KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
05.09.2002
 
 
        Far From Heaven

Zwischen Himmel und Paradies
Notizen von den Filmfestspielen von Venedig, Folge 2

 
 
Dennis Quaid und Julianne Moore in
FAR FROM HEAVEN
   
 
 
 
 

Ein seltenes Erlebnis: Man sitzt in einem Raum und sieht einen Film, in dem eine Szene gezeigt wird, die genau in dem Raum spielt, in dem man gerade sitzt. Bei der Vorführung von Antonionis LA SIGNORA SENZA CAMELIE im Rahmen der Antonioni-Retrospektive in Venedig konnte einem das jetzt passieren. Bei dem Film handelt es sich um eine so kluge wie kühle Analyse der Filmindustrie. Im Zentrum steht eine junge Schauspielerin, die die antiidealistische Grundregel ihre Geschäfts erst noch lernen muss: Ausbeutung lautet das Grundprinzip, um Kunst und ernste Stoffe geht es auch im Kino all zu wenig. "Sie wollten nur einen schönen Körper" resümiert am Ende bitter die Hauptfigur des Films und gibt desillusioniert den ökonomischen Zwängen des Geschäfts nach - und auf die Ausbeutung folgt die Selbstausbeutung.

+++

Nur auf Festivals, so hofft man, kann man all dem, der offenbar unvermeidlichen Dominanz des Gewinnstrebens einmal für eine Weile entgehen, und sich einem Kino hingeben, das auf Erfahrung basiert, und diese seinem Publikum mitteilt - nicht einfach unvermittelt, was wohl auch nur eine andere Illusion wäre, aber zumindest ehrlich, um Authentizität bemüht, sich nicht den Versatzstücken vorgefertigter Gefühlssprachen fügend.
Bei der eingangs beschriebenen Szene, die im Filmpalast von Venedig spielt, sah man die junge Schauspielerin, wie ihre Träume, eine große Künstlerin zu werden im unfreiwilligen Gelächter des Publikums untergingen. Gerade ein der Kunst verpflichtetes Festival, so lautet Antonionis Lektion, bestraft nichts härter, als das Prätentiöse, als die Behauptung einer Erfahrung, die doch nur eine angelernte Rhetorik ist, die sich als solche schnell entlarvt.

+++

Solchen Posen kann man, im Gegensatz zum zweiten Mostra-Wettbewerb, dem "Controcorrente", unter den um den "Goldenen Löwen" konkurrierenden Filmen recht häufig begegnen - mag dies nun an der bekannten Vorliebe des Festivalchefs de Hadeln für schales Repräsentationskino liegen, oder einfach an einem "schlechten Jahrgang". In Patrice Lecontes neuem Film L'HOMME DU TRAIN wurden sie immerhin noch durch zwei gute Schauspieler überdeckt: Jean Rochefort und Johnny Hallyday spielen zwei denkbar unterschiedliche Männer, einen Bankräuber und einen Lehrer im Ruhestand. Durch Zufall begegnen sie sich, erhalten einen Ahnung vom Leben des anderen - und beginnen sich darum zu beneiden. Eine Weile schaut man dem Spiel der beiden Veteranen gern zu, doch je länger es dauert, um so weniger lässt sich die innere Leere, die Erfahrungslosigkeit der Story übersehen, über die Leconte nur mit kruden Wendungen und Effekthascherei hinwegtäuscht - ein Spiel, das in den 80ern funktioniert haben mag, als man es für "Postmoderne" hielt, aber heute nur noch die Geduld strapaziert.

+++

Jeden Morgen, wenn über der Lagune von Venedig die Sonne aufgeht, und man am erwachenden Lidostrand zu den Festivalkinos geht, stellt sich der Besucher der Filmfestspiele die gleiche Frage: Was hat man am Vortag gesehen, das dauerhaft von Belang ist, und würdig sein könnte, am Ende mit dem "Goldenen Löwen" oder zumindest einem Spezialpreis prämiert zu werden.
Seitdem die Mostra, einer allgemeinen, auf allen Festivals zu beobachtenden Tendenz folgend, im vergangenen Jahr einen zweiten Wettbewerb begründete, und damit das Programm stärker in gediegenes Repräsentationskino und junge Avantgarde teilte, hat man es mit seinen Tipps noch schwerer, zumal diese Unterscheidung allenfalls Richtwerte liefert, etwa der zweifellos sehr avantgardistische Japaner Takeshi Kitano mit seinem neuen, bisher noch nicht gezeigten Film DOLLS, von dem man bisher nur ein wunderschönes, ganz in mohnrot getauchtes Plakat kennt, zu den Wettbewerbs-Favoriten gehört.

