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Ich lasse mein Fahrrad nachts nie allein auf der Straße
stehen. Letzten Sommer hatte ich es einmal tagsüber an
eine Laterne angekettet und konnte es abends nicht hineintragen,
weil ich zwischenzeitlich den Schlüssel verloren hatte.
Ich bin halb wahnsinnig geworden. Ein Glück war die Stelle
vom Wohnzimmer aus sichtbar, also habe ich mein Bett ans Fenster
verfrachtet, um ab und zu mal danach sehen zu können.
Am liebsten hätte ich am Fahrrad einen Bindfaden festgemacht
und mit dem anderen Ende an meinen Zeh geknotet, um die ganze
Zeit über fühlen zu können, dass es noch da
ist. Bin ich total bescheuert? Habe ich eine Zwangsneurose?
Keines von beiden: i am simply a cyborg.
Solche Amputationsgefühle bei Abgetrenntheit von geliebten
Geräten gibt es zuhauf, und bei jedem Gerät fühlt
es sich anders an. Wie reagieren Sie, wenn Sie Ihr Handy nicht
dabei haben, Sie ohne Fernseher auskommen müssen oder
die Stereo-Anlage kaputt ist? Vielbenutzte Autos z.B. können
mobile temporäre Heime und Ich-Verortungsmöglichkeit
bei vorbeifliegender Landschaft und wechselnden Kontexten
bedeuten. Ihr Zurücklassen im ungeschützten öffentlichen
Raum erzeugt dann das gleiche Unwohlsein, als hätte man
die eigene Wohnung unabgeschlossen mitten auf dem Marienplatz
abgestellt. Oder die komplette Festplatte des privaten Rechners
ins Netz. Wenn beim Verlust von vetrauten technischen Surrogaten
unser Gefühl von Vollständigkeit derartig ins Wanken
gerät, können wir davon ausgehen, dass auch ihr
täglicher Gebrauch einen erheblichen, wenn vielleicht
auch noch unbemerkten Einfluss auf die Grenzen unseres Selbstbildes
hat.
Der Cyborg-Begriff ist vor allem aus Hollywood-Filmen und
Manga-Comics bekannt - wer kann nicht auf Anhieb eine Reihe
von Beispielen wie den Terminator, Robo Cop, Astro Boy oder
Seven of Nine benennen? Ursprünglich wurde der Cybernetic
Organism vom Wissenschaftlerteam Clynes/Kline 1960 auf einem
Symposion zu den psychophysiologischen Aspekten der Raumfahrt
eingeführt und war als technische Aufrüstung des
menschlichen Körpers zwecks Anpassung an unwirtliche
extraterrestrische Umwelten gedacht. Inzwischen wird dieser
Begriff auch für hybride Verbindungen jenseits der Mensch-Maschine-Konstruktion
verwendet. Kosmetische Operationen und Transplantationen schaffen
täglich unzählige Cyborgs, in denen verschiedene
menschliche Körper ebenso gemixt werden wie organisches
mit anorganischem, künstlich gezüchtetem oder totem
Material.In Kunst und Theorie, hier vor allem Feminismus und
Gender Theorie, wurde jedoch in den letzten Jahren vielfältig
mit neuen Interpretationsmöglichkeiten des Cyborg-Begriffs
experimentiert, die seine geläufigen hegemonialen Besetzungen
als männlicher Superheld, perfekte weibliche Beauty oder
staatliches Kontrollorgan hinter sich lassen. Den wichtigsten
Beitrag lieferte hierbei die amerikanische Biologin und Naturwissenschaftshistorikerin
Donna Haraway 1985 mit ihrem berühmten "Cyborg-Manifesto".
