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15.05.2003
 
 
       

New Yorker Nachtlieder und Predigten
Integrität, Freiraum, Ironie und tiefere Bedeutung: Neuere Tendenzen im Kino Spike Lees

 
 
Spike Lee (re.) mit Ed Norton und Rosario Dawson
   
 
 
 
 

"Fuck you!" - Iren, Juden, Puertoricaner, Schwarze, pakistanische Taxifahrer, weiße Basketballer, Priester, Jesus Christus, Osama Bin Laden - sie alle und viele andere, und vor allem Monty Brogan selbst trifft dieser Fluch vor dem Spiegel, der klingt wie eine Hymne, der mehr denn alles eine Liebeserklärung ist an den Melting Pot New York; ein, wenn nicht der Höhepunkt von Spike Lees neuestem Film.
Die 25te Stunde nähert sich unaufhaltsam für Monty Brogan. Dann, am nächsten Morgen muss er, als Drogendealer kein ganz kleiner Fisch, für sieben Jahre in den Knast. Wenn er einst wieder herauskommt, wird nichts, auch er selbst, mehr so sein, wie zuvor. Diese 25te Stunde (nicht 25 STUNDEN, wie der deutsche Unsinnstitel für 25th HOUR lautet), beschreibt schon gestundete, überzählige Zeit. Noch einmal geht Monty mit seinem Hund durch die Straßen seines Viertels in Manhattan, wohlhabend sieht es aus, in den Cafés sitzen gutgelaunte Menschen. Man folgt einem Besuch in der alten Schule, dem Treffen mit einem Freund, dann mit Montys schöner Lebensgefährtin Naturelle, mit dem Vater in dessen irischer Kneipe, dann, später wieder mit seinen zwei besten Freunden von früher, einem Lehrer und einem Börsenmakler. Es könnte dies die Beschreibung eines unbeschwerten Tages sein, doch jedes dieser Treffen ist ein Abschied. Es wird Nacht über der Stadt, und Nacht über dem Leben von Monty Brogan. So wie Monty geht es auch der Stadt New York nach dem 11. September: Ein Leben, das scheinbar äußerlich so weiter geht, wie zuvor, doch die Koordinaten haben sich unumkehrbar verändert. Und wenn das Leben trotzdem so weitergeht, ist das erst einmal eine Schockreaktion.

New York ist schon immer das Thema Spike Lees gewesen. Wie neben ihm nur Martin Scorsese ist Lee der Chronist dieses Babylon unserer Epoche, und dabei, wie Monty Brogan, dessen heftigster Ankläger und glühendster Verteidiger zugleich. Man weiß nicht, was für einen Film Lee gedreht hätte ohne die Terroranschläge aufs World Trade Center. Aber das ist auch egal, denn es ist genau diese Post-11.September-Atmosphäre, die Lee David Benioffs Romanvorlage hinzufügte: Die Tristesse und der Wunsch zum Bilanzieren, die den Film durchziehen, gelten nicht allein der Figur Monty; es wird hier ein allgemeines Lebensgefühl des Augenblick etabliert. Die Zeichen sind nicht übersehbar. Schon im Vorspann zeigte der Regisseur eindrücklich die riesige Lichtinstallation, die die Konturen des verschwundenen World Trade Center für einige Wochen noch einmal in den Himmel wachsen liessen, man entdeckt Verweise auf die gestorbenen Feuerwehrleute, blickt von oben auf Ground Zero. Untermalt von eindringlicher Musik ist "25th Hour" eine New-York-Nocturne, ein Traumstück, das Anspielungen auf Western und Film Noir zu einer hymnischen Liebeserklärung an die Stadt verschmelzen lässt, dabei Wunden nicht maskiert. Damit wird 25th HOUR zum vorläufigen Höhepunkt in einer Entwicklung, die Spike Lees Filme in den letzten Jahren von seinem früheren Werk weg und über es hinaus führte, und den einstigen Repräsentanten des schwarzen Undergroundkinos zu einem der ganz wenigen repräsentativen US-amerikanischen Filmemacher werden ließ.


