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06.12.2001
 
 

Cyborgs und DANDY DUST
Einführung zur Filmvorführung am 08.12.01 im Filmmuseum München

  Georg Seeßlen: "Steven Spielberg und seine Filme" - 266 Seiten, Schüren Verlag, Marburg 2001
 
DANDY DUST von Hans Scheirl
   
 
 
 
 

Ich lasse mein Fahrrad nachts nie allein auf der Straße stehen. Letzten Sommer hatte ich es einmal tagsüber an eine Laterne angekettet und konnte es abends nicht hineintragen, weil ich zwischenzeitlich den Schlüssel verloren hatte. Ich bin halb wahnsinnig geworden. Ein Glück war die Stelle vom Wohnzimmer aus sichtbar, also habe ich mein Bett ans Fenster verfrachtet, um ab und zu mal danach sehen zu können. Am liebsten hätte ich am Fahrrad einen Bindfaden festgemacht und mit dem anderen Ende an meinen Zeh geknotet, um die ganze Zeit über fühlen zu können, dass es noch da ist. Bin ich total bescheuert? Habe ich eine Zwangsneurose? Keines von beiden: i am simply a cyborg.

Solche Amputationsgefühle bei Abgetrenntheit von geliebten Geräten gibt es zuhauf, und bei jedem Gerät fühlt es sich anders an. Wie reagieren Sie, wenn Sie Ihr Handy nicht dabei haben, Sie ohne Fernseher auskommen müssen oder die Stereo-Anlage kaputt ist? Vielbenutzte Autos z.B. können mobile temporäre Heime und Ich-Verortungsmöglichkeit bei vorbeifliegender Landschaft und wechselnden Kontexten bedeuten. Ihr Zurücklassen im ungeschützten öffentlichen Raum erzeugt dann das gleiche Unwohlsein, als hätte man die eigene Wohnung unabgeschlossen mitten auf dem Marienplatz abgestellt. Oder die komplette Festplatte des privaten Rechners ins Netz. Wenn beim Verlust von vetrauten technischen Surrogaten unser Gefühl von Vollständigkeit derartig ins Wanken gerät, können wir davon ausgehen, dass auch ihr täglicher Gebrauch einen erheblichen, wenn vielleicht auch noch unbemerkten Einfluss auf die Grenzen unseres Selbstbildes hat.

Der Cyborg-Begriff ist vor allem aus Hollywood-Filmen und Manga-Comics bekannt - wer kann nicht auf Anhieb eine Reihe von Beispielen wie den Terminator, Robo Cop, Astro Boy oder Seven of Nine benennen? Ursprünglich wurde der Cybernetic Organism vom Wissenschaftlerteam Clynes/Kline 1960 auf einem Symposion zu den psychophysiologischen Aspekten der Raumfahrt eingeführt und war als technische Aufrüstung des menschlichen Körpers zwecks Anpassung an unwirtliche extraterrestrische Umwelten gedacht. Inzwischen wird dieser Begriff auch für hybride Verbindungen jenseits der Mensch-Maschine-Konstruktion verwendet. Kosmetische Operationen und Transplantationen schaffen täglich unzählige Cyborgs, in denen verschiedene menschliche Körper ebenso gemixt werden wie organisches mit anorganischem, künstlich gezüchtetem oder totem Material.In Kunst und Theorie, hier vor allem Feminismus und Gender Theorie, wurde jedoch in den letzten Jahren vielfältig mit neuen Interpretationsmöglichkeiten des Cyborg-Begriffs experimentiert, die seine geläufigen hegemonialen Besetzungen als männlicher Superheld, perfekte weibliche Beauty oder staatliches Kontrollorgan hinter sich lassen. Den wichtigsten Beitrag lieferte hierbei die amerikanische Biologin und Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway 1985 mit ihrem berühmten "Cyborg-Manifesto". Dieses beschreibt "die Cyborg" (sgl.) als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, Organischem und Technischem, das unseren Glauben an dichotome Strukturen erschüttert und die Grenzen zwischen biologischen Geschlechtern und der Definition des "Selbst" und des "Anderen" durchlässig werden lässt. Dies war der Impuls für eine Vielzahl von Texten und Arbeiten, die von einem auf die Ebene von sozialpolitischen, psychoanalytischen und kognitionswissenschaftlichen Fragestellungen verschobenen Cyborgbegriff ausgehen und versuchen, neue Wahrnehmungsmodelle jenseits der Kultur/Natur, Geist/Körper und männlich/weiblich-Polaritäten zu entwerfen: "Cyborg" ist zur Metapher der Grenzüberschreitung geworden.

