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Ein seltenes Erlebnis: Man sitzt in einem Raum und sieht
einen Film, in dem eine Szene gezeigt wird, die genau in dem
Raum spielt, in dem man gerade sitzt. Bei der Vorführung
von Antonionis LA SIGNORA SENZA CAMELIE im Rahmen der Antonioni-Retrospektive
in Venedig konnte einem das jetzt passieren. Bei dem Film
handelt es sich um eine so kluge wie kühle Analyse der
Filmindustrie. Im Zentrum steht eine junge Schauspielerin,
die die antiidealistische Grundregel ihre Geschäfts erst
noch lernen muss: Ausbeutung lautet das Grundprinzip, um Kunst
und ernste Stoffe geht es auch im Kino all zu wenig. "Sie
wollten nur einen schönen Körper" resümiert
am Ende bitter die Hauptfigur des Films und gibt desillusioniert
den ökonomischen Zwängen des Geschäfts nach
- und auf die Ausbeutung folgt die Selbstausbeutung.
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Nur auf Festivals, so hofft man, kann man all dem, der offenbar
unvermeidlichen Dominanz des Gewinnstrebens einmal für
eine Weile entgehen, und sich einem Kino hingeben, das auf
Erfahrung basiert, und diese seinem Publikum mitteilt - nicht
einfach unvermittelt, was wohl auch nur eine andere Illusion
wäre, aber zumindest ehrlich, um Authentizität bemüht,
sich nicht den Versatzstücken vorgefertigter Gefühlssprachen
fügend.
Bei der eingangs beschriebenen Szene, die im Filmpalast von
Venedig spielt, sah man die junge Schauspielerin, wie ihre
Träume, eine große Künstlerin zu werden im
unfreiwilligen Gelächter des Publikums untergingen. Gerade
ein der Kunst verpflichtetes Festival, so lautet Antonionis
Lektion, bestraft nichts härter, als das Prätentiöse,
als die Behauptung einer Erfahrung, die doch nur eine angelernte
Rhetorik ist, die sich als solche schnell entlarvt.
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Solchen Posen kann man, im Gegensatz zum zweiten Mostra-Wettbewerb,
dem "Controcorrente", unter den um den "Goldenen
Löwen" konkurrierenden Filmen recht häufig
begegnen - mag dies nun an der bekannten Vorliebe des Festivalchefs
de Hadeln für schales Repräsentationskino liegen,
oder einfach an einem "schlechten Jahrgang". In
Patrice Lecontes neuem Film L'HOMME DU TRAIN wurden sie immerhin
noch durch zwei gute Schauspieler überdeckt: Jean Rochefort
und Johnny Hallyday spielen zwei denkbar unterschiedliche
Männer, einen Bankräuber und einen Lehrer im Ruhestand.
Durch Zufall begegnen sie sich, erhalten einen Ahnung vom
Leben des anderen - und beginnen sich darum zu beneiden. Eine
Weile schaut man dem Spiel der beiden Veteranen gern zu, doch
je länger es dauert, um so weniger lässt sich die
innere Leere, die Erfahrungslosigkeit der Story übersehen,
über die Leconte nur mit kruden Wendungen und Effekthascherei
hinwegtäuscht - ein Spiel, das in den 80ern funktioniert
haben mag, als man es für "Postmoderne" hielt,
aber heute nur noch die Geduld strapaziert.
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Jeden Morgen, wenn über der Lagune von Venedig die Sonne
aufgeht, und man am erwachenden Lidostrand zu den Festivalkinos
geht, stellt sich der Besucher der Filmfestspiele die gleiche
Frage: Was hat man am Vortag gesehen, das dauerhaft von Belang
ist, und würdig sein könnte, am Ende mit dem "Goldenen
Löwen" oder zumindest einem Spezialpreis prämiert
zu werden.
Seitdem die Mostra, einer allgemeinen, auf allen Festivals
zu beobachtenden Tendenz folgend, im vergangenen Jahr einen
zweiten Wettbewerb begründete, und damit das Programm
stärker in gediegenes Repräsentationskino und junge
Avantgarde teilte, hat man es mit seinen Tipps noch schwerer,
zumal diese Unterscheidung allenfalls Richtwerte liefert,
etwa der zweifellos sehr avantgardistische Japaner Takeshi
Kitano mit seinem neuen, bisher noch nicht gezeigten Film
DOLLS, von dem man bisher nur ein wunderschönes, ganz
in mohnrot getauchtes Plakat kennt, zu den Wettbewerbs-Favoriten
gehört.