+++

Dagegen war Larry Clark im vergangenen Jahr noch im großen Wettbewerb, diesmal in dem des "Controcorrente" zu sehen. KEN PARK fügt sich in andere Festivalbeiträge, die sich in die nur scheinbar wohlgehütete Welt der amerikanischen Vorstädte vertiefen. Die auf einem Drehbuch des US-Kultautors Harmony Korine - er schrieb schon das Script zu Clarks Welterfolg KIDS - basierende Film zeigt Momentaufnahmen aus dem Alltag mehrerer Jugendlicher, die allesamt der Skater-Szene angehören. Ein Junge lebt bei sei seinen Großeltern, die "Applepie" backen und mit ihm nachmittags Scrabble spielen während sie gar nicht merken, dass er sich immer mehr abkapselt und zum Sadisten entwickelt. Ein anderer leidet unter seinem Vater, der ihn schlägt, weil er "kein richtiger Mann" ist. Eine Tochter erhält von ihrem verwitweten Vater ständige Bibellesungen und Vorträge über die "Hure Babylon". Und ein anderes Mädchen wird von ihrem Freund mit der eigenen Mutter betrogen... In Clarks riskantem Kino ist jederzeit alles möglich - genau das macht den besonderen Reiz und die Qualität seiner Filme aus, und KEN PARK zu einem Preisanwärter.

+++

Langsam geht die Sonne unter. VENDREDI SOIR, der Titel von Claire Denis neuem Film (im zweiten Wettbewerb von Venedig) ist ganz wörtlich zu nehmen: Der Film macht in den folgenden eineinhalb Stunden nicht viel mehr, als dabei zuzuschauen, wie eine junge Frau den Abend verbringt. Aber damit gelingt der Französin genau, was so vielen anderen fehlt: originelle, ungesehene Bilder, Film als genaue Beobachtung und konkrete Zuschauererfahrung, die auch eine Entdeckung ist, und nicht nur das ewige Wiederzeigen des schon oft gesehenen. VENDREDI SOIR ist eine Grosstadtphantasie gekleidet in ein Frauenportrait. Man beobachtet die junge Laure (Valerie Lemercier) dabei, wie sie ihre Einrichtung in Kisten packt, sich allmählich von ihrer Wohnung verabschiedet, denn morgen wird sie mit ihrem Freund zusammenziehen. Dann steigt sie ins Auto, doch statt ihre Freundin zu besuchen steht sie quälend lang im Stau. Auch als sie einen Mann kennenlernt, mit ihm zu Abend isst und in ein Hotelzimmer geht, wird nicht viel gesprochen - die Wirklichkeit löst sich in Detailaufnahmen auf, Denken, Tagtraum und Wirklichkeit vermischen sich ununterscheidbar, und plötzlich ist Denis ganz nahe dran an der Magie eines Antonioni, dem man hier eine Retrospektive widmet, und die dem Zuschauer vor 30, 40 Jahren neue Wirklichkeiten erschloss.

+++

An ähnlichem Gelände, wiederum am Beispiel einer Frau, bewegt sich auch Tonie Marshall mit AU PLUS PRES DU PARADIES: Eine Traumrolle für Catherine Deneuve, die infast jedem Bild des Films zu sehen ist, als alleinstehende Frau, die plötzlich von der Erinnerung an eine Jugendliebe eingeholt wird. Der Film spielt mit dem Cary-Grant/Deborah-Kerr-Klassiker AN AFFAIR TO REMEMBER von dem fast zehn Minuten lange Ausschnitte gezeigt werden - und das bricht bei allem Mut Marshalls ihre Hauptdarstellerin wie eine überreife Alice ins Wunderland des Ungefähren zu stürzen, dem Film das Genick - zu tief ist der Abgrund zwischen beiden Filmen, zwischen der Faszination, die ein Cary Grant auch nach 45 Jahren noch ausübt, und William Hurts Gekünsteltheiten.

