Mehr noch als die Dicke und das Gewicht des Festivalkatalogs
nimmt von Jahr zu Jahr die Zahl der gezeigten Filme zu. Mit
440 konnte für dieses Jahr wiederum ein neuer Rekord
gemeldet werden. Immer neue Sektionen wie dieses Jahr ein
"Human Rights Programm", eine Hommage an Friedrich
Dürrenmatt und eine Werkschau des kubanischen Films werden
eingeführt und allein die Retrospektive zum Thema "Jazz
und Film" brachte es auf 115 Filme.
Auf große Namen musste Festivaldirektorin Irene Bignardi
und ihr Team aber verzichteten, immer wieder sprach sie in
Interviews von der übermächtigen Konkurrenz, die
die zehn Tage nach Locarno beginnende Biennale von Venedig
darstellt. Ungleich medienwirksamer und somit attraktiver
ist die Veranstaltung am Lido di Venezia für Regisseure
und Stars, an den Lago Maggiore kommt nur, wer nicht an die
Adria eingeladen wird.
Der schon für den Wettbewerb von Locarno vorgesehene
russische Film "VOZVRASENIE" ("Die Rückkehr")
wanderte so doch noch nach Venedig ab und die Lücken
im Piazza-Programm mussten mit restaurierten Fassungen von
"FELLINIS CASANOVA" und Vincente Minnellis "THE
BAND WAGON" gefüllt werden.
Konnte die Zeit diesen beiden Filmen freilich nichts anhaben,
so wirkt Dominique De Rivaz´ in Locarno uraufgeführter
"MEIN NAME IST BACH" schon jetzt altmodisch. Jede
Kinomagie, jede Poesie fehlt dieser Geschichte über eine
Begegnung Johann Sebastian Bachs mit Friedrich II. von Preußen.
Die Kostüme sind gelungen, die Farben gut abgestimmt
- doch dies kann ebensowenig wie die hervorragenden Darsteller
(Vadim Glowna, Jürgen Vogel) diesem kunstgewerblichen
Bilderbogen Leben einhauchen. Kraftlos reiht sich Szene an
Szene, viele Themen wie das Verhältnis von Künstler
und Herrscher werden kurz angetippt, aber nichts wird vertieft.
Zu viel vorgenommen hat sich wohl auch Sönke Wortmann
der in "DAS WUNDER VON BERN" eine Vater-Sohn-Geschichte
mit dem deutschen Sieg bei der Fussball WM 1954 verknüpft.
Im in tristes Blau und Grau getauchten Ruhrgebiet hat der
etwa 12jährige Matthias Lubanski in Helmut Rahn, einem
Stürmer von Rot-Weiss Essen und Nationalspieler, einen
Ersatzvater gefunden. Erst im Lauf des Films wird sein leiblicher
Vater aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren.
Während dieser für das Deutschland der Kriegszeit
steht, symbolisiert ein junger Münchner Sportreporter
und werdender Vater das sich anbahnende Wirtschaftswunder
und der deutsche Bundestrainer Sepp Herberger erscheint als
Bindeglied zwischen den Generationen und Vater aller Deutschen.
Sentimental, ganz im Stile des deutschen Films der 50er
Jahre erzählt Wortmann die fiktive Vater-Sohn-Geschichte
und mit viel Pathos in einer Parallelmontage den Weg der Deutschen
zum WM-Titel. Emotional mag das durchaus wirken, doch jeder
kritische Blick auf die zweifellos mit viel Liebe zum Detail
rekonstruierte Zeit fehlt.
Aber auch im Handwerklichen und Dramaturgischen sind Wortmann
einige grobe Fehler unterlaufen: Dilettantisch ist die Computeranimierung
der Zuschauerkulisse im Wankdorf-Stadion, kulissenhaft wirken
die Alpen, die Papa und Sohn Lubanski auf ihrer Fahrt vom
Ruhrgebiet nach Bern - welche Route schlagen sie hier überhaupt
ein? - überqueren.
Mehr Vergnügen bereitete da im größten und
wohl auch schönsten Freilichtkino Europas den etwa 9500
Besuchern Nigel Cole mit seinen "CALENDAR GIRLS":
Um Geld für das Gemeindespital zu sammeln, lassen sich
einige 50-60jährige Damen des lokalen Frauenclubs hüllenlos
für einen Kalender ablichten. Weder an Tempo noch an
Einfallsreichtum fehlt es dieser typisch englischen Komödie,
die in der Tradition von "Lang lebe Ned Divine"
oder Coles Debüt "Saving Grace" steht. Hinreißend
ist die Figurenzeichnung und geschickt wird die Geschichte
in die herrliche von Steinmauern durchzogene grüne englische
Hügellandschaft eingebettet.