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Dagegen war Larry Clark im vergangenen Jahr noch im großen
Wettbewerb, diesmal in dem des "Controcorrente"
zu sehen. KEN PARK fügt sich in andere Festivalbeiträge,
die sich in die nur scheinbar wohlgehütete Welt der amerikanischen
Vorstädte vertiefen. Die auf einem Drehbuch des US-Kultautors
Harmony Korine - er schrieb schon das Script zu Clarks Welterfolg
KIDS - basierende Film zeigt Momentaufnahmen aus dem Alltag
mehrerer Jugendlicher, die allesamt der Skater-Szene angehören.
Ein Junge lebt bei sei seinen Großeltern, die "Applepie"
backen und mit ihm nachmittags Scrabble spielen während
sie gar nicht merken, dass er sich immer mehr abkapselt und
zum Sadisten entwickelt. Ein anderer leidet unter seinem Vater,
der ihn schlägt, weil er "kein richtiger Mann"
ist. Eine Tochter erhält von ihrem verwitweten Vater
ständige Bibellesungen und Vorträge über die
"Hure Babylon". Und ein anderes Mädchen wird
von ihrem Freund mit der eigenen Mutter betrogen... In Clarks
riskantem Kino ist jederzeit alles möglich - genau das
macht den besonderen Reiz und die Qualität seiner Filme
aus, und KEN PARK zu einem Preisanwärter.
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Langsam geht die Sonne unter. VENDREDI SOIR, der Titel von
Claire Denis neuem Film (im zweiten Wettbewerb von Venedig)
ist ganz wörtlich zu nehmen: Der Film macht in den folgenden
eineinhalb Stunden nicht viel mehr, als dabei zuzuschauen,
wie eine junge Frau den Abend verbringt. Aber damit gelingt
der Französin genau, was so vielen anderen fehlt: originelle,
ungesehene Bilder, Film als genaue Beobachtung und konkrete
Zuschauererfahrung, die auch eine Entdeckung ist, und nicht
nur das ewige Wiederzeigen des schon oft gesehenen. VENDREDI
SOIR ist eine Grosstadtphantasie gekleidet in ein Frauenportrait.
Man beobachtet die junge Laure (Valerie Lemercier) dabei,
wie sie ihre Einrichtung in Kisten packt, sich allmählich
von ihrer Wohnung verabschiedet, denn morgen wird sie mit
ihrem Freund zusammenziehen. Dann steigt sie ins Auto, doch
statt ihre Freundin zu besuchen steht sie quälend lang
im Stau. Auch als sie einen Mann kennenlernt, mit ihm zu Abend
isst und in ein Hotelzimmer geht, wird nicht viel gesprochen
- die Wirklichkeit löst sich in Detailaufnahmen auf,
Denken, Tagtraum und Wirklichkeit vermischen sich ununterscheidbar,
und plötzlich ist Denis ganz nahe dran an der Magie eines
Antonioni, dem man hier eine Retrospektive widmet, und die
dem Zuschauer vor 30, 40 Jahren neue Wirklichkeiten erschloss.
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An ähnlichem Gelände, wiederum am Beispiel einer
Frau, bewegt sich auch Tonie Marshall mit AU PLUS PRES DU
PARADIES: Eine Traumrolle für Catherine Deneuve, die
infast jedem Bild des Films zu sehen ist, als alleinstehende
Frau, die plötzlich von der Erinnerung an eine Jugendliebe
eingeholt wird. Der Film spielt mit dem Cary-Grant/Deborah-Kerr-Klassiker
AN AFFAIR TO REMEMBER von dem fast zehn Minuten lange Ausschnitte
gezeigt werden - und das bricht bei allem Mut Marshalls ihre
Hauptdarstellerin wie eine überreife Alice ins Wunderland
des Ungefähren zu stürzen, dem Film das Genick -
zu tief ist der Abgrund zwischen beiden Filmen, zwischen der
Faszination, die ein Cary Grant auch nach 45 Jahren noch ausübt,
und William Hurts Gekünsteltheiten.
