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"Fuck you!" - Iren, Juden, Puertoricaner, Schwarze,
pakistanische Taxifahrer, weiße Basketballer, Priester,
Jesus Christus, Osama Bin Laden - sie alle und viele andere,
und vor allem Monty Brogan selbst trifft dieser Fluch vor
dem Spiegel, der klingt wie eine Hymne, der mehr denn alles
eine Liebeserklärung ist an den Melting Pot New York;
ein, wenn nicht der Höhepunkt von Spike Lees neuestem
Film.
Die 25te Stunde nähert sich unaufhaltsam für Monty
Brogan. Dann, am nächsten Morgen muss er, als Drogendealer
kein ganz kleiner Fisch, für sieben Jahre in den Knast.
Wenn er einst wieder herauskommt, wird nichts, auch er selbst,
mehr so sein, wie zuvor. Diese 25te Stunde (nicht 25 STUNDEN,
wie der deutsche Unsinnstitel für 25th
HOUR lautet), beschreibt schon gestundete, überzählige
Zeit. Noch einmal geht Monty mit seinem Hund durch die Straßen
seines Viertels in Manhattan, wohlhabend sieht es aus, in
den Cafés sitzen gutgelaunte Menschen. Man folgt einem
Besuch in der alten Schule, dem Treffen mit einem Freund,
dann mit Montys schöner Lebensgefährtin Naturelle,
mit dem Vater in dessen irischer Kneipe, dann, später
wieder mit seinen zwei besten Freunden von früher, einem
Lehrer und einem Börsenmakler. Es könnte dies die
Beschreibung eines unbeschwerten Tages sein, doch jedes dieser
Treffen ist ein Abschied. Es wird Nacht über der Stadt,
und Nacht über dem Leben von Monty Brogan. So wie Monty
geht es auch der Stadt New York nach dem 11. September: Ein
Leben, das scheinbar äußerlich so weiter geht,
wie zuvor, doch die Koordinaten haben sich unumkehrbar verändert.
Und wenn das Leben trotzdem so weitergeht, ist das erst einmal
eine Schockreaktion.
New York ist schon immer das Thema Spike Lees gewesen. Wie
neben ihm nur Martin Scorsese ist Lee der Chronist dieses
Babylon unserer Epoche, und dabei, wie Monty Brogan, dessen
heftigster Ankläger und glühendster Verteidiger
zugleich. Man weiß nicht, was für einen Film Lee
gedreht hätte ohne die Terroranschläge aufs World
Trade Center. Aber das ist auch egal, denn es ist genau diese
Post-11.September-Atmosphäre, die Lee David Benioffs
Romanvorlage hinzufügte: Die Tristesse und der Wunsch
zum Bilanzieren, die den Film durchziehen, gelten nicht allein
der Figur Monty; es wird hier ein allgemeines Lebensgefühl
des Augenblick etabliert. Die Zeichen sind nicht übersehbar.
Schon im Vorspann zeigte der Regisseur eindrücklich die
riesige Lichtinstallation, die die Konturen des verschwundenen
World Trade Center für einige Wochen noch einmal in den
Himmel wachsen liessen, man entdeckt Verweise auf die gestorbenen
Feuerwehrleute, blickt von oben auf Ground Zero. Untermalt
von eindringlicher Musik ist "25th Hour" eine New-York-Nocturne,
ein Traumstück, das Anspielungen auf Western und Film
Noir zu einer hymnischen Liebeserklärung an die Stadt
verschmelzen lässt, dabei Wunden nicht maskiert. Damit
wird 25th HOUR zum vorläufigen Höhepunkt in einer
Entwicklung, die Spike Lees Filme in den letzten Jahren von
seinem früheren Werk weg und über es hinaus führte,
und den einstigen Repräsentanten des schwarzen Undergroundkinos
zu einem der ganz wenigen repräsentativen US-amerikanischen
Filmemacher werden ließ.
