TEN MINUTES OLDER, der aktuell in unseren Kinos zu sehende
Episodenfilm von Regisseuren wie Aki Kaurismäki oder
Jim Jarmusch, verdeutlicht zum Jahresschluß noch einmal
den Trend, auf den unsere Welt konsequent zusteuert, dem die
populäre Musik schon lange verfallen ist und der sich
nun auch im Film endgültig durchgesetzt hat.
Die Welt rückt zusammen, Peking liegt nur noch einen
Mausklick (bzw. einen Filmschnitt) von Helsinki entfernt,
der Austausch (welcher Art auch immer) zwischen den Ländern
nimmt rapide zu und selbst die fremdartigsten Kulturen werden
uns durch unzählige Reisen und Medienberichte so vertraut
wie die eigene.
Doch die Kunst (damit in unserem Fall auch der Film) überwindet
nicht nur geographische Grenzen, sondern läßt auch
bestehende Barrieren zwischen den Stilen und Genres hinter
sich und macht einem uneingeschränkten "everything
goes", wie auch in TEN MINUTES OLDER zu sehen, Platz.
Unter diesen Vorzeichen steht der folgende, streng subjektive
Rückblick auf das Kinojahr 2002, der manches übersieht
(was durchaus wörtlich zu verstehen ist, denn auch das
Filmangebot war einmal mehr schier grenzenlos) und der sich
auf das Gute, Wahre, Schöne beschränkt und das (vermeintlich)
weniger Gute weitgehend ausgrenzt.
Einer der großen musikalischen Hypes 2002 war der Bastard-Pop,
dessen Ziel darin besteht, Songs, die absolut gar nicht zusammen
passen, zu vermischen.
Auch im Kino gab es ähnliche Tendenzen, weshalb die scheinbar
abwegige Kombination von trockenen Familien- oder Beziehungsdramen
mit Elementen des Krimis oder Thrillers, zu einigen bemerkenswerten
"Bastarden" und zugleich spannendsten Filmen des
Jahres führte. IN THE BEDROOM, THE DEEP END (die mit
Sissy Spacek bzw. Tilda Swinton zwei der weiblichen Schauspiel-Highlights
des Jahres boten), WAHNSINNIG VERLIEBT und LANTANA hießen
die Filme, in denen urplötzlich das Verbrechen in den
beschaulichen Alltag der Menschen einbricht und sie zum Äußersten
treibt.
Einen ähnlichen Ansatz hatte MONSTER'S BALL, nur dass
es hier zusätzlich um die Überwindung von Rassenschranken
ging. Leider schoß der Regisseur Marc Forster dabei
in seiner frohen Botschaft etwas über das Ziel hinaus,
was erneut zeigt, dass weniger manchmal eben mehr ist. Erwähnenswert
bleibt aber (alle Jahre wieder) die schauspielerische Leistung
von Billy Bob Thornton und auch Peter Boyle sei lobend erwähnt.
Die oscarprämierte Darstellung von Halle Berry war mir
dagegen zu bemüht dramatisch.
Dass die Genrevermischung nicht nur bei Dramen funktioniert,
zeigten die Komödien ELLING, SCHIFFSMELDUNGEN und BIRTHDAY
GIRL, wobei die Klassifizierung als Komödie jeweils sehr
weit zu fassen ist. Der Humor dieser Filme ist weniger ein
offensichtlicher, als mehr ein subtiler, abgründiger,
manchmal auch bitterer. Dass die dabei erzählten Geschichten
oft einen sehr ernsten, zum Teil tragischen Hintergrund haben,
erweist sich schnell als zusätzlicher Vorzug, wenn nicht
gar als Voraussetzung für ihr Gelingen.
Die konventionellen Komödien fielen im Vergleich hierzu
weitgehend enttäuschend aus und boten oft nur in wenigen
Szenen bzw. nur durch einzelne Schauspieler gute Unterhaltung,
z.B. mit Jack Black als humoristisches Feigenblatt in SCHWER
VERLIEBT und NIX WIE RAUS AUS ORANGE COUNTY.
Eine der lebhaftesten und menschlichsten Komödien bot
da noch ausgerechnet der Animationsfilm DIE MONSTER AG. Geistreiche,
frische Unterhaltung für jedermann, ohne platt oder gefällig
zu sein. Wirklich kontrovers ist DIE MONSTER AG damit noch
lange nicht, denn selbst ein frecher Disneyfilm liegt immer
noch klar in den Grenzen der allgemeinen Konventionen.