+++

Gerade mit der vermeintlich sicheren, weil sichtbaren der Wirklichkeit tun sich dagegen viele andere Filme schwer: "Nach einer wahren Geschichte", das ist schnell auch wohlfeile Entschuldigung für manche Handlungswendung, die man einem rein erdachten Drehbuch nicht gestatten würde. Der Eröffnungsfilm FRIDA gab davon eine erste Kostprobe, aber so ein Fall ist unglücklicherweise auch der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag FÜHRER EX von Winfried Bonengel. Mit seinem ersten Spielfilm ist der Regisseur dem Thema treu geblieben, dass er bereits 1993 mit seiner - für heftige Kontroversen sorgenden - Dokumentation BERUF NEONAZI (einem Porträt des Rechtsradikalen E. Althans) anschlug. FÜHRER EX lehnt sich an die Autobiografie des ehemaligen Neonazis und Aussteigers Ingo Hasselbach an. Der wuchs, Kind eines überzeugten Kommunisten, in der DDR aus, wurde nach einem Fluchtversuch inhaftiert, und geriet dort in die Nazi-Szene.

+++

Was Bonengel aus der Geschichte macht, ist völlig missglückt. Während man die Gefängnisszenen noch wie eine unfreiwillige Parodie auf alle "Knastmovies" der Filmgeschichte anguckt und amüsiert zur Kenntnis nimmt, dass der Regisseur aber auch wirklich kein Klischee auslässt, bleibt einem das Lachen schnell im Halse stecken, wenn man sieht, mit welch politischer Naivität und ästhetischen Einfallslosigkeit Bonengel die Neonazis selber darstellt. Gerade mit der Erfahrung von Wirklichkeiten wie dem DDR-Unterdrückungsapparat und der Verführungskraft, die die Nazi-Ideologie in den Hirnen mancher Jugendlicher entfaltet, hat das leider gar nichts zu tun - eine Peinlichkeit, die im internationalen Vergleich, den ein solches Festival ermöglicht, noch stärker wiegt. Hätte der Film doch wenigstens das Niveau des irischen Waisenhausdramas THE MAGDALENEV SISTERS, in dem der als Schauspieler bekannte Schotten Peter Mullan die Geschichte einer Quasi-Sklaverei innerhalb der katholischen Kirche erzählt - bemüht, aber präzis - und mit einfachsten Mitteln ein Empfinden für seine Figuren weckt, wäre schon sehr viel gewonnen.

+++

Anders, aber nicht besser, liegen die Dinge im Fall Doris Dörrie. Etwas einsam saß Dörrie da, während der Pressekonferenz in Venedig. Vielleicht ein Drittel gefüllt waren die Reihen der Journalisten, die Fragen fielen höflich aus. Die Augen hatte die Regisseurin mit einer Sonnenbrille verdeckt, sprach über "die Philosophie" ihres Films, erzählte von der "Revolution in der Menschheitsgeschichte": "Frauen können selbst entscheiden, ob sie Babys kriegen möchten."

+++

Was das genau mit ihrem neuen Film zu tun hatte, blieb unklar: NACKT basiert auf Dörries Stück "Happy" und schildert einen Abend im Leben dreier Paare. Einst waren sie befreundet, jetzt treffen sie sich nach langer Zeit wieder zum Essen: Der eine ist als Spekulant reich geworden, seitdem kriselt's in seiner Beziehung. Die weniger Reichen sind dafür glücklicher, die beiden Armen getrennt. Eine gute Stunde lang folgt der Film dem Auf und Ab des Paargeplappers, das sich zur Selbstzerfleischung steigert und mit dem der Film nahtlos an die schlechteren Beispiele des vergessen geglaubten Genres der Beziehungskomödie anknüpft - papierne Dialoge, ausgedachte Charaktere, das alles ohne einen Funken Charme, an der Schmerzgrenze: "Du hast Speck auf der Seele" heißt es, oder "Ist das alles traurig. Wir sind komplett vorprogrammiert und austauschbar." Man fühlt sich auf die Ratgeberseiten von "Brigitte" oder "Marie Claire" versetzt. Hinzu kommt, dass sich der Film nie von seiner Bühnenherkunft lösen kann: Die Kulissen sehen aus wie aus einem Schülertheater, das einen Almodovar Film gesehen hat: Blaue oder rote Wände, Schlauchboote und Campingzelte in der Wohnung. Am Ende ziehen sich zwei Paare aus und versuchen sich mit verbundenen Augen, nur tastend zu erkennen.
Mit NACKT unterschreitet Dörrie bis zur Schädigung des eigenen Rufs das Niveau ihrer früheren Filme, verschleißt gute Schauspieler - unter ihnen Nina Hoss, Heike Makatsch, Jürgen Vogel - für einen Film, der nur darin einen Funken Authentizität besitzt, dass er den Beziehungsgelaber-Stil der nach-68er-Generation auf die Leinwand bringt.