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Gerade mit der vermeintlich sicheren, weil sichtbaren der
Wirklichkeit tun sich dagegen viele andere Filme schwer: "Nach
einer wahren Geschichte", das ist schnell auch wohlfeile
Entschuldigung für manche Handlungswendung, die man einem
rein erdachten Drehbuch nicht gestatten würde. Der Eröffnungsfilm
FRIDA gab davon eine erste Kostprobe, aber so ein Fall ist
unglücklicherweise auch der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag
FÜHRER EX von Winfried Bonengel. Mit seinem ersten Spielfilm
ist der Regisseur dem Thema treu geblieben, dass er bereits
1993 mit seiner - für heftige Kontroversen sorgenden
- Dokumentation BERUF NEONAZI (einem Porträt des Rechtsradikalen
E. Althans) anschlug. FÜHRER EX lehnt sich an die Autobiografie
des ehemaligen Neonazis und Aussteigers Ingo Hasselbach an.
Der wuchs, Kind eines überzeugten Kommunisten, in der
DDR aus, wurde nach einem Fluchtversuch inhaftiert, und geriet
dort in die Nazi-Szene.
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Was Bonengel aus der Geschichte macht, ist völlig missglückt.
Während man die Gefängnisszenen noch wie eine unfreiwillige
Parodie auf alle "Knastmovies" der Filmgeschichte
anguckt und amüsiert zur Kenntnis nimmt, dass der Regisseur
aber auch wirklich kein Klischee auslässt, bleibt einem
das Lachen schnell im Halse stecken, wenn man sieht, mit welch
politischer Naivität und ästhetischen Einfallslosigkeit
Bonengel die Neonazis selber darstellt. Gerade mit der Erfahrung
von Wirklichkeiten wie dem DDR-Unterdrückungsapparat
und der Verführungskraft, die die Nazi-Ideologie in den
Hirnen mancher Jugendlicher entfaltet, hat das leider gar
nichts zu tun - eine Peinlichkeit, die im internationalen
Vergleich, den ein solches Festival ermöglicht, noch
stärker wiegt. Hätte der Film doch wenigstens das
Niveau des irischen Waisenhausdramas THE MAGDALENEV SISTERS,
in dem der als Schauspieler bekannte Schotten Peter Mullan
die Geschichte einer Quasi-Sklaverei innerhalb der katholischen
Kirche erzählt - bemüht, aber präzis - und
mit einfachsten Mitteln ein Empfinden für seine Figuren
weckt, wäre schon sehr viel gewonnen.
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Anders, aber nicht besser, liegen die Dinge im Fall Doris
Dörrie. Etwas einsam saß Dörrie da, während
der Pressekonferenz in Venedig. Vielleicht ein Drittel gefüllt
waren die Reihen der Journalisten, die Fragen fielen höflich
aus. Die Augen hatte die Regisseurin mit einer Sonnenbrille
verdeckt, sprach über "die Philosophie" ihres
Films, erzählte von der "Revolution in der Menschheitsgeschichte":
"Frauen können selbst entscheiden, ob sie Babys
kriegen möchten."
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Was das genau mit ihrem neuen Film zu tun hatte, blieb unklar:
NACKT basiert auf Dörries Stück "Happy"
und schildert einen Abend im Leben dreier Paare. Einst waren
sie befreundet, jetzt treffen sie sich nach langer Zeit wieder
zum Essen: Der eine ist als Spekulant reich geworden, seitdem
kriselt's in seiner Beziehung. Die weniger Reichen sind dafür
glücklicher, die beiden Armen getrennt. Eine gute Stunde
lang folgt der Film dem Auf und Ab des Paargeplappers, das
sich zur Selbstzerfleischung steigert und mit dem der Film
nahtlos an die schlechteren Beispiele des vergessen geglaubten
Genres der Beziehungskomödie anknüpft - papierne
Dialoge, ausgedachte Charaktere, das alles ohne einen Funken
Charme, an der Schmerzgrenze: "Du hast Speck auf der
Seele" heißt es, oder "Ist das alles traurig.
Wir sind komplett vorprogrammiert und austauschbar."
