Der Blick in die Ferne öffnet sich in der Alpenstadt
Innsbruck kaum, eingeschränkt wird die Sicht durch die
umliegenden Berge wie Serles, Patscherkofel und Nordkette
und auch der vor jedem Film gezeigte Werbeclip des Tiroler
Tourismusverbandes betont mit Flugaufnahmen von Schluchten,
Wasserfällen, schneebedeckten Gipfeln und einem majestätisch
dahingleitenden Adler die Schönheit des "Landes
im Gebirg´".
In starkem Kontrast zu diesem Ambiente stehen - auch wenn
den tadschikischen Regisseur Djamshed Usmonov Innsbruck an
seine Heimat erinnert - die Festivalfilme. Karge Wüstenlandschaften
und farbenprächtige Gewänder machen sofort deutlich,
dass hier andere Welten im Mittelpunkt stehen.
Glücklich freilich sind die Menschen in diesen Filmen
nur selten, meist streben sie wie im bestechend fotografierten
"Heremakono" des Mauretaniers Abderrahmane Sissako
nach einem Ausbruch aus ihrer Umwelt. Nicht nur der seiner
Kultur schon entfremdete, sich auf seine endgültige Abreise
nach Europa vorbereitende Abdallah, sondern auch der einheimische
Makan, eine aus China immigrierte Karaoke-Sängerin oder
der alte Elektriker Maat und sein jugendlicher Gehilfe sehnen
sich nach einer Veränderung. Ihr Aufenthalt ist entsprechend
der Übersetzung des Titels ein "Warten auf das Glück".
Durchgehende Geschichte ergibt sich keine, aber wie bei einem
Puzzle fügen sich die einzelnen Momentaufnahmen zu einem
beschaulichen, aber intensiven Stimmungsbild, bei dem die
Trennlinie zwischen Meer und Strand immer auch für die
Grenze, an der sich die Figuren befinden, steht - die Grenze
zwischen dem Hier und dem Dort.
Im Gegensatz zu diesem Wunsch nach Veränderung steht
das Schicksal der Mädchen eines tunesischen Dorfes, die
in Nouri Bouzids mit dem Filmpreis des Landes Tirol ausgezeichneten
"Arais Al-Tein" ("Lehmpuppen") gegen ihren
Willen aus ihrer Welt heraus gerissen werden. Ein besseres
Leben möchten die Eltern ihren Kindern ermöglichen
und übergeben sie deshalb dem ehemaligen Hausangestellten
Omrane, der sie in der Metropole Tunis an die Oberschicht
als Hilfskräfte vermittelt. Omrane erscheint dabei keineswegs
als Ausbeuter, sondern ist ebenso wie die kleine Feddah, deren
zu früher Verlust der Kindheit sich im Spiel mit Lehmpuppen
äußert, und die schon vor Jahren von ihm nach Tunis
gebrachte, inzwischen erwachsene Rebeh ein Opfer. Einfühlsam
gelingt es Bouzid unterstützt von seinen drei großartigen
Hauptdarstellern zu vermitteln, wie verloren diese entwurzelten
Figuren in der anonymen Großstadt sind: Das Fehlen von
sozialen Beziehungen scheint geradezu zwingend Verzweiflung
und Einsamkeit nach sich zu ziehen.
Von sich aus den Aufbruch in eine fremde Welt wagt die algerischstämmige
Französin Yasmine in Merzak Allouaches "L´Autre
Monde". Auf der Suche nach ihrem verschollenen Verlobten
begibt sich die junge Frau von Paris in das am Gegensatz von
Moderne und Fundamentalismus schier zerbrechende Algerien.
Je weiter Yasmine bei dieser Suche - dramaturgisch nicht unbedingt
glaubwürdig - in Wüstenregionen vordringt, desto
tiefer wird sie in die Auseinandersetzungen zwischen staatlichen
Truppen und Fundamentalisten hineingezogen, lernt die Gewalt
und die Brutalität, mit der dieser Kampf geführt
wird, am eigenen Leib kennen. Packend ist "L´Autre
Monde" vor allem in der nüchternen und fast dokumentarischen
Inszenierung der ersten Kontakte der Französin mit der
fremden Welt. Spätestens wenn die Hauptfigur aber in
einem einsamen Wüstenbordell ihren Verlobten findet,
wendet sich Allouache von jedem Realismus ab und bedient sich
einer überhöhten und metaphernreichen Erzählweise,
die dem Sujet kaum angemessen ist und dem Film seine Kraft
raubt.