+++

Am Erschreckendsten ist aber das triste Deutschland-Bild, das NACKT im Verein mit FÜHRER EX entwirft. Man mag hoffen, dass es sich bei dieser Auswahl nur um die subtile Rache Moritz de Hadelns handelt, der den deutschen Film nun durch Aufführung ein für allemal international zu erledigen sucht. Ansonsten muss man wohl fürchten, dass in dieser Kombination von Sex und Gewalt, Gerede und Getue, in ihrer formalen Kulissenhaftigkeit und dramaturgischen Hysterie, in der grundsätzlichen Verlogenheit und dem filmischen Gestammel beider Werke etwas erstaunlich Repräsentatives liegt, für eine Gesellschaft, die ihre Orientierung sucht?

+++

Wer sich als deutscher Kritiker im Ausland einen deutschen Film ansieht, fühlt sich zwangsläufig mit dem Dilemma eines Sportreporters konfrontiert: Wer nicht Patriotismus demonstriert, gilt als vaterlandsloser Geselle, umgekehrt aber liegt die Gefahr nahe, in plumpes Schlachtenbummlertum zu verfallen. Im Fall der beiden deutschen Beiträge ist die Wirkung aber gerade umgekehrt: Mit der Nähe werden die Schwächen nur noch stärker empfunden.

+++

Chancen auf einen "Goldenen Löwen" hat neben dem im Publikum umstrittenen ROAD TO PERDITION von Sam Mendes in jedem Fall auch Todd Haynes (VELVET GOLDMINE). Sein hochinteressanter, filmisch wie schauspielerisch reizvoller Film FAR FROM HEAVEN ist neben MAGDALENE SISTERS der Favorit der internationalen Kritiker: Ganz in den gelb-orange-roten "Jelley"-Farbtönen des "Indian Summer" getränkt, erzählt er vom Herbst einer Durchschnittsehe in den späten 50ern. Julianne Moore spielt Cathy, eine höchst konventionelle Ehefrau, die eines Tages entdecken muss, dass ihr treusorgender Gatte (Hollywoodheld Dennis Quaid in einer für einen A-Star mutigen Rolle) im Büro mit einem männlichen Kollegen knutscht. Der ist über seinen plötzlich erwachenden Neigungen selbst am meisten überrascht, bittet seinen Arzt, ihn von seiner "Krankheit" zu befreien, notfalls mit Elektroschocks. Doch noch während der Therapie merkt Cathy, dass sie den schwarzen Gärtner Raymond auch nicht völlig unattraktiv findet...
Leise, ganz leise ist die Ironie in diesem bürgerlichen Melodram voller visueller Anklänge an Sirk und Fassbinder. Haynes erzählt voller Wärme für seine Figuren und balanciert dabei sicher auf dem sehr schmalen Grad zwischen zuviel Nähe und zuviel Distanz. Kritisieren kann lässt sich an seiner Perspektive am ehesten, dass sie gegen die Windmühlen der Vergangenheit ankämpft. Und wer die Antonioni-Retrospektive verfolgt findet dort die härtere Kritik an den 50er Jahre-Verlogenheiten. Im Kontrast damit wirkt Haynes' nostalgischer Blick dann doch recht lasch.

+++

Klare Favoriten also, aber noch keine sicheren Sieger am Lido. Gespannt wartet man auf Kitano, auf Steven Frears und immer noch auf die erste echte Überraschung.

(to be continued)

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]