In diesem Sinne ist Dandy Dust durch und durch Cyborgfilm: once upon a time wächst der kleine Dandy einsam auf dem Planeten "of Blood and Swelling" auf, wird zum Spielball im Machtkampf seiner Eltern Cyniborg und Sir Sidor, dessen Bevorzugung durch den Jungen der Mutter ein Dorn im Auge ist. Als er 5 Jahre alt ist, geschieht ein Mord, doch: "Sometimes if we know too much, we forget everything". Fernsehend geboren und grossgezogen, fliegt Dust später mit freudiger Neugier und Unschuld eines Kaspar Hausers zu einem unbekannten Planeten. Nicht nur diese Identitätssuche, auf die sich Dust begibt, nicht nur die permanenten Wechsel körperlicher Erscheinungsformen und Geschlechter durch Operationen, Transplantationen, Gedächtnis-Daten-Transfers oder die Einnahme von Drogen, auch die filmische Technik ist ein Universum an Hybridität und Grenzüberschreitungen. Super8 und High8 und 16mm projeziert, nochmals abgefilmt und am Computer bearbeitet ergeben einen dschungelartiges Dickicht von Settings. Organe begnügen sich nicht damit, im Körper zu verweilen, sondern schmücken diese auch äusserlich, nehmen die Ausmasse ganzer Räume oder Planeten an, kriechen selbst aus anorganischen Wunden hervor und sind lebende Raumschiffe. Narrative Elemente winden sich in- und umeinander und nisten sich auf unterschiedlichen postlineaeren Strängen ein. Mithalten kann nur, wer sein Gehirn auf assoziativ akkumulierende Mischrezeption umschaltet.

Während für den Kapitalismus auch nach Wegfallen des sozialistischen Feinbildes das Propagieren von Individualität als oberstes Prinzip eine markttragende Rolle zu spielen scheint, frage ich mich manchmal, ob an mir überhaupt irgendetwas individuell ist. Wenn man es bedenkt, bin ich eigentlich nichts anderes als ein Computerprogramm, geschrieben von zwei Haupt- und ein paar Nebenprogrammierern, die mich mit ihren Idealen gefüttert haben. Zusätzlich geprägt zwar von Ereignisinformationen, die wohl tatsächlich keinem Zweiten genau so widerfahren sein mögen. Doch solange ich mich nicht in meinen eigenen Quelltext hacke, wie kann ich da sicher sein, dass mein möglicherweise noch so ungewöhnliches Agieren nicht auch zum fix vorgegebenen Set an Reaktionsmöglichkeiten gehört? Individualität ist in Wahrheit wahrscheinlich das am wenigsten Selbstverständliche, ein hartes Stück Arbeit, möchte man sie jenseits der vorgegeben Rollenmuster ausfindig machen.

