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28.12.2000
 
 
   
 

Drei Seligsprechungen
Späte Ehrenrettung dreier unterbewerteter Filme des Jahres

 
Sonnyboy: "Leo" in "Boyles stärkstem Film" (folgt man unserer Autorin)
     
 
 
 
 

Je später die Gäste, desto schöner...heißt es ja bekanntlich und natürlich gilt das auch für Filme. Fast wäre er uns noch ganz durch die Lappen gegangen, der unterschätzteste Film des Jahres, der es gerade noch in die Kinos geschafft hat. REINDEER GAMES von Altmeister John Frankenheimer, ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für Cinéphile, dem hochbezahlte Fachkräfte den deutschen (sic!) Synchrontitel WILD CHRISTMAS verschrieben haben (oder sich verschrieben haben?) Wie auch immer: man kann das Wundervolle an diesem Film gleich vom Ende her aufrollen. Einer will nach Hause, aus dem Knast raus, Mutters Heidelbeerkuchen essen und sich überhaupt mal wieder richtig bekochen und verwöhnen lassen über die Feiertage (wir können uns, da wir die Feiertage ja gerade hinter uns haben und jetzt selbst vollgestopft sind wie die Weihnachtsgans, die wir im Kreise unserer Lieben gerade erst verputzt haben, da momentan gar nicht mehr richtig hineindenken – müssen uns jetzt eben mal ganz dumm stellen und so tun, als wäre nach den Feiertagen vor den Feiertagen, als wären unsere Mägen noch leer und unser Gewicht auf der Skala einer handelsüblichen Waage noch anzuzeigen).

Rudy Duncan ist der verlorene Sohn, Autodieb, Knacki, gespielt von dem wunderbaren Ben Affleck – zugegeben nicht ganz so begabt wie sein best buddy Matt Damon aber gerade deshalb umso liebreizender. Vom Ende her betrachtet also: endlich sitzt Rudy an der Familientafel und Ben grinst in die Kamera, die Frankenheimer partout nicht abwenden will vom Gesicht seines gebeutelten Helden. Und Ben grinst und grinst und grinst und das bekommt so allmählich die Qualität jenes gequälten Zähnebleckens, das wir selber von unzähligen Familienfotos her kennen – wenn Oma oder Tante draufhält und „Bitte Lächeln“ sagt und dann der Blitz nicht funktioniert oder nicht alle ins Bild kommen und daher umgruppiert werden muss oder, oder, oder...Und man lächelt und lächelt und lächelt und wenn das Foto erst entwickelt ist, sitzt man da mit einer Grimasse im Gesicht, die am ehesten noch im japanischen Kabuki-Theater zu verwenden wäre.

Ben Affleck ist einer jener Schauspieler, denen man ständig beim schauspielern zusehen kann und dabei auch sieht, wie das richtig verdammt harte Arbeit ist – wie aber einer sein Bestes gibt dabei. Ben ist wohl auch der einzige Schauspieler (siehe ARMAGEDDON) der noch weniger Gesichtsausdrücke noch unnatürlich-hölzerner bringen kann als Edelmime Bruce Willis. Nun ist John Frankenheimer - wie gesagt - ein Altmeister des Regiehandwerks und wir dürfen daher unterstellen, dass der Mann weiß, was er tut. Diese Künstlichkeit, die seinem Helden ins Gesicht geschrieben steht, ist überhaupt die Seele des Films. Da ist künstlicher Schnee zuhauf und kleine Miniatur-Monstertrucks – ein Winter-Wonderland. Solche Filme hat es lange nicht mehr gegeben, solche Begeisterung am Welten-basteln, wo ja inzwischen die Masse der Montag-ist-Kinotag-Multiplex-Popcorn-Audience schlechte Filme gut findet wegen der echt geilen (weil echt wie im echten Leben! Hä, come again?) Computeranimation. Nein, nein, nein. Wir fordern das Spiel und den Spaß daran, die sichtlich-offensichtlich künstlichen Welten und wollen 2001 mehr Ben Affleck (die Vorfreude auf PEARL HARBOR steigert sich nun geradezu ins Orgasmische), mehr Gary Sinise, der hier den schurkigen Trucker mit soviel Laune besonders fies gibt, mehr von John Frankenheimer, mehr, mehr, mehr.