Dieses beschreibt "die Cyborg" (sgl.) als Schnittstelle
zwischen Mensch und Maschine, Organischem und Technischem,
das unseren Glauben an dichotome Strukturen erschüttert
und die Grenzen zwischen biologischen Geschlechtern und der
Definition des "Selbst" und des "Anderen"
durchlässig werden lässt. Dies war der Impuls für
eine Vielzahl von Texten und Arbeiten, die von einem auf die
Ebene von sozialpolitischen, psychoanalytischen und kognitionswissenschaftlichen
Fragestellungen verschobenen Cyborgbegriff ausgehen und versuchen,
neue Wahrnehmungsmodelle jenseits der Kultur/Natur, Geist/Körper
und männlich/weiblich-Polaritäten zu entwerfen:
"Cyborg" ist zur Metapher der Grenzüberschreitung
geworden.
In diesem Sinne ist Dandy Dust durch und durch Cyborgfilm:
once upon a time wächst der kleine Dandy einsam auf dem
Planeten "of Blood and Swelling" auf, wird zum Spielball
im Machtkampf seiner Eltern Cyniborg und Sir Sidor, dessen
Bevorzugung durch den Jungen der Mutter ein Dorn im Auge ist.
Als er 5 Jahre alt ist, geschieht ein Mord, doch: "Sometimes
if we know too much, we forget everything". Fernsehend
geboren und grossgezogen, fliegt Dust später mit freudiger
Neugier und Unschuld eines Kaspar Hausers zu einem unbekannten
Planeten. Nicht nur diese Identitätssuche, auf die sich
Dust begibt, nicht nur die permanenten Wechsel körperlicher
Erscheinungsformen und Geschlechter durch Operationen, Transplantationen,
Gedächtnis-Daten-Transfers oder die Einnahme von Drogen,
auch die filmische Technik ist ein Universum an Hybridität
und Grenzüberschreitungen. Super8 und High8 und 16mm
projeziert, nochmals abgefilmt und am Computer bearbeitet
ergeben einen dschungelartiges Dickicht von Settings. Organe
begnügen sich nicht damit, im Körper zu verweilen,
sondern schmücken diese auch äusserlich, nehmen
die Ausmasse ganzer Räume oder Planeten an, kriechen
selbst aus anorganischen Wunden hervor und sind lebende Raumschiffe.
Narrative Elemente winden sich in- und umeinander und nisten
sich auf unterschiedlichen postlineaeren Strängen ein.
Mithalten kann nur, wer sein Gehirn auf assoziativ akkumulierende
Mischrezeption umschaltet.
Während für den Kapitalismus auch nach Wegfallen
des sozialistischen Feinbildes das Propagieren von Individualität
als oberstes Prinzip eine markttragende Rolle zu spielen scheint,
frage ich mich manchmal, ob an mir überhaupt irgendetwas
individuell ist. Wenn man es bedenkt, bin ich eigentlich nichts
anderes als ein Computerprogramm, geschrieben von zwei Haupt-
und ein paar Nebenprogrammierern, die mich mit ihren Idealen
gefüttert haben. Zusätzlich geprägt zwar von
Ereignisinformationen, die wohl tatsächlich keinem Zweiten
genau so widerfahren sein mögen. Doch solange ich mich
nicht in meinen eigenen Quelltext hacke, wie kann ich da sicher
sein, dass mein möglicherweise noch so ungewöhnliches
Agieren nicht auch zum fix vorgegebenen Set an Reaktionsmöglichkeiten
gehört? Individualität ist in Wahrheit wahrscheinlich
das am wenigsten Selbstverständliche, ein hartes Stück
Arbeit, möchte man sie jenseits der vorgegeben Rollenmuster
ausfindig machen.