Wahrscheinlich sind wir eine Art Hybrid, bei dem verschiedene Identitäten und ideelle Konzepte sich schichtweise übereinander abgelagert haben. - Versuchen Sie sich das jetzt wieder als Quelltext vorzustellen: eine schier unendliche Liste von Namenseinträgen im Hypertext, wenn in diesem oder jenem Jahrhundert mal wieder nachhaltige Veränderungen an ihrem Vorläuferprogramm vorgenommen wurden. Oder denken Sie an die mögliche Erscheinung einer Person afro-amerikanisch-indianisch-irisch-italienisch-deutscher Abstammung (wobei dies jetzt nur als visuelle Übung gedacht ist und die geografischen Backgrounds natürlich nicht 1:1 mit der eben angesprochenen Programmierung gleichzusetzen sind.) Auch der Trill Jetsia Dex aus der Star Trek-Staffel "Deep Space Nine" ist ein ähnliches Wesen, eine humanoide junge Frau, die einen viele Generationen alten Organismus in sich trägt, der nach Ableben des einen Wirtes in einen anderen transplantiert wird. Leider sind die uns eingepflanzten fremden Erfahrungswerte nicht so leicht von dem, was evtl. wir selbst sind, zu separieren. Ausgehend davon, dass das einzig immer schon Individuelle an uns vielleicht die uns im Subtext von unseren Programmierern versehentlich eingeschriebenen Widersprüche sind - mehrere Köche verderben nunmal den Brei- wäre wirkliche Individualität also erst dann erreicht, wenn es einem gelingen würde, diese Widersprüche und Lücken zu isolieren und in eine Form zu bringen, die es zu einem logischen autonomen Programm macht. Da jedoch kein Update ohne Basisprogramm möglich ist, werden wir immer an diesem wie an einer Nabelschnur hängen, so scheint es. We are all social cyborgs.

Dandy Dust und seine Mutter Cyniborg begeben sich parallel auf Identitätssuche: doch während seine Mutter sich in genetischen Festschreibungen und Familiären Zwangsjacken verliert, begibt sich Dust mit Unvoreingenommenheit und Neugier auf eine Reise, deren Ziel nicht feststeht.

Eine Grundregel für Cyborgs schien bisher zu sein, dass sie, um als solche rezipiert zu werden, einen menschlichen Anteil besitzen müssen. Doch was ist eigentlich menschlich? Auch die Menschheit selbst hat Schwierigkeiten dies zu beantworten, auch sie befindet sich aktuell mal wieder auf einer groß angelegten Suche nach ihrer Identität. Auf der einen Seite wirft die Forschung nach Künstlicher Intelligenz Fragen über die unsrige auf, auf der anderen Seite ist der Streit um die Grenzlinie zwischen Tier und Mensch neu entfacht. Immer spielt die Fähigkeit zu selbständigem Denken als Individualität konstituierendem Merkmal eine große Rolle, in der Primatologie als Schnittstelle von Evolutionsbiologie und Anthropologie ist zudem die Frage nach dem strukturellen Zusammenhang zwischen "Sex" als anatomisch-biologischem Geschlechtsmerkmal und "Gender" als sozialem Konstrukt zum x-ten Mal erneut entfacht.

Auch der Sender Pro7 scheint sich einem Beitrag zu dieser Debatte verschrieben zu haben. Nicht nur die Unmengen an Ausserirdischen, Vampire, Dämonen und Hexen, die allabendlich über den Bildschirm jagen, inspirieren zu interessanten Körperkonzepten, auch der eher nüchterne Dienstag abend ist besonders cyborglastig. Während in "Emergency Room" Einblicke in die Reparaturwerkstätten des Menschen als bio-chemisch/mechanisches System gegeben werden, lotet in "Sex in the City" frau ihre sexuelle Identität aus. "Samantha hatte sich zu einem Hybrid entwickelt", hiess es dort in der letzten Folge, "das Ego eines Mannes gefangen im Körper einer Frau." Neben dieser hippen Thematik wurden am selben Abend weitere Aspekte wie futuristische Reproduktionstechniken, schwule Heterosexuelle und heterosexuelle Schwule, Möglichkeiten zur Elimination des Mannes, SM, Internet Sexsites und Cybersex innerhalb von nur 2x 25min. abgehakt. Das Erfreuliche an diesem Mainstream-Komödien-Horror ist, dass mit einer Offenheit endlich Themen aufgetischt werden, deren Neuartigkeits-Potential 100 Jahre nach Freud eigentlich erstaunt. Das Traurige allerdings ist, dass dies anscheinend nur passieren darf, solange es von einem in ein rosa Negligé gehüllten Zarten Ding gesagt wird, das bestehende Geschlechterrollenklischées wieder perfekt bestätigt.

