KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
21.08.2003
 
 
       

Das, was Venedig übrig lässt
56. Internationales Filmfestival
von Locarno

 
 
DAS WUNDER VON BERN
   
 
 
 
 

Mehr noch als die Dicke und das Gewicht des Festivalkatalogs nimmt von Jahr zu Jahr die Zahl der gezeigten Filme zu. Mit 440 konnte für dieses Jahr wiederum ein neuer Rekord gemeldet werden. Immer neue Sektionen wie dieses Jahr ein "Human Rights Programm", eine Hommage an Friedrich Dürrenmatt und eine Werkschau des kubanischen Films werden eingeführt und allein die Retrospektive zum Thema "Jazz und Film" brachte es auf 115 Filme.

Auf große Namen musste Festivaldirektorin Irene Bignardi und ihr Team aber verzichteten, immer wieder sprach sie in Interviews von der übermächtigen Konkurrenz, die die zehn Tage nach Locarno beginnende Biennale von Venedig darstellt. Ungleich medienwirksamer und somit attraktiver ist die Veranstaltung am Lido di Venezia für Regisseure und Stars, an den Lago Maggiore kommt nur, wer nicht an die Adria eingeladen wird.

Der schon für den Wettbewerb von Locarno vorgesehene russische Film "VOZVRASENIE" ("Die Rückkehr") wanderte so doch noch nach Venedig ab und die Lücken im Piazza-Programm mussten mit restaurierten Fassungen von "FELLINIS CASANOVA" und Vincente Minnellis "THE BAND WAGON" gefüllt werden.

Konnte die Zeit diesen beiden Filmen freilich nichts anhaben, so wirkt Dominique De Rivaz´ in Locarno uraufgeführter "MEIN NAME IST BACH" schon jetzt altmodisch. Jede Kinomagie, jede Poesie fehlt dieser Geschichte über eine Begegnung Johann Sebastian Bachs mit Friedrich II. von Preußen. Die Kostüme sind gelungen, die Farben gut abgestimmt - doch dies kann ebensowenig wie die hervorragenden Darsteller (Vadim Glowna, Jürgen Vogel) diesem kunstgewerblichen Bilderbogen Leben einhauchen. Kraftlos reiht sich Szene an Szene, viele Themen wie das Verhältnis von Künstler und Herrscher werden kurz angetippt, aber nichts wird vertieft.

Zu viel vorgenommen hat sich wohl auch Sönke Wortmann der in "DAS WUNDER VON BERN" eine Vater-Sohn-Geschichte mit dem deutschen Sieg bei der Fussball WM 1954 verknüpft. Im in tristes Blau und Grau getauchten Ruhrgebiet hat der etwa 12jährige Matthias Lubanski in Helmut Rahn, einem Stürmer von Rot-Weiss Essen und Nationalspieler, einen Ersatzvater gefunden. Erst im Lauf des Films wird sein leiblicher Vater aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren. Während dieser für das Deutschland der Kriegszeit steht, symbolisiert ein junger Münchner Sportreporter und werdender Vater das sich anbahnende Wirtschaftswunder und der deutsche Bundestrainer Sepp Herberger erscheint als Bindeglied zwischen den Generationen und Vater aller Deutschen.

Sentimental, ganz im Stile des deutschen Films der 50er Jahre erzählt Wortmann die fiktive Vater-Sohn-Geschichte und mit viel Pathos in einer Parallelmontage den Weg der Deutschen zum WM-Titel. Emotional mag das durchaus wirken, doch jeder kritische Blick auf die zweifellos mit viel Liebe zum Detail rekonstruierte Zeit fehlt.
Aber auch im Handwerklichen und Dramaturgischen sind Wortmann einige grobe Fehler unterlaufen: Dilettantisch ist die Computeranimierung der Zuschauerkulisse im Wankdorf-Stadion, kulissenhaft wirken die Alpen, die Papa und Sohn Lubanski auf ihrer Fahrt vom Ruhrgebiet nach Bern - welche Route schlagen sie hier überhaupt ein? - überqueren.

Mehr Vergnügen bereitete da im größten und wohl auch schönsten Freilichtkino Europas den etwa 9500 Besuchern Nigel Cole mit seinen "CALENDAR GIRLS": Um Geld für das Gemeindespital zu sammeln, lassen sich einige 50-60jährige Damen des lokalen Frauenclubs hüllenlos für einen Kalender ablichten. Weder an Tempo noch an Einfallsreichtum fehlt es dieser typisch englischen Komödie, die in der Tradition von "Lang lebe Ned Divine" oder Coles Debüt "Saving Grace" steht. Hinreißend ist die Figurenzeichnung und geschickt wird die Geschichte in die herrliche von Steinmauern durchzogene grüne englische Hügellandschaft eingebettet.