Wahrscheinlich sind wir eine Art Hybrid, bei dem verschiedene
Identitäten und ideelle Konzepte sich schichtweise übereinander
abgelagert haben. - Versuchen Sie sich das jetzt wieder als
Quelltext vorzustellen: eine schier unendliche Liste von Namenseinträgen
im Hypertext, wenn in diesem oder jenem Jahrhundert mal wieder
nachhaltige Veränderungen an ihrem Vorläuferprogramm
vorgenommen wurden. Oder denken Sie an die mögliche Erscheinung
einer Person afro-amerikanisch-indianisch-irisch-italienisch-deutscher
Abstammung (wobei dies jetzt nur als visuelle Übung gedacht
ist und die geografischen Backgrounds natürlich nicht
1:1 mit der eben angesprochenen Programmierung gleichzusetzen
sind.) Auch der Trill Jetsia Dex aus der Star Trek-Staffel
"Deep Space Nine" ist ein ähnliches Wesen,
eine humanoide junge Frau, die einen viele Generationen alten
Organismus in sich trägt, der nach Ableben des einen
Wirtes in einen anderen transplantiert wird. Leider sind die
uns eingepflanzten fremden Erfahrungswerte nicht so leicht
von dem, was evtl. wir selbst sind, zu separieren. Ausgehend
davon, dass das einzig immer schon Individuelle an uns vielleicht
die uns im Subtext von unseren Programmierern versehentlich
eingeschriebenen Widersprüche sind - mehrere Köche
verderben nunmal den Brei- wäre wirkliche Individualität
also erst dann erreicht, wenn es einem gelingen würde,
diese Widersprüche und Lücken zu isolieren und in
eine Form zu bringen, die es zu einem logischen autonomen
Programm macht. Da jedoch kein Update ohne Basisprogramm möglich
ist, werden wir immer an diesem wie an einer Nabelschnur hängen,
so scheint es. We are all social cyborgs.
Dandy Dust und seine Mutter Cyniborg begeben sich parallel
auf Identitätssuche: doch während seine Mutter sich
in genetischen Festschreibungen und Familiären Zwangsjacken
verliert, begibt sich Dust mit Unvoreingenommenheit und Neugier
auf eine Reise, deren Ziel nicht feststeht.
Eine Grundregel für Cyborgs schien bisher zu sein, dass
sie, um als solche rezipiert zu werden, einen menschlichen
Anteil besitzen müssen. Doch was ist eigentlich menschlich?
Auch die Menschheit selbst hat Schwierigkeiten dies zu beantworten,
auch sie befindet sich aktuell mal wieder auf einer groß
angelegten Suche nach ihrer Identität. Auf der einen
Seite wirft die Forschung nach Künstlicher Intelligenz
Fragen über die unsrige auf, auf der anderen Seite ist
der Streit um die Grenzlinie zwischen Tier und Mensch neu
entfacht. Immer spielt die Fähigkeit zu selbständigem
Denken als Individualität konstituierendem Merkmal eine
große Rolle, in der Primatologie als Schnittstelle von
Evolutionsbiologie und Anthropologie ist zudem die Frage nach
dem strukturellen Zusammenhang zwischen "Sex" als
anatomisch-biologischem Geschlechtsmerkmal und "Gender"
als sozialem Konstrukt zum x-ten Mal erneut entfacht.
Auch der Sender Pro7 scheint sich einem Beitrag zu dieser
Debatte verschrieben zu haben. Nicht nur die Unmengen an Ausserirdischen,
Vampire, Dämonen und Hexen, die allabendlich über
den Bildschirm jagen, inspirieren zu interessanten Körperkonzepten,
auch der eher nüchterne Dienstag abend ist besonders
cyborglastig. Während in "Emergency Room" Einblicke
in die Reparaturwerkstätten des Menschen als bio-chemisch/mechanisches
System gegeben werden, lotet in "Sex in the City"
frau ihre sexuelle Identität aus. "Samantha hatte
sich zu einem Hybrid entwickelt", hiess es dort in der
letzten Folge, "das Ego eines Mannes gefangen im Körper
einer Frau." Neben dieser hippen Thematik wurden am selben
Abend weitere Aspekte wie futuristische Reproduktionstechniken,
schwule Heterosexuelle und heterosexuelle Schwule, Möglichkeiten
zur Elimination des Mannes, SM, Internet Sexsites und Cybersex
innerhalb von nur 2x 25min. abgehakt. Das Erfreuliche an diesem
Mainstream-Komödien-Horror ist, dass mit einer Offenheit
endlich Themen aufgetischt werden, deren Neuartigkeits-Potential
100 Jahre nach Freud eigentlich erstaunt. Das Traurige allerdings
ist, dass dies anscheinend nur passieren darf, solange es
von einem in ein rosa Negligé gehüllten Zarten
Ding gesagt wird, das bestehende Geschlechterrollenklischées
wieder perfekt bestätigt.