Politische und ästhetische Zumutung

In seinen früheren Filmen neigte Spike Lee sehr zum Thesenhaften. Ein Moralist, der in den besten Momenten an die trotz allem differenzierten Melodramen Elia Kazans, in schwachen Stunden an die Simplizität politischer Manifeste erinnernd, eines immer wusste: Wo die Wahrheit liegt. Die Selbstgewissheit war immer die Schwäche seines Kinos, noch wo es am eindringlichsten war, wie im Brooklyn-Straßen-Drama DO THE RIGHT THING. Lees Filme waren eine nahezu ironiefreie Zone und damit auch ohne Selbstkritik, sein Humor, wo es ihn denn gab, illustrierte nur das Freund-Feind, Gut-Böse-Schema der Weltsicht des Regisseurs, in der schwarze Unterprivilegierte als tapfere Idealisten sich selbst treu bleiben, auch wo sie an einer bösen Welt zugrunde gehen.

Wer sich das Lehrstück MALCOLM X wieder einmal ansieht, wird leicht erkennen, wie angestaubt es schon nach zehn Jahren über weite Strecken wirkt, wie sehr Lee hier die Fabel eines zum politischen Heiland idealisierten rein positiven Helden erzählt, und alle fragwürdigen Seiten aus der historischen Realität des Malcolm X und seines Umfeldes herausglättet. Lee verband sein sensibles Sensorium für Popkultur und die Gutgelauntheit der - gern von Weißen goutierten - Musik und Lebensstile der Schwarzen in SHE'S GOT TO HAVE IT oder JUNGLE FEVER immer mit einer moralischen Eindeutigkeit, die neben der politischen auch immer eine ästhetische Zumutung enthielt.
Das alles hatte unbestreitbare Stärken und historisch enorme Bedeutung, mochte wohl auch einer politisch-sozialen Situation angemessen sein, in der der postmoderne Relativismus des New Historicism den kraftvollen Strom der politischen Schwarzenbewegung in den 80er und frühen 90er Jahren endgültig in so universalem wie folgenlosem, oft auch allzu gönnerhaftem Verständnis für Ethnizität versickern ließ, und alte wie Neue Linke und liberale Bürgerbewegung sich in den Ritualen der "Political Correctness" selbst zerfleischten, während die US-Neokonservativen triumphierten. Lee wirkte hier als ein Spaßverderber, und in der Gutgelauntheit der von New Economy und der Entdeckung der "Spaßgesellschaft" geprägten 90er ging er damit plötzlich vielen, nicht zuletzt in Deutschland auf die Nerven.

Man muss nur einmal die Kritiken des letzen Jahrzehnts Revue passieren lassen, um zu sehen, dass Spike Lees Filme immer gern verrissen und auch in deutschen Medien mit einer Strenge beurteilt werden, die man gegenüber Kritiker-Darlings wie zum Beispiel Paul Thomas Anderson oder Aki Kaurismäki, die einen mit politischen Zumutungen fast völlig verschonen, und es lieber mit unverbindlich-allgemeiner Menschenliebe halten, so gut wie nie an den Tag legt. Längst ist es zum Klischee erstarrt, Lee sei ein schwarzer Schulmeister, der seinem Publikum die immer gleichen simplen, dabei längst gelernten Lektionen einbläuen möchte, und an alten Feindbildern festhält, statt neue Ansätze zu entwickeln.

Nun mag das wie gesagt sogar eine Weile zugetroffen haben, wenn es auch nie das Einzige war, was sich über sein Werk sagen ließ. Aber wenn schon, dann müssten solche Vorwürfe auch den frühen, heißgeliebten Filmen Lees gelten, nicht nur CROOKLYN und CLOCKERS, HE GOT GAME und MALCOLM X.


Die Integrität und ihr Preis

Mit SUMMER OF SAM (2000), ein Jahr später BAMBOOZLED und jetzt 25th HOUR vollzieht Lee freilich schon seit drei Jahren einen so überraschenden wie faszinierenden künstlerischen Perspektivenwechsel, der zugleich unübersehbar auch eine Selbstbefragung und -vergewisserung des Regisseurs in der Mitte seines Lebens bedeutet.

