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31.05.2001
 
 
   
 

Marktnotizen aus Cannes

 
Ewan McGregor und Nicole Kidman in MOULIN ROUGE
     
 
 
 
 

Die Ankunft. Cannes im Ausnahmezustand. Der Flughafenbus steckt im Stau. Ein kleiner Kranwagen vor uns hält an jedem Laternenmast um Festival-Banner aufzuhängen. Kurz vor der Innenstadt die erste Straßensperre. Die Croisette, die berühmte Uferstraße, ist halbseitig gesperrt um für das Festivalvolk Platz zu schaffen.

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Eine Stunde vor der offiziellen Eröffnung mit MOULIN ROUGE herrscht großes Gedränge vor dem Palais du Festival. Unmengen Schaulustige beobachten, wie die Promis die berühmte Außentreppe mit dem großen roten Teppich hinauf schreiten. Die besten Plätze am Treppengeländer sind für Pressefotografen reserviert. Damit auch die hinteren Reihen etwas sehen können, wird die Prozedur auf ein riesiges Videodisplay vor dem Festivalpalais übertragen und von einem Sprecher kommentiert. Nicole Kidman braucht allein für die 20 Meter von der Straße zum Anfang der Treppe 5 Minuten. Bevor sie die erste Stufe erklimmt, muß ich weiter. Der nächste Film ruft.

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Auf dem Filmmarkt werfen erfolgreiche Filme ihre Schatten nicht voraus sondern hinterher. Die Blairwitch-Welle ist gerade am abebben. Es gibt aber immer noch genug Produzenten, die glauben, es reiche ein paar Teenager mit einer Videokammera in den Wald zu schicken, um 100 Mio. US$ sicher zu haben. Abschreckenstes Beispiel war RETURN TO PONTIANAK, den man passender "Blairwitch-Jungle" genannt hätte.

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Der neuste Trend ist TIGER & DRAGON. Zahlreiche Filme haben eines der beiden Kennwörter im (englischen) Titel. (Die Originaltitel lauten - soweit man dies aus den Schriftzeichen erkennen kann - teilweise ganz anders. Aber vielleicht wurden die ja schon vor dem gegenwärtigen Boom gewählt.) Den Vogel schießen zwei Hongkong-Produktionen ab: FLYING DRAGON LEAPING TIGER und ROARING DRAGON BLUFFING TIGER.

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Auf dem Filmmarkt werden in den verschiedenen Sälen bis zu 25 Filme parallel gezeigt. Das Programm nennt zu den Filmen meist nur Titel, Genre, Produktionsland, Regisseur und wenn es hoch kommt zwei Hauptdarsteller und eine Inhaltsangabe von zwanzig Worten. Welchen Film soll man sich anschauen? Manchmal dient der Name eines vielversprechenden Regisseurs, die Empfehlung von Bekannten oder Gerüchte, die sich zu Tips verdichten, als Entscheidungshilfe. Häufig muss man sich auf seine Spürnase verlassen. Eine Überlebensstrategie kristallisiert sich schnell heraus: Wenn die Worte "Sex" im Titel oder "Internet", "E-Mail" bzw. "virtuell" in der Inhaltsangabe vorkommen, wählt man lieber einen anderen Film.

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Zu heißen Tips auf dem Filmmarkt entwickelten sich THE CABBIE, die humorvolle Lebensgeschichte eines taiwanesischen Taxifahrers, TEARS OF THE BLACK TIGER, eine Westernparodie aus Thailand, LE FABULEUX DESTIN D'AMELIE POULAIN, der neuste Film von Jean-Pierre Jeunot der schon an französischen Kinokassen boomt und das Münchener Filmfest eröffnen wird, und vor allem WATERBOYS, eine Komödie aus Japan, die ein wenig an "The Full Monthy unter Wasser" erinnert - ein paar jungen an einer japanischen Highschool versuchen sich im Synchronschwimmen.

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Letztes Jahr wurde zu Beginn des Festivals über die aufwendigen Werbekampagnen und rauschenden Parties der Dotcoms gestaunt. Damals sollen einige noch während des Festivals pleite gegangen sein. Dieses Jahr ist leider Sparsamkeit angesagt. Keinerlei extravagante Werbeschlachten. So kann der kleine deutsche Film MIT IKEA NACH MOSKAU schon mit einer merkwürdigen Inhaltsangabe und einem Regisseur, der im IKEA-Dress durch die Messe spaziert, Aufmerksamkeit erregen.

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In der letzten Woche wird Donnerstags das Programm auf dem Filmmarkt deutlich dünner. Freitags sind in der Messe die ersten Stände verwaist, andere packen zusammen. Der Filmmarkt geht offiziell bis Samstags, aber da wird schon der Teppichboden aus der Messehalle gerissen. Der Sonntag gehört noch einmal ganz dem Festival. Die Wettbewerbsfilme werden noch einmal wiederholt. Jetzt kann man die Filme sehen, für die man Anfang der Woche keine Karten oder Zeit hatte. Am Abend werden dann die Palmen verteilt.

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Dank des richtigen Badges darf ich am Sonntag für die Wiederholung des Eröffnugsfilms als erster über den blauen Teppich die Treppe hinaufsteigen zum Salle Debussy, dem zweit größten Saal des Festivals. An drei langen Warteschlangen vorbei. Eigentlich ist es ja totaler Blödsinn, trotzdem war es ein erhebendes Gefühl.
Der Film MOULIN ROUGE entpuppt sich als Höhepunkt des Festivals. Baz Luhrmann hat wie schon in ROMEO & JULIET ein völlig überdrehtes Spektakel geschaffen, das dem Musical neue Impulse gibt. Die Gesangs-Medleys haben sich einen Platz unter den Kabinettstückchen der Filmgeschichte verdient. Jeweils 1-2 Zeilen aus bis zu 20 berühmten Popsongs werden zu regelrechten Dialogen zusammmen gefügt.

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Der Abschlussfilm LES AMES FORTES reiht sich in die langjährige Tradition ein - man kann ihn schnell wieder vergessen. Wer allerdings vermutet hatte, Supermodel Laetitia Casta würde als Hauptdarstellerin nur das glamouröse Zuckerpüppchen geben, wurde durch ihren Mut zur Häßlichkeit angenehm überrascht.

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Die Abschlussbilanz der meisten Kommentatoren vermeldet eine mittelmäßige Filmauswahl. Die Goldenen Palme für Nanni Morettis LA STANZA DI FIGLIO war von vielen erwartet worden. Erstaunen löst dagegen der Preissegen für DIE KLAVIERSPIELERIN des Österreichers Michael Haneke aus, der außer der goldenen Palme alle wichtigen Preise eingesackt hat. So abgeräumt hat lange kein Film mehr.

Claus Schotten

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