Politische und ästhetische Zumutung
In seinen früheren Filmen neigte Spike Lee sehr zum
Thesenhaften. Ein Moralist, der in den besten Momenten an
die trotz allem differenzierten Melodramen Elia Kazans, in
schwachen Stunden an die Simplizität politischer Manifeste
erinnernd, eines immer wusste: Wo die Wahrheit liegt. Die
Selbstgewissheit war immer die Schwäche seines Kinos,
noch wo es am eindringlichsten war, wie im Brooklyn-Straßen-Drama
DO THE RIGHT THING. Lees Filme waren eine nahezu ironiefreie
Zone und damit auch ohne Selbstkritik, sein Humor, wo es ihn
denn gab, illustrierte nur das Freund-Feind, Gut-Böse-Schema
der Weltsicht des Regisseurs, in der schwarze Unterprivilegierte
als tapfere Idealisten sich selbst treu bleiben, auch wo sie
an einer bösen Welt zugrunde gehen.
Wer sich das Lehrstück MALCOLM X wieder einmal ansieht,
wird leicht erkennen, wie angestaubt es schon nach zehn Jahren
über weite Strecken wirkt, wie sehr Lee hier die Fabel
eines zum politischen Heiland idealisierten rein positiven
Helden erzählt, und alle fragwürdigen Seiten aus
der historischen Realität des Malcolm X und seines Umfeldes
herausglättet. Lee verband sein sensibles Sensorium für
Popkultur und die Gutgelauntheit der - gern von Weißen
goutierten - Musik und Lebensstile der Schwarzen in SHE'S
GOT TO HAVE IT oder JUNGLE FEVER immer mit einer moralischen
Eindeutigkeit, die neben der politischen auch immer eine ästhetische
Zumutung enthielt.
Das alles hatte unbestreitbare Stärken und historisch
enorme Bedeutung, mochte wohl auch einer politisch-sozialen
Situation angemessen sein, in der der postmoderne Relativismus
des New Historicism den kraftvollen Strom der politischen
Schwarzenbewegung in den 80er und frühen 90er Jahren
endgültig in so universalem wie folgenlosem, oft auch
allzu gönnerhaftem Verständnis für Ethnizität
versickern ließ, und alte wie Neue Linke und liberale
Bürgerbewegung sich in den Ritualen der "Political
Correctness" selbst zerfleischten, während die US-Neokonservativen
triumphierten. Lee wirkte hier als ein Spaßverderber,
und in der Gutgelauntheit der von New Economy und der Entdeckung
der "Spaßgesellschaft" geprägten 90er
ging er damit plötzlich vielen, nicht zuletzt in Deutschland
auf die Nerven.
Man muss nur einmal die Kritiken des letzen Jahrzehnts Revue
passieren lassen, um zu sehen, dass Spike Lees Filme immer
gern verrissen und auch in deutschen Medien mit einer Strenge
beurteilt werden, die man gegenüber Kritiker-Darlings
wie zum Beispiel Paul Thomas Anderson oder Aki Kaurismäki,
die einen mit politischen Zumutungen fast völlig verschonen,
und es lieber mit unverbindlich-allgemeiner Menschenliebe
halten, so gut wie nie an den Tag legt. Längst ist es
zum Klischee erstarrt, Lee sei ein schwarzer Schulmeister,
der seinem Publikum die immer gleichen simplen, dabei längst
gelernten Lektionen einbläuen möchte, und an alten
Feindbildern festhält, statt neue Ansätze zu entwickeln.
Nun mag das wie gesagt sogar eine Weile zugetroffen haben,
wenn es auch nie das Einzige war, was sich über sein
Werk sagen ließ. Aber wenn schon, dann müssten
solche Vorwürfe auch den frühen, heißgeliebten
Filmen Lees gelten, nicht nur CROOKLYN und CLOCKERS, HE GOT
GAME und MALCOLM X.
Die Integrität und ihr Preis
Mit SUMMER OF SAM (2000), ein Jahr später BAMBOOZLED
und jetzt 25th HOUR vollzieht Lee freilich schon seit drei
Jahren einen so überraschenden wie faszinierenden künstlerischen
Perspektivenwechsel, der zugleich unübersehbar auch eine
Selbstbefragung und -vergewisserung des Regisseurs in der
Mitte seines Lebens bedeutet.