Ebenfalls von der Figurenzeichnung, den Dialogen und der
Liebe zum Detail lebt "LE COUT DE LA VIE" ("Die
Kosten des Lebens"). Mit spielerischer Leichtigkeit verknüpft
Philippe Le Guay in dieser typisch französischen Komödie
die Geschichte eines Geizhalses, eines Restaurantbesitzers,
der immer einlädt und ausgibt, aber nicht fähig
ist Geschenke anzunehmen, eines Unternehmers, der alles verkauft,
und einer jungen Millionenerbin, die um ihrer selbst willen
geliebt werden möchte. Kein Bindeglied besteht zwischen
diesen und weiteren Figuren, mit denen sie in Kontakt treten,
nur zufällig begegnen sich einige von ihnen - doch jede
Szene dreht sich in diesem vergnüglichen Kaleidoskop
um das Thema Geld, durch das der Film zusammengehalten wird.
Durch und durch französisch ist auch Jean Paul Civeyracs
"TOUTES CES BELLES PROMESSES". In fünf Kapiteln
erzählt Civeyrac von einer jungen Musikerin, die sich
über ihre Beziehung zu einem Kollegen im Unklaren ist,
sich an ihre Eltern erinnert, auf eine Affäre ihres verstorbenen
Vaters stößt und eine Reise zum Ferienhaus ihrer
Kindheit unternimmt. In fließendem Rhythmus verschwimmen
Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit und durch
die sanften Kamerabewegungen, die Eleganz der Bilder und die
Musik von Felix Mendelssohn und Edith Piaf gewinnt Civeyracs
Liebesfilm eine kaum zu überbietende Leichtigkeit und
Zärtlichkeit. - Der vielleicht schönste Film des
Festivals.
Ernstere Töne schlugen dagegen die Filme des Wettbewerbs
an. Ganz nah am Lebensgefühl der Teenager von heute ist
die Amerikanerin Catherine Hardwicke in ihrem Wettbewerbsbeitrag
"THIRTEEN". Dicht und intensiv fängt die Debütantin
mit ihrer mobilen Handkamera die Wandlung der pubertierenden
Musterschülerin Tracy ein. Machtlos ist die von Holly
Hunter hervorragend gespielte Mutter gegen das Aufbegehren
der Tochter: Flottere Klamotten werden durch Diebstähle
finanziert und bald folgen Bauchpiercing, Alkohol, Drogen
und die unbändige Lust auf ein ungezügeltes Leben.
Hardwickes Film überzeugt zwar in der bitteren Kritik
an dem von der Werbung und von Vorbildern à la J Lo
geprägten Konsumverhalten der Jugendlichen, setzt aber
im Bemühen Teenager anzusprechen allzu sehr auf grelle
Effekte.
In ein ganz anderes Milieu entführt der Franzose Jean-Marc
Moutout in "VIOLENCE DES ÉCHANGES EN MILIEU TEMPÉRÉ"
den Zuschauer. In einem Büro von Unternehmensberatern
tritt Philippe seinen ersten Job an. Weil er seine Aufgaben
zur Zufriedenheit des Arbeitgebers löst, wird er bald
befördert: Er soll das Personal durchleuchten und zwecks
Einsparungen Entlassungen vorschlagen. - Kalt, aber präzise
blickt Moutout in seinem nüchtern inszenierten, in seiner
Stringenz aber eindringlichen Film auf die Welt der Manager:
Mittelweg gibt es hier keinen - mitspielen und andere vernichten
oder aus dem Job aussteigen sind die einzigen Alternativen.
Der Beruf formt aber unweigerlich die Persönlichkeit:
Aus dem sympathischen Philippe wird ein eiskalter Karrierist.
Mit den Grundfragen des Lebens setzt sich der Südkoreaner
Kim Ki-duk in "SPRING, SUMMER, FALL, WINTER ... AND SPRING"
auseinander. Idyllisch liegt das Hausboot, das gleichzeitig
das Kloster eines Mönchs und seines Schülers ist,
mitten in einem von Wäldern umgebenen See. Nichts kann
die Ruhe und Harmonie dieses Ortes, der der einzige Schauplatz
ist, stören. Das Ambiente unterscheidet sich durch nichts
von dem in "The Isle", durch den der Südkoreaner
vor drei Jahren berühmt wurde, doch die damals in die
Idylle einbrechende Gewalt, die im Verschlingen von Angelhaken
kulminierte, fehlt hier.
Magische Bilder der aufeinander folgenden Jahreszeiten lassen
den Zuschauer ebenso in diese Welt eintauchen wie der wunderbar
ruhige Erzählrhythmus. Entsprechend dem Titel gliedert
sich der Film in fünf Kapitel, jedes wird mit einer sich
öffnenden Tür eingeleitet und jede Jahreszeit steht
für einen Lebensabschnitt. Langsam reift der Mensch,
überwindet die Gewalttätigkeit der Kindheit und
das sexuelle Verlangen der Jugend. Für seine Vergehen
freilich muss er büssen, bevor er im Alter zu Ruhe und
Gelassenheit findet.