Aus der heilen indischen Familienwelt in den Bürgerkrieg
auf Sri Lanka werden wiederum die Protagonisten in Mani Ratnams
"A Peck on the Cheek" hineingezogen, als sie beschließen
mit ihrer adoptierten neunjährigen Tochter deren leibliche
Mutter zu suchen. Kläglich gescheitert ist dieser Versuch
ein politisch brisantes Thema mit den Mitteln des Bollywood-Kinos
zu erzählen. Gegen populäres Kino der großen
Emotionen gibt es nichts einzuwenden, fragwürdig ist
es aber, eine aktuelle Problematik und bittere Kriegswirren
schamlos für rührseliges und äußerst
oberflächliches Entertainment zu missbrauchen.
Wesentlich überzeugender und einfühlsamer macht
Rashid Masharawi in "Ticket to Jerusalem" den Zuschauer
mit den schwierigen Lebensbedingungen in der von Israel besetzten
Westbank vertraut. Mit einem klapprigen Jeep transportiert
Jaber seinen Filmprojektor an Straßensperren vorbei
durch die Region und organisiert Vorführungen für
Kinder. In den Fahrten öffnet sich dabei einerseits ein
ungeschminkter, dokumentarischer Einblick in das Alltagsleben
der Palästinenser, andererseits ist Masharawi aber auch
eine berührende Reflexion über die Funktion des
Kinos gelungen, die Erinnerungen an Preston Sturges´
"Sullivan´s Travels" weckt. Jabers Filme bereiten
gerade in dem von politischer Unsicherheit und Spannungen
sowie von Arbeitslosigkeit bestimmten Alltag der Palästinenser
nicht nur den Kindern wenigstens einige glückliche und
unbeschwerte Stunden.
Solche Glücksmomente vermochten in Innsbruck den Zuschauern
auch drei kleine, ganz private Filme zu bescheren. Gar keine
Geschichte erzählen will beispielsweise der 23jährige
Argentinier Luis Ortega in "Caja Negra". Mit dokumentarischem
Blick beobachtet er die junge Dorotea, die sich einerseits
um ihre 100jährige Großmutter, andererseits auch
um ihren ebenso zerbrechlichen wie zerbrochenen und eingefallenen,
soeben aus dem Gefängnis entlassenen Vater kümmert.
Alle drei Personen begegnen sich erst am Ende des Films, dazwischen
ist Dorotea das einzige Bindeglied. Auf jede Dramatisierung
verzichtet der Argentinier und auch gesprochen wird nicht
viel. Ortega zeigt nur alltägliche Verrichtungen, kleine
Gesten und gemeinsame Mahlzeiten, doch im genauen und zärtlichen
Blick auf diese Menschen gewinnen die liebevollen zwischenmenschlichen
Zuwendungen Gewicht, erscheinen als einzige Freuden in einem
von Beziehungslosigkeit und Kälte gekennzeichneten trostlosen
Alltag.
Einfach, aber wunderbar geschlossen ist auch die Geschichte
von Yusup Razykovs "Dilhiroj" ("Men´s
Dance"). Am Beginn prophezeit die Großmutter ihrer
kleinen Enkelin Sanam die Hochzeit und am Ende wird dieses
Fest gefeiert. Razykov erzählt diese usbekische Dorfgeschichte
nicht nur einfalls- und wendungsreich, sondern bettet sie
auch geschickt in die Schilderung des Alltagslebens ein. Spürbar
und ansteckend ist dabei in jeder Szene das Vergnügen,
das die Produktion dieses Films allen Beteiligten bereitet
haben muss.
Prächtig gezeichnete Typen und die genaue Schilderung
des dörflichen Lebens zeichnen auch Djamshed Usmonovs
"Farishtay Kifti Rost" ("Angel on the Right")
aus. Nur um seine scheinbar todkranke Mutter zu bestatten
und mit dem Erbe seine Schulden zu tilgen, kehrt Khamro nach
10 Jahren Abwesenheit in sein Heimatdorf zurück. Doch
die Dinge verlaufen in dieser mit trockenem Humor erzählten
Komödie anders als sich Khamro das vorstellte: Die Mutter
stirbt nicht, dafür beauftragen ihn die Dorfbewohner
sich endlich um seinen Sohn, von dessen Existenz er bisher
nichts wusste, zu kümmern. - Der Schock sitzt tief und
Khamro muss erst langsam lernen Verantwortung zu übernehmen.
Walter Gasperi
|