Das verbindende Thema aller drei Filme ist die Frage nach
der Integrität und ihrem Preis. Sie wird in den einzelnen
Werken sexuell (SUMMER OF SAM), ethnisch (BAMBOOZLED) oder
moralisch (25th HOUR) ausbuchstabiert, und mündet jeweils
in ein kathartisches Ereignis: die Prügelei zwischen
zwei Jugendfreunden, die Ermordung einer Hauptfigur, die sich
im besten Wissen korrumpieren ließ, und der 25ten Stunde,
dem Traum Montys, in der sich in der Möglichkeit eines
ganz anderen Lebens das eigene, missglückte spiegelt.
In allen drei Filmen begegnet man Figuren, die moralisch fragwürdige
Dinge tun, ohne das ihr Regisseur den Stab über ihnen
bricht. Lees neue Helden haben eine Wahl. Sie sind keine Gefangenen
ihres Milieus, ihrer Herkunft. So sehr sie dies auch prägen
mag - es bleibt doch ein Freiraum, zwischen ihnen und der
Gruppe mit ihrer Tradition, und deswegen können sie diese
auch nicht verraten, sondern nur sich selbst.
Ausgerechnet zu einer Zeit, da sich in Amerika die Stimmen
mehren, die ein "Ende der Ironie" verlangen, in
denen - auch schon vor dem 11.9.2001 - Intellektuelle, die
nicht in den quasireligiösen Chorgesang von Ernst und
Patriotismus und die neue Eucharistiefeier "amerikanischer
Tugenden" einstimmen mögen, entdeckt nun Spike Lee
die Ironie. Zwar nur sachte, immer mit Rücksicht auf
die Einsicht, dass, wie er in Interviews ausführt, Genozid
und Sklaverei als wesentliche Bestandteile der US-Geschichte
von ihr untrennbar sind, aber unverkennbar. Vor allem SUMMER
OF SAM und BAMBOOZLED in seiner doppelten Ironie waren witzige,
scharfe Satiren. Freilich sind Lees Witze gerade nicht jene
freundlichen Seitenhiebe, die man normalerweise im Kino gewohnt
ist. Schon eher handelt es sich um Gradwanderungen a la Harald
Schmidt, die vielleicht subversiv sind, vielleicht aber auch
nur einfach geschmacklos, und an denen genau diese Unsicherheit
das interessanteste ist.
Spike Lees grandioses 70er-Jahre Panorama SUMMER OF SAM geht
zurück in den Sommer 1977 - das Jahr in dem Lees Mutter
starb und er als Filmemacher begann: Es ist heiß, die
New York Yankees gewinnen einmal mehr die "World Series"
und der "44 Killer" geht um, ein brutaler Serienmörder,
der sich selbst "Son of Sam" nennt und es hauptsächlich
auf dunkelhaarige Frauen oder Liebespaare in Autos abgesehen
hat. Vor diesem Hintergrund erzählt Lee anhand des italoamerikanischen
Freundespaares Vinnie und Ritchie vom Neben- wie Gegeneinander
von Disco- und Punk-Szene, von den Zwängen des katholischen
Milieus und den unterschiedlichen Heimlichkeiten der beiden
Freunde. Während Vinnie, die realistische, düster-hässliche
Ausgabe der Disco-Ikone John Travolta/Tony Manero aus SATURDAY
NIGHT FEVER hemmungslos fremdgeht, und auch sonst alles falsch
macht, bleibt er doch integriert, verlässt noch in seinen
Fehlern nicht den moralischen Radius seines Herkunftsmilieus.
Richie hingegen will raus aus Little Italy, kleidet sich in
Punk-Outfit inklusive künstlichen Cockney-Akzent und
verdingt sich auf dem Männerstrich - so überschreitet
er in jeder Hinsicht die Grenzen seiner Herkunft, auch im
moralischen Sinn.
BAMBOOZLED schildert die kühle Karriere eines TV-Machers
und die stupiden Produktionsbedingungen der Medienwelt. Die
Voraussetzung der Karriere der schwarzen Hauptfigur ist Überanpassung
an Denken und Lebensstil des liberalen weißen Establishments.