Wo diese Grenzen und die des guten Geschmacks liegen, versuchte
CRIME IS KING auszuloten. Angesiedelt zwischen B-Movies, Actiongemetzel
und zynischer Farce, ist der Film erfrischend unangepasst
und durchgeknallt und zeigt allen halbherzigen Anhängern
der Political Incorrectness, wo der Hammer hängt. Auf
jeden Fall nur was für Liebhaber.
Ähnlich erfolglos und missverstanden wie CRIME IS KING
war ARMY GO HOME!, der zudem unter einer kontraproduktiven
Vermarktung zu leiden hatte. Trotzdem eine hervorragende Militärsatire,
die sich durchaus mit M.A.S.H. und THREE KINGS messen kann.
Einen großartigen und ziemlich ungewöhnlichen
Gangsterfilm britischer Prägung lieferte Jonathan Glazer
mit SEXY BEAST ab. Die gleichermaßen brillanten Schauspieler
Ray Winstone und Ben Kinglsey in einem Zweikampf voller mentaler
Brutalität, in atemberaubenden Bildern festgehalten und
trotz aller Stilisierung fast schon existentiell.
Einen der schönsten "reinsortigen" Genrefilme
drehte der Spanier Alejandro Amenábar auf einer nebelverhangenen
Kanalinsel mit THE OTHERS. Wer es in Zeiten wie diesen wagt,
einen antiquiert wirkenden Gruselfilm ohne augenfällige
technische Spielereien zu drehen und es dabei auch noch schafft,
den an Kannibalen und Weltraummonstern geeichten Zuschauer
in Angst und Schrecken zu versetzen, der verdient meine volle
Anerkennung. In der Hauptrolle Nicole Kidman, die hier ebenso
überzeugt, wie in der bereits erwähnten Komödie
BIRTHDAY GIRL, als gekaufte, russische Braut.
Wirklich jenseits aller Kategorisierung zeigte sich eine
Reihe innovativer, kleiner Filme, die sich ihre Einflüsse
und Bestandteile (etwa Schauspieler, Filmmusik, usw.) auf
der ganzen Welt zusammensuchten und entsprechend universell
gültig waren. On the road hieß dabei in Y TU MAMA
TAMBIEN, 19 oder BLUE MOON einmal mehr die bewährte Devise
und auch 101 REYKJAVIK darf sich zu diesem Kreis zählen,
auch wenn seine Hauptfigur alles andere als unterwegs ist.
Durchgehend von großem Schauwert, technisch beeindruckend,
mit einem hervorragenden Ensemble an Schauspielern und zusätzlich
einer ganz eigener Qualität ausgestattet, waren in 2002:
OCEAN'S 11 (sehr cool), DER PAKT DER WÖLFE (tolle Choreographie),
FROM HELL (morbide Schönheit), PANIC ROOM (perfekt konstruiert),
GOSFORD PARK (messerscharfe Dialoge und Charaktere), DIE ROYAL
TENENBAUMS (äußerst skurril), ALI (perfektes Zeit-
und Lokalkolorit) und SAFECRACKERS (sympathisches Gaunermärchen).
Allesamt weitgehend unterhaltsam, doch zum wirklich nachhaltigen
Film fehlte ihnen das gewisse Extra. Vielleicht lag es ja
daran, dass sich diese Filme zu streng an die Regeln ihres
Genres hielten oder vollkommen ihrem Streben nach Perfektion
erlagen und deshalb nicht wagten, Grenzen zu überschreiten.
Wie man das meisterlich macht und z.B. beweist, dass man
auch in Finnland den Mississippi-Blues haben kann, zeigte
DER MANN OHNE VERGANGENHEIT. Eigentlich überflüssig,
weitere lobende Worte darüber zu verlieren, nur so viel:
Dank an Aki Kaurismäki auch für seinen charmanten
Blick auf das andere Finnland, jenseits von Pisa-Gewinn, Sozial-
und Wirtschaftsmusterland.
Der Mann ohne Vergangenheit aus dem Jahr 2001 war Guy Pearce
in MEMENTO und dessen Regisseur, Christopher Nolan, machte
sich in seinem neuen Film auf, in das fremde Amerika, nach
Alaska, und inszeniert mit INSOMNIA ein fesselndes Duell unter
der Mitternachtssonne, zwischen dem schlaflosen Inspektor
Al Pacino und dem ausnahmsweise nicht lustigen sondern listigen
Killer Robin Williams.