Das verbindende Thema aller drei Filme ist die Frage nach der Integrität und ihrem Preis. Sie wird in den einzelnen Werken sexuell (SUMMER OF SAM), ethnisch (BAMBOOZLED) oder moralisch (25th HOUR) ausbuchstabiert, und mündet jeweils in ein kathartisches Ereignis: die Prügelei zwischen zwei Jugendfreunden, die Ermordung einer Hauptfigur, die sich im besten Wissen korrumpieren ließ, und der 25ten Stunde, dem Traum Montys, in der sich in der Möglichkeit eines ganz anderen Lebens das eigene, missglückte spiegelt.
In allen drei Filmen begegnet man Figuren, die moralisch fragwürdige Dinge tun, ohne das ihr Regisseur den Stab über ihnen bricht. Lees neue Helden haben eine Wahl. Sie sind keine Gefangenen ihres Milieus, ihrer Herkunft. So sehr sie dies auch prägen mag - es bleibt doch ein Freiraum, zwischen ihnen und der Gruppe mit ihrer Tradition, und deswegen können sie diese auch nicht verraten, sondern nur sich selbst.

Ausgerechnet zu einer Zeit, da sich in Amerika die Stimmen mehren, die ein "Ende der Ironie" verlangen, in denen - auch schon vor dem 11.9.2001 - Intellektuelle, die nicht in den quasireligiösen Chorgesang von Ernst und Patriotismus und die neue Eucharistiefeier "amerikanischer Tugenden" einstimmen mögen, entdeckt nun Spike Lee die Ironie. Zwar nur sachte, immer mit Rücksicht auf die Einsicht, dass, wie er in Interviews ausführt, Genozid und Sklaverei als wesentliche Bestandteile der US-Geschichte von ihr untrennbar sind, aber unverkennbar. Vor allem SUMMER OF SAM und BAMBOOZLED in seiner doppelten Ironie waren witzige, scharfe Satiren. Freilich sind Lees Witze gerade nicht jene freundlichen Seitenhiebe, die man normalerweise im Kino gewohnt ist. Schon eher handelt es sich um Gradwanderungen a la Harald Schmidt, die vielleicht subversiv sind, vielleicht aber auch nur einfach geschmacklos, und an denen genau diese Unsicherheit das interessanteste ist.

Spike Lees grandioses 70er-Jahre Panorama SUMMER OF SAM geht zurück in den Sommer 1977 - das Jahr in dem Lees Mutter starb und er als Filmemacher begann: Es ist heiß, die New York Yankees gewinnen einmal mehr die "World Series" und der "44 Killer" geht um, ein brutaler Serienmörder, der sich selbst "Son of Sam" nennt und es hauptsächlich auf dunkelhaarige Frauen oder Liebespaare in Autos abgesehen hat. Vor diesem Hintergrund erzählt Lee anhand des italoamerikanischen Freundespaares Vinnie und Ritchie vom Neben- wie Gegeneinander von Disco- und Punk-Szene, von den Zwängen des katholischen Milieus und den unterschiedlichen Heimlichkeiten der beiden Freunde. Während Vinnie, die realistische, düster-hässliche Ausgabe der Disco-Ikone John Travolta/Tony Manero aus SATURDAY NIGHT FEVER hemmungslos fremdgeht, und auch sonst alles falsch macht, bleibt er doch integriert, verlässt noch in seinen Fehlern nicht den moralischen Radius seines Herkunftsmilieus. Richie hingegen will raus aus Little Italy, kleidet sich in Punk-Outfit inklusive künstlichen Cockney-Akzent und verdingt sich auf dem Männerstrich - so überschreitet er in jeder Hinsicht die Grenzen seiner Herkunft, auch im moralischen Sinn.