Trotzdem ist dieser Opportunist nie wirklich unsympathisch,
zu gut versteht man ihn, versteht den Druck dem er ausgesetzt
ist. In 25th HOUR ist das moralische Wagnis des Regisseurs
noch größer, schließlich stellt er eine Kriminellen
ins Zentrum, zeigt durchaus dessen Härte, auch das kitschige
Pathos, in das er sich mitunter flüchtet, aber eben auch
die wirkliche Verwundbarkeit dahinter.
Natürlich ist unübersehbar, dass sich Spike Lee
in allen drei Filmen auch aus der ethnischen Fixierung aufs
Schwarzen-Ghetto herausbewegt. Einmal taucht er ein in die
italoamerikanische Welt des Scorsese-New York, dann jetzt
in die Gangsterszenen der Noirs und Neo-Noirs. Und Pierre
Delacroix, die Hauptfigur von BAMBOOZLED ist zwar ein Schwarzer,
aber eben einer, der sich in der allerersten Szene des Films
sein Gesicht weiß färbt (wenn auch nur, um sich
zu rasieren) - eine sarkastische Metapher, dafür, dass
er eben ein "weißer Schwarzer" ist, aber auch
eine ironische Anspielung auf das "Blackface", das
sich später schwarze Schauspieler mit dicker Paste anschminken,
um dem Stereotyp vom dummen Neger noch näher zu kommen.
So stellt Lees Kino auch im Hinblick auf Identität und
Selbstverhältnis Fragen nach Moral und Verrat, Grenzüberschreitung
und unterschwelliger Gewalt. Lees eigene Position bleibt dabei
so uneindeutig, wie die moralische Ambivalenz der Charaktere.
Es gibt keine klare Antwort, wo mögliche Integrität
liegt, wie denn, wenn Identität zu nichts mehr verpflichtet,
eine moderne hybride Identität, aussehen könnte.
Der Schrecken ist in diesen Filmen immer präsent, aber
er wird nicht als politische Katastrophe verstanden, sondern
als private, moralische, die jederzeit auch eine Chance zu
Veränderung enthält. Schuld und Sühne. Es ist
immer klar, wo gut und böse verläuft, aber der Regisseur
urteilt nicht mehr, er zeigt. Man kann vor sich selbst nicht
weglaufen, zeigt uns Lee, beschreibt Ambivalenzen und individuelle
Dilemmata, appelliert ans Verständnis, versucht zu verzeihen
und Grenzen aufzuweichen. Fast wirkt der Monty Ed Nortons
wie ein Erlöser, denn auch er feiert ein letztes Abendmahl
im Kreise seiner Freunde, auch er weiß dass einer unter
ihnen sein muss, der ihn verraten hat.
Seine letzten drei Filme sind die am wenigsten thesenhaften
seines Werks. Und das manchmal martialische Pathos Lees ist
fast völlig verschwunden. Stattdessen erlebt man einen
ganz neuen Spike Lee: gelassen, mit sehr genauem Blick für
Personen und Milieus, mit Interesse am Episodenhaften, und
kleinen Randereignissen, voller visueller und dramaturgischer
Intelligenz. Mit allen drei Filmen gelingen ihm prägnant
erzählte, reife Zeitportraits, kluge politische Parabeln
über soziale Antagonismen, Integrations- und Ausschlussmechanismen
im heutigen Amerika.
Im Ton erinnern diese neuen Filme mehr als an die politischen
Manifeste von einst, an Predigten: Sie appellieren, reden
den Zuschauer-Individuen ins Gewissen. Im Gegensatz zu einem
Film wie MALCOLM X nimmt Lee nun seine Figuren auch als Sünder
ernst, und nähert sich den Abgründen ihrer Seele.
Und was predigt Lee? Letztendlich die Liebe zum Leben. Gerade
im Angesicht des realen oder sozialen Todes - der allen diesen
Hauptfiguren widerfährt - zeigt er seine Charaktere in,
die Probleme von Rasse, Herkunft und Milieu übersteigenden,
existentiellen Momenten: Siehe, ein Mensch.
Rüdiger Suchsland
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