Hans Scheirl ist gegen eine Praxis des Nicht-Zeigens der Schrecklichen Dinge. In besterUndergroundkino-Manier, kostet er körperliche Exzesse liebevoll bis ins (selbstgebastelte) Detail aus und schafft es, passend zu seinen avantgardistische Dekorationen, die an expressionistische Stummfilme erinnern, selbst Splatterfilm-Motive noch einmal ins Zweidimensionale zu überspitzen. "Parodie oder Pornographie?" fragte der Evening Standard in seiner Filmkritik und meinte: "Das hängt ganz von ihrem Blickwinkel, Geschlecht, speziellen Vorlieben etc. ab." Aber ist es überhaupt Pornographie? Im Gegensatz zu herkömmlichen Pornos, wo oberflächliche Handlungsstränge rechtfertigendes Beiwerk für ein bloßes Aneinanderreihen von Reizen sind, ist die Suche des Cyborgs Dandy Dust nach seiner sexuellen Identität zentrales Thema. Gezeigt wird, was relevant ist, Slash. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Phänomen, dass die in "Dandy Dust" ausführlich gezeigten nackten Frauenkörper - in Film- und Fernsehen eigentlich Standardausstattung und auch täglich in Telefonsexreklamen sogar bei der Selbststimulierung zu sehen - einen kleinen Schreckensmoment hervorrufen. Dass sie nicht als dekoratives Attribut oder die Erfüllung männlicher Wünsche, sondern als eigenständige sexuelle Subjekte dargestellt werden, sind wir als durchschnittliche FernsehUser/Userinnen anscheinend nicht gewohnt.

Vielleicht aber sind die vielen verwirrenden Handlungen und die neonfarben leuchtenden Schläuche und Flüssigkeite ja tatsächlich Pornographie, schliesslich gibt Scheirl als Anliegen seiner filmischen Arbeit neben Transzendenz auch Verführung an, und ich versuche nur aus meinem eigenen vorsichtigen akademischen Kontext heraus, das Ganze im Vorfeld zu entschärfen.

Wenn dem so ist, zeigt Hans Scheirl, dass Poesie und Pornographie keine Gegensätze, sondern untrennbar miteinander verbunden sind. Selbst die derbste Szene nimmt lyrische Dimensionen an, wenn wir sehen, wie Dust sie mit großen Augen erlebt. Die Sehnsucht nach Poesie, Sexualität und Identität entstammen alle dem gleichen Ort, demonstriert der Film. Irgendwo an einem nicht in unserem Körper lokalisierbaren Ort, vielleicht auch nur aus dem Fernsehen geboren, kennzeichnen sie das Bedürfnis nach Manifestation unserer nicht-stofflichen, gedanklichen Hälfte.Solange ich die Augen geschlossen habe oder in einem Film, dem Internet oder mitten in einem Videospiel bin, gibt es nichts, was nicht Ich ist. Wahrnehmung, Analyse, Erkenntnis und Aktion laufen über den gleichen Code, sind gleich materiell oder immateriell. Was gedacht werden kann, ist möglich. Das ist kein Szenario aus dem Film "Matrix", das ist gefühlte Realität. Zurück in der "wirklichen" Realität, werden mir wieder die Grenzen meines physikalischen Körpers bewusst - die Wände hochgehen oder fliegen kann ich beileibe nicht - aber auch die ganzen netten Sachen, die ich damit anstellen kann. Mir wird klar, dass ich ein verdammter Hybrid aus einem körperlichen und einem geistigen Part bin. Sind wir Menschen also nicht immer schon Cyborgs?

Weitere Informationen:
Interview mit Hans Scheirl
Filmkritik zu "Dandy Dust" in Telepolis

Nina Stuhldreher

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