In diesem Zusammenhang sei aber auch ausdrücklich auf
das norwegische Original dieses Remakes hingewiesen. Die europäische
Version von 1997 ist zwar nicht ganz so bildgewaltig, dafür
aber dunkler, abgründiger, ehrlicher. Stellan Skarsgard
als Inspektor muss dabei den Vergleich mit Pacino nicht fürchten.
Apropos: Stellan Skarsgard hat sich so ganz nebenbei zum
wichtigsten und besten Schauspielexport Schwedens seit Max
von Sydow entwickelt und zählt mittlerweile zu den unentbehrlichen
"Global Players".
Seine Darstellung des Wilhelm Furtwängler war dann auch
eine der wenigen wirklichen Stärken von TAKING SIDES,
der sonst an der geradezu akademischen Abhandlung über
die Frage nach Schuld und Sühne litt.
Das eindeutig packendere Künstlerportrait in Zeiten
des zweiten Weltkrieges war dagegen Roman Polanskis DER PIANIST
mit Adrien Brody in der Hauptrolle.
Polanski gestaltet die unglaubliche Geschichte vom Überleben
des Pianisten Wladyslaw Szpilman mal als Horrorfilm, mal als
Thriller, mal als bittere Komödie. Drei Genres, die Polanski
perfekt beherrscht, weshalb ein von Anfang bis Ende fesselnder
Film entsteht. Den großen moralischen Zeigefinger, wie
Istvan Szabo bei TAKING SIDES, erspart er sich und uns, wohl
in der Gewissheit, dass sich langsam herumgesprochen haben
dürfte, wer damals die Bösen waren. Die Geschichte
von DER PIANIST spricht in diesem Sinne ohnehin ganz für
sich.
Was den Dokumentarfilm betraf, so war das Angebot (jenseits
der entsprechenden Festivals) gewohnt spärlich. Nur wenige
Dokus schafften es überhaupt in unsere Kinos und wenn,
dann meist nur für sehr kurze Zeit. Zumindest konnte
man diese Filme wenige Wochen später im Fernsehen (vor
allem arte und 3Sat haben sich zum Jahresende hin auf diesem
Gebiet hervorgetan) nachholen und viele davon wurden an dieser
Stelle entsprechend gewürdigt. Nur kurz erwähnt
seien deshalb drei persönliche Favoriten: HENKER, DER
GLANZ VON BERLIN und WAR PHOTOGRAPHER.
Der "Doku-Star" 2002 und Everybody's Darling ist
(zu Recht) BOWLING FOR COLUMBINE; weitere Kommentare eigentlich
überflüssig.
Hingewiesen sei jedoch auf DOGTOWN & Z-BOYS, einer Doku
über die Ursprünge des "progressiven"
Skateboardens. In Zeiten, in denen schon jedes oberbayerische
Kuhdorf eine eigene Halfpipe besitzt, tut es ganz gut zu erfahren,
wo und wann das alles anfing und wie ein paar verwahrloste
kalifornische Kids in den 1970ern ihre Surfbretter gegen Skateboards
eintauschten und ausgetrockneten Swimmingpools einen neuen
Sinn gaben. Zudem ist der Film ein informatives Dokument über
das Leben am unteren Ende des amerikanischen Traums und zeigt
exemplarisch die Aneignung, Kommerzialisierung und Domestizierung
von Underground und Jugendkultur durch die Industrie, wie
es auch heute noch üblich ist.
Ein Spanierin verliebt sich in Island, ein Österreicher
reist durch die Ukraine, Durchschnittsamerikaner verschlägt
es nach Alaska, Neufundland und als Soldaten gar in die deutsche
Provinz, englische Gangster streiten in Spanien, eine Australierin
und zwei Franzosen mimen russische Gauner in England und ATANARJUAT
ist auch noch der allererste Film ausschließlich von
und über Inuits (alias Eskimos).
Unsere Welt ist also voller schöner, lustiger, spannender,
tragischer, wunderlicher Geschichten. Nicht jeder (sowohl
auf der Produzenten- als auch auf der Konsumentenseite) ist
in der Lage, das zu erkennen. Die Flucht nach Mittelerde,
Hogwart und dem Weltall hält deshalb ungebrochen an,
wobei es grundsätzlich ein Fehler ist, zu glauben, diese
fiktiven Welten hielten immer die besseren oder phantasievolleren
Geschichten bereit.
Michael Haberlander
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