Hans Scheirl ist gegen eine Praxis des Nicht-Zeigens der
Schrecklichen Dinge. In besterUndergroundkino-Manier, kostet
er körperliche Exzesse liebevoll bis ins (selbstgebastelte)
Detail aus und schafft es, passend zu seinen avantgardistische
Dekorationen, die an expressionistische Stummfilme erinnern,
selbst Splatterfilm-Motive noch einmal ins Zweidimensionale
zu überspitzen. "Parodie oder Pornographie?"
fragte der Evening Standard in seiner Filmkritik und meinte:
"Das hängt ganz von ihrem Blickwinkel, Geschlecht,
speziellen Vorlieben etc. ab." Aber ist es überhaupt
Pornographie? Im Gegensatz zu herkömmlichen Pornos, wo
oberflächliche Handlungsstränge rechtfertigendes
Beiwerk für ein bloßes Aneinanderreihen von Reizen
sind, ist die Suche des Cyborgs Dandy Dust nach seiner sexuellen
Identität zentrales Thema. Gezeigt wird, was relevant
ist, Slash. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das
Phänomen, dass die in "Dandy Dust" ausführlich
gezeigten nackten Frauenkörper - in Film- und Fernsehen
eigentlich Standardausstattung und auch täglich in Telefonsexreklamen
sogar bei der Selbststimulierung zu sehen - einen kleinen
Schreckensmoment hervorrufen. Dass sie nicht als dekoratives
Attribut oder die Erfüllung männlicher Wünsche,
sondern als eigenständige sexuelle Subjekte dargestellt
werden, sind wir als durchschnittliche FernsehUser/Userinnen
anscheinend nicht gewohnt.
Vielleicht aber sind die vielen verwirrenden Handlungen und
die neonfarben leuchtenden Schläuche und Flüssigkeite
ja tatsächlich Pornographie, schliesslich gibt Scheirl
als Anliegen seiner filmischen Arbeit neben Transzendenz auch
Verführung an, und ich versuche nur aus meinem eigenen
vorsichtigen akademischen Kontext heraus, das Ganze im Vorfeld
zu entschärfen.
Wenn dem so ist, zeigt Hans Scheirl, dass Poesie und Pornographie
keine Gegensätze, sondern untrennbar miteinander verbunden
sind. Selbst die derbste Szene nimmt lyrische Dimensionen
an, wenn wir sehen, wie Dust sie mit großen Augen erlebt.
Die Sehnsucht nach Poesie, Sexualität und Identität
entstammen alle dem gleichen Ort, demonstriert der Film. Irgendwo
an einem nicht in unserem Körper lokalisierbaren Ort,
vielleicht auch nur aus dem Fernsehen geboren, kennzeichnen
sie das Bedürfnis nach Manifestation unserer nicht-stofflichen,
gedanklichen Hälfte.Solange ich die Augen geschlossen
habe oder in einem Film, dem Internet oder mitten in einem
Videospiel bin, gibt es nichts, was nicht Ich ist. Wahrnehmung,
Analyse, Erkenntnis und Aktion laufen über den gleichen
Code, sind gleich materiell oder immateriell. Was gedacht
werden kann, ist möglich. Das ist kein Szenario aus dem
Film "Matrix", das ist gefühlte Realität.
Zurück in der "wirklichen" Realität, werden
mir wieder die Grenzen meines physikalischen Körpers
bewusst - die Wände hochgehen oder fliegen kann ich beileibe
nicht - aber auch die ganzen netten Sachen, die ich damit
anstellen kann. Mir wird klar, dass ich ein verdammter Hybrid
aus einem körperlichen und einem geistigen Part bin.
Sind wir Menschen also nicht immer schon Cyborgs?
Weitere Informationen:
Interview
mit Hans Scheirl
Filmkritik
zu "Dandy Dust" in Telepolis
Nina Stuhldreher
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