodbye Dragon Inn) zur
Veranschaulichung verwendet, ist ein besonders exemplarischer:
Es handelt sich um ein Kino in Taipeh, in dem die letzte Vorstellung
gegeben wird, und zwar ein Schwertkampf-Klassiker von King
Hu, DRAGON INN (aus dem Jahr 1966). Im riesigen Saal befinden
sich nur vereinzelte, verlorene Gestalten, denen wir beim
Zuschauen zuschauen.
Außerhalb des Saales ist die humpelnde Kartenverkäuferin
mit ihrem Klumpfuß, die von ihrem Kassenhäuschen
beschwerlich durch die öden Räume des Gebäudes
zum Projektionsraum hoch steigt, um dem Vorführer die
Hälfte von ihrem Essen, dem merkwürdigen rötlich-weißen,
wie eine Dampfnudel aufgegangenen Teigball zu bringen. Ihre
Abwesenheit unten nutzt ein junger Mann, um sich heimlich
in den Saal zu schleichen. Er ist Japaner, er scheint die
Anonymität des Kinosaals zu suchen, um dort verschwiegene
Kontakte mit anderen Männern knüpfen zu können.
Es entwickelt sich ein seltsamer, verstohlener Reigen zwischen
Kinositzen und Toilette, rauchende, ewig am Pissoir stehende
Männer, Männer, die durch ominöse mit Pappkartons
voll geramschte Lagerräume zirkulieren, der Vorführer,
der plötzlich von Gespenstern spricht, die durch das
Kino spuken (einer der ganz wenigen Dialogsätze in diesem
Film): all diese Szenen werden beherrscht von einem verhaltenen,
abgründig komischen Slapstick, der mit der heroischen
Action in DRAGON INN auf der Leinwand kontrastiert.
Doch der Gegensatz zwischen Kinosaal und Leinwand findet
am Ende eine überraschende Auflösung, denn zwei
der stoischen Betrachter sind tatsächliche Schauspieler
aus dem Klassiker King Hus, darunter der öfter bei Tsai
Ming-liang spielende Miao Tien (er hat einen kleinen Jungen
dabei, dem er den Film zeigt). So ergibt sich eine raffinierte
Verschränkung der Fiktionsebenen, die auch einen elegischen
Kommentar zu Vergängnis und Bewahrung, zur Dialektik
von Augenblick und Dauer in der Kinokunst darstellt.
Das Ganze gipfelt in einer minutenlangen starren Einstellung
auf den leeren Kinosaal, nachdem ihn die letzten Zuschauer
verlassen haben: Man selbst fühlt sich plötzlich
gar nicht mehr berechtigt, auf seinem Platz im Kino sitzen
zu bleiben, man fühlt sich geradezu aufgefordert, jetzt
auch das Kino zu verlassen, so sehr beginnt einen dieser leere
Saal auf der Leinwand als bedrohliche Vision zu ängstigen,
ja zu quälen. Und draußen regnet es sintflutartig,
durch undichte Stelle tropft es überall herein, die Kartenverkäuferin
schließt ab, der Vorführer schließt ab, jeder
geht seiner Wege im Regen, ein trauriger, nostalgischer Schlager
setzt ein.
So setzt Tsai Ming-liang der Unschuld eines ursprünglichen
Kinovergnügens seiner Kindheit ein Denkmal, als ihn sein
Großvater mitnahm in die Filme, so wie Miao Tien hier
seinen Enkel zu DRAGON INN mitnimmt. Die Gespenster der Vergangenheit
gegenwärtig zu machen, diese ambivalente Kraft der Bilder
zu beschwören und gleichzeitig zu hinterfragen, das ist
die große Kunst des beharrlichen Kamerablicks bei Tsai
Ming-liang. Man kann sich kaum einen schöneren Film für
ein Filmfest vorstellen, das sich so sehr der Cinephilie verschrieben
zu haben scheint wie die Viennale.
Wolfgang Lasinger
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