Ebenfalls von der Figurenzeichnung, den Dialogen und der Liebe zum Detail lebt "LE COUT DE LA VIE" ("Die Kosten des Lebens"). Mit spielerischer Leichtigkeit verknüpft Philippe Le Guay in dieser typisch französischen Komödie die Geschichte eines Geizhalses, eines Restaurantbesitzers, der immer einlädt und ausgibt, aber nicht fähig ist Geschenke anzunehmen, eines Unternehmers, der alles verkauft, und einer jungen Millionenerbin, die um ihrer selbst willen geliebt werden möchte. Kein Bindeglied besteht zwischen diesen und weiteren Figuren, mit denen sie in Kontakt treten, nur zufällig begegnen sich einige von ihnen - doch jede Szene dreht sich in diesem vergnüglichen Kaleidoskop um das Thema Geld, durch das der Film zusammengehalten wird.

Durch und durch französisch ist auch Jean Paul Civeyracs "TOUTES CES BELLES PROMESSES". In fünf Kapiteln erzählt Civeyrac von einer jungen Musikerin, die sich über ihre Beziehung zu einem Kollegen im Unklaren ist, sich an ihre Eltern erinnert, auf eine Affäre ihres verstorbenen Vaters stößt und eine Reise zum Ferienhaus ihrer Kindheit unternimmt. In fließendem Rhythmus verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit und durch die sanften Kamerabewegungen, die Eleganz der Bilder und die Musik von Felix Mendelssohn und Edith Piaf gewinnt Civeyracs Liebesfilm eine kaum zu überbietende Leichtigkeit und Zärtlichkeit. - Der vielleicht schönste Film des Festivals.

Ernstere Töne schlugen dagegen die Filme des Wettbewerbs an. Ganz nah am Lebensgefühl der Teenager von heute ist die Amerikanerin Catherine Hardwicke in ihrem Wettbewerbsbeitrag "THIRTEEN". Dicht und intensiv fängt die Debütantin mit ihrer mobilen Handkamera die Wandlung der pubertierenden Musterschülerin Tracy ein. Machtlos ist die von Holly Hunter hervorragend gespielte Mutter gegen das Aufbegehren der Tochter: Flottere Klamotten werden durch Diebstähle finanziert und bald folgen Bauchpiercing, Alkohol, Drogen und die unbändige Lust auf ein ungezügeltes Leben. Hardwickes Film überzeugt zwar in der bitteren Kritik an dem von der Werbung und von Vorbildern à la J Lo geprägten Konsumverhalten der Jugendlichen, setzt aber im Bemühen Teenager anzusprechen allzu sehr auf grelle Effekte.

In ein ganz anderes Milieu entführt der Franzose Jean-Marc Moutout in "VIOLENCE DES ÉCHANGES EN MILIEU TEMPÉRÉ" den Zuschauer. In einem Büro von Unternehmensberatern tritt Philippe seinen ersten Job an. Weil er seine Aufgaben zur Zufriedenheit des Arbeitgebers löst, wird er bald befördert: Er soll das Personal durchleuchten und zwecks Einsparungen Entlassungen vorschlagen. - Kalt, aber präzise blickt Moutout in seinem nüchtern inszenierten, in seiner Stringenz aber eindringlichen Film auf die Welt der Manager: Mittelweg gibt es hier keinen - mitspielen und andere vernichten oder aus dem Job aussteigen sind die einzigen Alternativen. Der Beruf formt aber unweigerlich die Persönlichkeit: Aus dem sympathischen Philippe wird ein eiskalter Karrierist.

Mit den Grundfragen des Lebens setzt sich der Südkoreaner Kim Ki-duk in "SPRING, SUMMER, FALL, WINTER ... AND SPRING" auseinander. Idyllisch liegt das Hausboot, das gleichzeitig das Kloster eines Mönchs und seines Schülers ist, mitten in einem von Wäldern umgebenen See. Nichts kann die Ruhe und Harmonie dieses Ortes, der der einzige Schauplatz ist, stören. Das Ambiente unterscheidet sich durch nichts von dem in "The Isle", durch den der Südkoreaner vor drei Jahren berühmt wurde, doch die damals in die Idylle einbrechende Gewalt, die im Verschlingen von Angelhaken kulminierte, fehlt hier.

Magische Bilder der aufeinander folgenden Jahreszeiten lassen den Zuschauer ebenso in diese Welt eintauchen wie der wunderbar ruhige Erzählrhythmus. Entsprechend dem Titel gliedert sich der Film in fünf Kapitel, jedes wird mit einer sich öffnenden Tür eingeleitet und jede Jahreszeit steht für einen Lebensabschnitt. Langsam reift der Mensch, überwindet die Gewalttätigkeit der Kindheit und das sexuelle Verlangen der Jugend. Für seine Vergehen freilich muss er büssen, bevor er im Alter zu Ruhe und Gelassenheit findet.

