In Carol Reeds Klassiker DER DRITTE MANN darf Orson
Welles (alias Harry Lime) einmal mehr seiner Leidenschaft für
Gleichnisse und Parabeln nachgehen und erläutert (mit Verweis auf
Mussolini, von dem das Zitat angeblich stammen soll) folgende
Theorie. Während der 30jährigen Herrschaft der Borgias in
Italien gab es nicht nur Krieg, Mord und Elend sondern auch die
Renaissance, da Vinci und Michelangelo. Die größte kulturelle
Errungenschaft in 500 Jahren friedlichen und demokratischen
Zusammenlebens in der Schweiz dagegen sei die Kuckucksuhr. Die
Stadt New York hat in den letzten Jahren eine Entwicklung vom
chaotischen und kriminellen Großstadtdschungel zur (relativ)
beschaulichen Sauberstadt durchgemacht. Das sich in der gleichen
Zeit immer mehr New Yorker Filmemacher für eine Flucht in die
Vergangenheit bzw. in eine andere Stadt entschieden, scheint die
Theorie von Welles/Lime zu bestätigen.
In Woody Allens BULLETS OVER BROADWAY streiten sich die Künstler
noch hitzig darüber, ob sie im Zweifelsfall ein Buch oder einen
Menschen retten würden. Die Frage, ob die Kunst Vorrang vor einem
Menschen haben kann, beantwortet dann ausgerechnet der Killer
Cheech (Chazz Palminteri) auf seine Weise, als er zum Wohle seines
Theaterstücks die Schauspielerin Olive (Jennifer Tilly) tötet.
So abstrakt die Entscheidung zwischen Kunst oder Mensch in Allens
Film erscheinen mag, so real wird sie doch in der Law-and-Order
Stadt von Bürgermeister Giuliani. Es sind dabei vor allem die
New Yorker selber, die es zwar begrüßen, ohne Todesangst wieder mit
der U-Bahn fahren zu können, zum anderen aber auch den Verlust des
typischen Flairs beklagen (von den Auswüchsen des restriktiven
Ordnungswahns einmal ganz abgesehen). Gerade dieses besondere New
York-Gefühl hat die Filme aus dem Big Apple so angenehm von den
Werken aus Hollywood abgehoben.
Vor 25 Jahren durchfuhr Robert de Niro als TAXI DRIVER die
Großstadthölle von New York und träumte als Travis Bickle vom
großen Regen, der eines Tages kommen werde, um den ganzen "Müll"
von den Straßen zu waschen. Bickles Wunsch ist scheinbar in
Erfüllung gegangen und aus den früheren MEAN STREETS wurden im
laufe der Jahre clean streets. Bickles Schöpfer, Martin Scorsese,
zwang diese Veränderung jedoch dazu, seinen BRINGING OUT THE DEAD
um zehn Jahre zurück zu versetzten. Den Wahnsinn auf den Straßen,
auf dem BRINGING OUT... aufbaut, hat Scorsese im heutigen New York
offensichtlich nicht mehr gefunden.
Noch um weitere dreizehn Jahre geht Spike Lee in seinem neuen
Film SUMMER OF SAM zurück, um ein in jeder Hinsicht gewaltiges
Tableau zu entrollen. In Zeiten, in denen es schon verpönt ist
öffentlich eine Zigarette zu rauchen, scheint die Flucht in eine
wilde, freie Vergangenheit nur logisch. Die Geschichte von Morden,
Disco, Punk, Sex, Drogen und Gangstern wird bei Lee eingerahmt vom
aktuellen Kommentar eines Journalisten, der die Problematik des
neuen, sauberen New Yorks unumwunden anspricht und indirekt von der
guten alten Zeit schwärmt. Diese verklärte Erinnerung an eine
teilweise brutale und beängstigende Vergangenheit mag paradox
wirken, doch sie zeugt vor allem auch vom Stolz der Einwohner auf
ihre gefährliche und unberechenbare Heimatstadt. Wie singt schon
Sinatra: "If you make it here, you make it everywhere !".
Einen der es weder "here" noch "everywhere" richtig geschafft
hat, spielt Ian Holm in Stanley Tuccis JOE GOULDS GEHEIMNIS. Joe
Gould war in den 40er und 50er Jahren aktiv und 1991 konnte Robin
Williams in KÖNIG DER FISCHER noch einen Geistesverwandten Goulds
spielen, aber wäre eine solche Geschichte im heutigen New York noch
denkbar ? Am hochsanierten Times Square würde Gould wohl keines
der familiengerechten Lokale von Disney & Co. eine Suppe
spendieren, um dadurch mit einem echten Bohemien als
Touristenattraktion aufwarten zu können. Die gesellschaftlichen
Biotope, in denen ein Spinner wie Gould überleben konnte, sind
heute weitgehend ausgetrocknet. Schlechte Zeiten für Nichtseßhafte,
egal ob Genie oder nicht.
Andere große New Yorker Regisseure kehren ihrer Heimat fast
vollständig den Rücken zu. Abel Ferrara etwa, der mit KING OF NEW
YORK und BAD LIEUTENANT zwei der beeindruckendsten und
bedrückendsten Portraits dieser Stadt gezeigt hat, verliert sich in
seinen letzten Filmen BLACKOUT und NEW ROSE HOTEL in eigenartig
glatten, austauschbaren Drehorten zwischen Tokio und Los
Angeles. Woody Allen schließlich, der Inbegriff des New York -
Besessenen, hat die Zeiten von MANHATTAN hinter sich gelassen und
verläßt immer öfter sein gewohntes Revier, um entweder die alten
Zeiten zu beschwören (SWEET AND LOWDOWN) oder Teile der Handlung
bis nach Europa auszulagern (ALLE SAGEN: I LOVE YOU). Es ist
bezeichnend, dass im Mittelpunkt von HARRY AUSSER SICH, in dem
Allen bis dato das letzte mal selber die Hauptrolle übernommen hat,
ausgerechnet eine Autofahrt nach Connecticut steht. Dass HARRY
AUSSER SICH einer der zynischsten Filme Allens ist, paßt nur zu
genau in das Bild von der neuen Stadt, in der kein Platz mehr für
unkorrekten Humor ist.
Mittlerweile hat auch der makellose Rufe des Saubermanns Giuliani
Risse bekommen und vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis
in New York wieder die Verhältnisse herrschen, die die Grundlage
für einige der wichtigsten Werke der amerikanischen Filmgeschichte
waren. Als netten Kontrast zum aufgeräumten New York von heute
empfiehlt sich dabei immer wieder John Carpenters Klassiker ESCAPE
FROM NEW YORK (DIE KLAPPERSCHLANGE).
Michael Haberlander
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