BAMBOOZLED schildert die kühle Karriere eines TV-Machers und die stupiden Produktionsbedingungen der Medienwelt. Die Voraussetzung der Karriere der schwarzen Hauptfigur ist Überanpassung an Denken und Lebensstil des liberalen weißen Establishments. Trotzdem ist dieser Opportunist nie wirklich unsympathisch, zu gut versteht man ihn, versteht den Druck dem er ausgesetzt ist. In 25th HOUR ist das moralische Wagnis des Regisseurs noch größer, schließlich stellt er eine Kriminellen ins Zentrum, zeigt durchaus dessen Härte, auch das kitschige Pathos, in das er sich mitunter flüchtet, aber eben auch die wirkliche Verwundbarkeit dahinter.

Natürlich ist unübersehbar, dass sich Spike Lee in allen drei Filmen auch aus der ethnischen Fixierung aufs Schwarzen-Ghetto herausbewegt. Einmal taucht er ein in die italoamerikanische Welt des Scorsese-New York, dann jetzt in die Gangsterszenen der Noirs und Neo-Noirs. Und Pierre Delacroix, die Hauptfigur von BAMBOOZLED ist zwar ein Schwarzer, aber eben einer, der sich in der allerersten Szene des Films sein Gesicht weiß färbt (wenn auch nur, um sich zu rasieren) - eine sarkastische Metapher, dafür, dass er eben ein "weißer Schwarzer" ist, aber auch eine ironische Anspielung auf das "Blackface", das sich später schwarze Schauspieler mit dicker Paste anschminken, um dem Stereotyp vom dummen Neger noch näher zu kommen. So stellt Lees Kino auch im Hinblick auf Identität und Selbstverhältnis Fragen nach Moral und Verrat, Grenzüberschreitung und unterschwelliger Gewalt. Lees eigene Position bleibt dabei so uneindeutig, wie die moralische Ambivalenz der Charaktere. Es gibt keine klare Antwort, wo mögliche Integrität liegt, wie denn, wenn Identität zu nichts mehr verpflichtet, eine moderne hybride Identität, aussehen könnte.

Der Schrecken ist in diesen Filmen immer präsent, aber er wird nicht als politische Katastrophe verstanden, sondern als private, moralische, die jederzeit auch eine Chance zu Veränderung enthält. Schuld und Sühne. Es ist immer klar, wo gut und böse verläuft, aber der Regisseur urteilt nicht mehr, er zeigt. Man kann vor sich selbst nicht weglaufen, zeigt uns Lee, beschreibt Ambivalenzen und individuelle Dilemmata, appelliert ans Verständnis, versucht zu verzeihen und Grenzen aufzuweichen. Fast wirkt der Monty Ed Nortons wie ein Erlöser, denn auch er feiert ein letztes Abendmahl im Kreise seiner Freunde, auch er weiß dass einer unter ihnen sein muss, der ihn verraten hat.

Seine letzten drei Filme sind die am wenigsten thesenhaften seines Werks. Und das manchmal martialische Pathos Lees ist fast völlig verschwunden. Stattdessen erlebt man einen ganz neuen Spike Lee: gelassen, mit sehr genauem Blick für Personen und Milieus, mit Interesse am Episodenhaften, und kleinen Randereignissen, voller visueller und dramaturgischer Intelligenz. Mit allen drei Filmen gelingen ihm prägnant erzählte, reife Zeitportraits, kluge politische Parabeln über soziale Antagonismen, Integrations- und Ausschlussmechanismen im heutigen Amerika.

Im Ton erinnern diese neuen Filme mehr als an die politischen Manifeste von einst, an Predigten: Sie appellieren, reden den Zuschauer-Individuen ins Gewissen. Im Gegensatz zu einem Film wie MALCOLM X nimmt Lee nun seine Figuren auch als Sünder ernst, und nähert sich den Abgründen ihrer Seele. Und was predigt Lee? Letztendlich die Liebe zum Leben. Gerade im Angesicht des realen oder sozialen Todes - der allen diesen Hauptfiguren widerfährt - zeigt er seine Charaktere in, die Probleme von Rasse, Herkunft und Milieu übersteigenden, existentiellen Momenten: Siehe, ein Mensch.

Rüdiger Suchsland

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