Man fühlt sich auf die Ratgeberseiten von "Brigitte"
oder "Marie Claire" versetzt. Hinzu kommt, dass
sich der Film nie von seiner Bühnenherkunft lösen
kann: Die Kulissen sehen aus wie aus einem Schülertheater,
das einen Almodovar Film gesehen hat: Blaue oder rote Wände,
Schlauchboote und Campingzelte in der Wohnung. Am Ende ziehen
sich zwei Paare aus und versuchen sich mit verbundenen Augen,
nur tastend zu erkennen.
Mit NACKT unterschreitet Dörrie bis zur Schädigung
des eigenen Rufs das Niveau ihrer früheren Filme, verschleißt
gute Schauspieler - unter ihnen Nina Hoss, Heike Makatsch,
Jürgen Vogel - für einen Film, der nur darin einen
Funken Authentizität besitzt, dass er den Beziehungsgelaber-Stil
der nach-68er-Generation auf die Leinwand bringt.
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Am Erschreckendsten ist aber das triste Deutschland-Bild,
das NACKT im Verein mit FÜHRER EX entwirft. Man mag hoffen,
dass es sich bei dieser Auswahl nur um die subtile Rache Moritz
de Hadelns handelt, der den deutschen Film nun durch Aufführung
ein für allemal international zu erledigen sucht. Ansonsten
muss man wohl fürchten, dass in dieser Kombination von
Sex und Gewalt, Gerede und Getue, in ihrer formalen Kulissenhaftigkeit
und dramaturgischen Hysterie, in der grundsätzlichen
Verlogenheit und dem filmischen Gestammel beider Werke etwas
erstaunlich Repräsentatives liegt, für eine Gesellschaft,
die ihre Orientierung sucht?
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Wer sich als deutscher Kritiker im Ausland einen deutschen
Film ansieht, fühlt sich zwangsläufig mit dem Dilemma
eines Sportreporters konfrontiert: Wer nicht Patriotismus
demonstriert, gilt als vaterlandsloser Geselle, umgekehrt
aber liegt die Gefahr nahe, in plumpes Schlachtenbummlertum
zu verfallen. Im Fall der beiden deutschen Beiträge ist
die Wirkung aber gerade umgekehrt: Mit der Nähe werden
die Schwächen nur noch stärker empfunden.
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Chancen auf einen "Goldenen Löwen" hat neben
dem im Publikum umstrittenen ROAD TO PERDITION von Sam Mendes
in jedem Fall auch Todd Haynes (VELVET GOLDMINE). Sein hochinteressanter,
filmisch wie schauspielerisch reizvoller Film FAR FROM HEAVEN
ist neben MAGDALENE SISTERS der Favorit der internationalen
Kritiker: Ganz in den gelb-orange-roten "Jelley"-Farbtönen
des "Indian Summer" getränkt, erzählt
er vom Herbst einer Durchschnittsehe in den späten 50ern.
Julianne Moore spielt Cathy, eine höchst konventionelle
Ehefrau, die eines Tages entdecken muss, dass ihr treusorgender
Gatte (Hollywoodheld Dennis Quaid in einer für einen
A-Star mutigen Rolle) im Büro mit einem männlichen
Kollegen knutscht. Der ist über seinen plötzlich
erwachenden Neigungen selbst am meisten überrascht, bittet
seinen Arzt, ihn von seiner "Krankheit" zu befreien,
notfalls mit Elektroschocks. Doch noch während der Therapie
merkt Cathy, dass sie den schwarzen Gärtner Raymond auch
nicht völlig unattraktiv findet...
Leise, ganz leise ist die Ironie in diesem bürgerlichen
Melodram voller visueller Anklänge an Sirk und Fassbinder.
Haynes erzählt voller Wärme für seine Figuren
und balanciert dabei sicher auf dem sehr schmalen Grad zwischen
zuviel Nähe und zuviel Distanz. Kritisieren kann lässt
sich an seiner Perspektive am ehesten, dass sie gegen die
Windmühlen der Vergangenheit ankämpft. Und wer die
Antonioni-Retrospektive verfolgt findet dort die härtere
Kritik an den 50er Jahre-Verlogenheiten. Im Kontrast damit
wirkt Haynes' nostalgischer Blick dann doch recht lasch.
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Klare Favoriten also, aber noch keine sicheren Sieger am
Lido. Gespannt wartet man auf Kitano, auf Steven Frears und
immer noch auf die erste echte Überraschung.
(to be continued)
Rüdiger Suchsland
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