Winter bleibt es (zum Glück gibt’s Filme, wenn es die Natur wieder nicht hinkriegt mit der White Christmas). Kalt ist es auch in diesem filmischen Familienunternehmen: ONEGIN nach dem Versroman von Alexander Puschkin. Eine Liebesgeschichte ist das ungefähr so sehr, wie Don Giovanni eine Liebesgeschichte ist (soll heißen: gar keine). Um existentielle Verzweiflung geht es, um die Leere im Inneren und den gierigen, sinnlosen Versuch, diese aufzufüllen. Um einen Höllensturz geht es, am Ende. Bilder sind in diesem Film zu finden, wie man sie nur kennt aus den Meisterwerken des Carl Theodore Dreyer. Somnambule Spukbilder von Phantomkutschen und Windmühlen am Wasser und Onegin, den Ralph Fiennes ganz selbstzerquält gibt, ist selbst halb Mensch halb Geist, ein Ruheloser, Hungriger, Übersättigter. Man merkt, dass Fiennes lange Zeit in London am kleinen aber feinen Almeida Theatre Tschechow gespielt hat. Er hat sich, ganz offensichtlich, intensiv beschäftigt mit der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts und so geht diese Literaturverfilmung weit, weit hinaus über Puschkin – ist vielmehr Literaturverfilmung im Grossen. Nicht zufällig erinnert Fiennes, wie er so aufgemacht ist in der ersten Einstellung, da wir ihn zu sehen kriegen, stark an ein Porträt das existiert vom Dichter Puschkin selber.

Verquickungen gibt es hier zwischen Schöpfer und Geschöpf. Puschkin ein junger Wilder, Rebell und Revoluzzer, Ladykiller und tragisch jung gestorben – man wagt es kaum zu sagen: literarisch romantisch gestorben – niedergeschossen in einem Duell. Auch in seiner Geschichte duelliert man sich, Onegin tötet seinen Freund Lenski, wegen nichts eigentlich. Die Russen haben im 19. Jahrhundert viel nachgedacht über die Leere des Daseins, über die Langeweile und die Möglichkeiten diese zu töten. Im Westen kommt das erst später, bei Fitzgerald vielleicht in den 20ern und da dann viel melancholischer, wie trauriger Blues in einer Nachtbar. Bei Puschkin fängt alles noch recht ironisch an, was sich entwickelt bis zu Dostojewskij, bis zu den DÄMONEN, wo dann eine Gruppe junger Wilder sich ausdenkt, einen umzubringen. Ein bisschen zum Spaß auch aber vor allem, um zu sehen, ob irgendwas sich ändert, ob man irgendwas fühlt dabei (Erich Fromm hat, ebenfalls Jahrzehnte später, eine ganze Aggressionspsychologie aufgebaut um diese Gedanken herum). Dostojewkskij ist natürlich der brutalste, der nihilistischste von allen und es gibt werde Schuld noch Sühne da zum Trost für die Anständigen, alles geht einfach so weiter. All das, diese ganze Kälte, diese Finsternis, diese dunkle Nacht der Seele haben Ralph und Martha Fiennes sichtbar gemacht in ihrem Film – am Ende, wenn Onegin durch die tief verschneiten Straßen Moskaus stapft, friert man selbst. Es gibt, für diesen Onegin, keine Hoffnung, keine Rettung – nicht einmal in der physischen Wirklichkeit des Höllensturzes. Nur ewige Selbstverdammung. Das ist schlimmer.

Und weil man das Jahr nicht ganz so depressiv ausklingen lassen soll und wir mit etwas Optimismus ja auch in die Zukunft blicken wollen – wäre natürlich hier noch zu erinnern an Danny Boyles sonnigen THE BEACH. Keineswegs Boyles schwächster sondern im Gegenteil sein stärkster Film bisher, sehr klug, sehr verständig, sehr durchdacht und ganz weit weg von dem wenn auch launigen TRAINSPOTTING-Vergnügen. Wie verfilmt man Literatur, die eigentlich auf die Filmgeschichte rekurriert, wie verfilmt man das Buch zum Film? Boyle hat verstanden, dass es nicht einfach funktioniert Alex Garlands Roman zu APOCALYPSE NOW et al. in Bilder umzusetzen, die wieder irgendwo landen bei APOCALYPSE. Sondern hat sich eine ganz eigene Geschichte gebastelt. Ein hübscher junger Rucksacktourist ist reif für die Insel. Ein Gestrandeter (als hätte es Jack Dawson alias Leonardo DiCaprio doch noch geschafft den Untergang der TITANIC zu überleben und irgendwo auf der anderen Seite der Welt an Land zu paddeln), ein Gelangweilter um den es hier geht: und ja, wir entschuldigen uns, THE BEACH ist irgendwie doch ein bisschen düster, trotz Sonne, Sand, Palmenstrand. Einer, der was sucht und weil er nicht weiß was es ist, auch nie fündig wird. Einer, der immer wieder was Neues anfängt und dann nicht dabei bleibt. Ein bisschen Romanze, ein bisschen Robinsonade, ein bisschen Rollenspiel. Mit Selbstfindung ist freilich Essig und auch mit der Reifung, dem Erwachsenwerden. Man muss also THE BEACH vielleicht doch sehen wie man DIE DÄMONEN liest – keine Schuld, keine Sühne. Alles geht weiter am Ende, nur Fotos bleiben aus heiteren Tagen und dass die meisten der Abgelichteten längst tot sind macht irgendwie auch nix. 2001 wird DiCaprio unter der Regie von Martin Scorsese zu sehen sein und wir ahnen – da wird er es mit Schuld und Sühne, mit Strafe und Erlösung zu tun bekommen, bis ihm der Schädel brummt. Wir freuen uns drauf.

Regine Welsch

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