Ganz von seinen Bildern und Stimmungen lebt Kim Ki-duks
Film, die Dialoge sind auf ein Minimum reduziert. Mögen
sich auch buddhistische Symbole wie die hier auftauchenden
Tiere (Schlange, Schildkröte, Fisch und Frosch) für
den westlichen Zuschauer kaum erschließen lassen, so
wird er dennoch durch die formale und inhaltliche Geschlossenheit
in den Bann dieses ruhigen Films gezogen.
Chaos regiert dagegen in Barbara Alberts "BÖSE
ZELLEN", die sich in ihrem zweiten Spielfilm auf Edward
Lorenz´ Chaostheorie stützt. Der Flügelschlag
eines Schmetterlings löst einen Tornado über dem
Golf von Mexiko aus, der wiederum einen Flugzeugabsturz nach
sich zieht. Nur die 24jährige Manu überlebt die
Katastrophe, kommt aber 6 Jahre und 15 Filmminuten später
bei einem Autounfall in ihrer niederösterreichischen
Heimat ums Leben. Jedes Ereignis hat aber Auswirkungen auf
andere Personen und so verknüpft Albert mittels einer
komplexen Montage Manus Schicksal mit dem ihres Mannes, ihrer
fünfjährigen Tochter, ihrem Bruder, ihren Freundinnen
und den Insassen des Autos, mit dem sie kollidierte. Nicht
linear wird hier erzählt, sondern im Stil von P.T. Andersons
"Magnolia" entwickelt Albert ein dichtes, aber trotz
der Fülle immer übersichtliches Geflecht von Personen
und Schicksalen und springt kaleidoskopartig von einer Szene
zur nächsten. Verbunden sind die Figuren durch die Suche
nach Glück und Sicherheit in einer aus den Fugen geratenen
Welt, in diesem stets vom Tod bedrohten unberechenbaren Leben.
Die einen suchen Zuflucht in spiritistischen Sitzungen, andere
in psychotherapeutischen Familienaufstellungen, in der Religion,
bei Gewinnspielen oder bei einer TV-Talkshow, in der die Gäste
öffentlich ihre Fehler bekennen.
Auf Antworten verzichtet die österreichische Regisseurin,
unheimliche Stimmung und ein Gefühl einer höheren
Macht ausgeliefert zu sein wird evoziert, wenn die Kamera
wie in einem Horrorfilm immer wieder aus der Vogelperspektive
auf die Figuren blickt - gleichsam die Perspektive einer höheren
Macht übernimmt - und die Menschen eingesperrt und machtlos
dem Schicksal unterworfen scheinen.
Nicht weniger schonungslos als Ulrich Seidl blickt Albert
in die Abgründe der menschlichen Seelen, doch den Gemeinheiten
und Brutalitäten stehen immer wieder Momente der Zärtlichkeit
gegenüber und am Ende stehen vorsichtige neue Anfänge.
Auch im Bosnien der Nachkriegszeit herrschen keinesfalls
geordnete Verhältnisse. Doch um bei einem Besuch Bill
Clintons einen guten Eindruck zu machen und somit eventuell
finanzielle Unterstützung zu erhalten, müssen in
Pjer Zalicas "GORI VATRA" in Windeseile alle Missstände
beseitigt und eine mustergültige Demokratie installiert
werden. Wenn es ums Geld geht - oder westliche "Pampers"
dafür herausspringen - können sich auch bosnische
und serbische Feuerwehrleute zur Zusammenarbeit durchringen.
Aus den Prostituierten werden Revuetänzerinnen und auch
der Bürgermeister der serbischen Nachbargemeinde stellt
gegen finanzielle Versprechungen Gemeindemitglieder für
einen multikulturellen Chor ab. Manchmal böse, aber dann
auch wieder melancholisch, jedenfalls immer sehr unterhaltsam
erzählt der Bosnier diese menschliche Komödie, in
der das Geld wichtiger als alle Ideologien ist.
Um Geschäftemacherei geht es auch in der absurden argentinischen
Komödie "LOS GUANTES MÁGICOS" ("Die
magischen Handschuhe"). Zufällig kommt der Taxifahrer
Alejandro, den seine depressive Freundin soeben verlassen
hat, in Kontakt mit einer Stewardess, einem Rockmusikproduzenten
und einem Pornodarsteller. Finanziell geht es ihnen allen
nicht wirklich schlecht und so leben sie in den Tag hinein
und warten auf eine Veränderung, die von außen
kommen soll. Großen Gewinn erhoffen sie schließlich
durch den Handel mit magischen Handschuhen zu machen.
Ganz vom trockenen Ton, mit dem hier absurde Situationen
erzählt werden, und der genauen Zeichnung der sonderbaren
Figuren lebt Martin Rejtmans dritter Spielfilm. Doch der Blick
auf die Personen entpuppt sich auch als Blick auf das in die
Wirtschaftskrise geratene Land: Wie Alejandros Fahrten im
Grunde nirgends hin führen, so scheint sich auch Argentinien
insgesamt in einer Kreisbewegung zu befinden.
Walter Gasperi
Die Gewinner der Leoparden finden Sie auf der Website des
Festivals www.pardo.ch
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