Ganz von seinen Bildern und Stimmungen lebt Kim Ki-duks Film, die Dialoge sind auf ein Minimum reduziert. Mögen sich auch buddhistische Symbole wie die hier auftauchenden Tiere (Schlange, Schildkröte, Fisch und Frosch) für den westlichen Zuschauer kaum erschließen lassen, so wird er dennoch durch die formale und inhaltliche Geschlossenheit in den Bann dieses ruhigen Films gezogen.

Chaos regiert dagegen in Barbara Alberts "BÖSE ZELLEN", die sich in ihrem zweiten Spielfilm auf Edward Lorenz´ Chaostheorie stützt. Der Flügelschlag eines Schmetterlings löst einen Tornado über dem Golf von Mexiko aus, der wiederum einen Flugzeugabsturz nach sich zieht. Nur die 24jährige Manu überlebt die Katastrophe, kommt aber 6 Jahre und 15 Filmminuten später bei einem Autounfall in ihrer niederösterreichischen Heimat ums Leben. Jedes Ereignis hat aber Auswirkungen auf andere Personen und so verknüpft Albert mittels einer komplexen Montage Manus Schicksal mit dem ihres Mannes, ihrer fünfjährigen Tochter, ihrem Bruder, ihren Freundinnen und den Insassen des Autos, mit dem sie kollidierte. Nicht linear wird hier erzählt, sondern im Stil von P.T. Andersons "Magnolia" entwickelt Albert ein dichtes, aber trotz der Fülle immer übersichtliches Geflecht von Personen und Schicksalen und springt kaleidoskopartig von einer Szene zur nächsten. Verbunden sind die Figuren durch die Suche nach Glück und Sicherheit in einer aus den Fugen geratenen Welt, in diesem stets vom Tod bedrohten unberechenbaren Leben. Die einen suchen Zuflucht in spiritistischen Sitzungen, andere in psychotherapeutischen Familienaufstellungen, in der Religion, bei Gewinnspielen oder bei einer TV-Talkshow, in der die Gäste öffentlich ihre Fehler bekennen.

Auf Antworten verzichtet die österreichische Regisseurin, unheimliche Stimmung und ein Gefühl einer höheren Macht ausgeliefert zu sein wird evoziert, wenn die Kamera wie in einem Horrorfilm immer wieder aus der Vogelperspektive auf die Figuren blickt - gleichsam die Perspektive einer höheren Macht übernimmt - und die Menschen eingesperrt und machtlos dem Schicksal unterworfen scheinen.
Nicht weniger schonungslos als Ulrich Seidl blickt Albert in die Abgründe der menschlichen Seelen, doch den Gemeinheiten und Brutalitäten stehen immer wieder Momente der Zärtlichkeit gegenüber und am Ende stehen vorsichtige neue Anfänge.

Auch im Bosnien der Nachkriegszeit herrschen keinesfalls geordnete Verhältnisse. Doch um bei einem Besuch Bill Clintons einen guten Eindruck zu machen und somit eventuell finanzielle Unterstützung zu erhalten, müssen in Pjer Zalicas "GORI VATRA" in Windeseile alle Missstände beseitigt und eine mustergültige Demokratie installiert werden. Wenn es ums Geld geht - oder westliche "Pampers" dafür herausspringen - können sich auch bosnische und serbische Feuerwehrleute zur Zusammenarbeit durchringen. Aus den Prostituierten werden Revuetänzerinnen und auch der Bürgermeister der serbischen Nachbargemeinde stellt gegen finanzielle Versprechungen Gemeindemitglieder für einen multikulturellen Chor ab. Manchmal böse, aber dann auch wieder melancholisch, jedenfalls immer sehr unterhaltsam erzählt der Bosnier diese menschliche Komödie, in der das Geld wichtiger als alle Ideologien ist.

Um Geschäftemacherei geht es auch in der absurden argentinischen Komödie "LOS GUANTES MÁGICOS" ("Die magischen Handschuhe"). Zufällig kommt der Taxifahrer Alejandro, den seine depressive Freundin soeben verlassen hat, in Kontakt mit einer Stewardess, einem Rockmusikproduzenten und einem Pornodarsteller. Finanziell geht es ihnen allen nicht wirklich schlecht und so leben sie in den Tag hinein und warten auf eine Veränderung, die von außen kommen soll. Großen Gewinn erhoffen sie schließlich durch den Handel mit magischen Handschuhen zu machen.

Ganz vom trockenen Ton, mit dem hier absurde Situationen erzählt werden, und der genauen Zeichnung der sonderbaren Figuren lebt Martin Rejtmans dritter Spielfilm. Doch der Blick auf die Personen entpuppt sich auch als Blick auf das in die Wirtschaftskrise geratene Land: Wie Alejandros Fahrten im Grunde nirgends hin führen, so scheint sich auch Argentinien insgesamt in einer Kreisbewegung zu befinden.

Walter Gasperi

Die Gewinner der Leoparden finden Sie auf der Website des Festivals www.pardo.ch

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]