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31.08.2000
 
 
   
 

Old New York

   
     
 
 
 
 

In Carol Reeds Klassiker DER DRITTE MANN darf Orson Welles (alias Harry Lime) einmal mehr seiner Leidenschaft für Gleichnisse und Parabeln nachgehen und erläutert (mit Verweis auf Mussolini, von dem das Zitat angeblich stammen soll) folgende Theorie.
Während der 30jährigen Herrschaft der Borgias in Italien gab es nicht nur Krieg, Mord und Elend sondern auch die Renaissance, da Vinci und Michelangelo. Die größte kulturelle Errungenschaft in 500 Jahren friedlichen und demokratischen Zusammenlebens in der Schweiz dagegen sei die Kuckucksuhr.
Die Stadt New York hat in den letzten Jahren eine Entwicklung vom chaotischen und kriminellen Großstadtdschungel zur (relativ) beschaulichen Sauberstadt durchgemacht. Das sich in der gleichen Zeit immer mehr New Yorker Filmemacher für eine Flucht in die Vergangenheit bzw. in eine andere Stadt entschieden, scheint die Theorie von Welles/Lime zu bestätigen.

In Woody Allens BULLETS OVER BROADWAY streiten sich die Künstler noch hitzig darüber, ob sie im Zweifelsfall ein Buch oder einen Menschen retten würden. Die Frage, ob die Kunst Vorrang vor einem Menschen haben kann, beantwortet dann ausgerechnet der Killer Cheech (Chazz Palminteri) auf seine Weise, als er zum Wohle seines Theaterstücks die Schauspielerin Olive (Jennifer Tilly) tötet.
So abstrakt die Entscheidung zwischen Kunst oder Mensch in Allens Film erscheinen mag, so real wird sie doch in der Law-and-Order Stadt von Bürgermeister Giuliani.
Es sind dabei vor allem die New Yorker selber, die es zwar begrüßen, ohne Todesangst wieder mit der U-Bahn fahren zu können, zum anderen aber auch den Verlust des typischen Flairs beklagen (von den Auswüchsen des restriktiven Ordnungswahns einmal ganz abgesehen). Gerade dieses besondere New York-Gefühl hat die Filme aus dem Big Apple so angenehm von den Werken aus Hollywood abgehoben.

Vor 25 Jahren durchfuhr Robert de Niro als TAXI DRIVER die Großstadthölle von New York und träumte als Travis Bickle vom großen Regen, der eines Tages kommen werde, um den ganzen "Müll" von den Straßen zu waschen. Bickles Wunsch ist scheinbar in Erfüllung gegangen und aus den früheren MEAN STREETS wurden im laufe der Jahre clean streets. Bickles Schöpfer, Martin Scorsese, zwang diese Veränderung jedoch dazu, seinen BRINGING OUT THE DEAD um zehn Jahre zurück zu versetzten. Den Wahnsinn auf den Straßen, auf dem BRINGING OUT... aufbaut, hat Scorsese im heutigen New York offensichtlich nicht mehr gefunden.

Noch um weitere dreizehn Jahre geht Spike Lee in seinem neuen Film SUMMER OF SAM zurück, um ein in jeder Hinsicht gewaltiges Tableau zu entrollen. In Zeiten, in denen es schon verpönt ist öffentlich eine Zigarette zu rauchen, scheint die Flucht in eine wilde, freie Vergangenheit nur logisch. Die Geschichte von Morden, Disco, Punk, Sex, Drogen und Gangstern wird bei Lee eingerahmt vom aktuellen Kommentar eines Journalisten, der die Problematik des neuen, sauberen New Yorks unumwunden anspricht und indirekt von der guten alten Zeit schwärmt. Diese verklärte Erinnerung an eine teilweise brutale und beängstigende Vergangenheit mag paradox wirken, doch sie zeugt vor allem auch vom Stolz der Einwohner auf ihre gefährliche und unberechenbare Heimatstadt. Wie singt schon Sinatra: "If you make it here, you make it everywhere !".

Einen der es weder "here" noch "everywhere" richtig geschafft hat, spielt Ian Holm in Stanley Tuccis JOE GOULDS GEHEIMNIS. Joe Gould war in den 40er und 50er Jahren aktiv und 1991 konnte Robin Williams in KÖNIG DER FISCHER noch einen Geistesverwandten Goulds spielen, aber wäre eine solche Geschichte im heutigen New York noch denkbar ?
Am hochsanierten Times Square würde Gould wohl keines der familiengerechten Lokale von Disney & Co. eine Suppe spendieren, um dadurch mit einem echten Bohemien als Touristenattraktion aufwarten zu können. Die gesellschaftlichen Biotope, in denen ein Spinner wie Gould überleben konnte, sind heute weitgehend ausgetrocknet. Schlechte Zeiten für Nichtseßhafte, egal ob Genie oder nicht.

Andere große New Yorker Regisseure kehren ihrer Heimat fast vollständig den Rücken zu. Abel Ferrara etwa, der mit KING OF NEW YORK und BAD LIEUTENANT zwei der beeindruckendsten und bedrückendsten Portraits dieser Stadt gezeigt hat, verliert sich in seinen letzten Filmen BLACKOUT und NEW ROSE HOTEL in eigenartig glatten, austauschbaren Drehorten zwischen Tokio und Los Angeles.
Woody Allen schließlich, der Inbegriff des New York - Besessenen, hat die Zeiten von MANHATTAN hinter sich gelassen und verläßt immer öfter sein gewohntes Revier, um entweder die alten Zeiten zu beschwören (SWEET AND LOWDOWN) oder Teile der Handlung bis nach Europa auszulagern (ALLE SAGEN: I LOVE YOU). Es ist bezeichnend, dass im Mittelpunkt von HARRY AUSSER SICH, in dem Allen bis dato das letzte mal selber die Hauptrolle übernommen hat, ausgerechnet eine Autofahrt nach Connecticut steht. Dass HARRY AUSSER SICH einer der zynischsten Filme Allens ist, paßt nur zu genau in das Bild von der neuen Stadt, in der kein Platz mehr für unkorrekten Humor ist.

Mittlerweile hat auch der makellose Rufe des Saubermanns Giuliani Risse bekommen und vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis in New York wieder die Verhältnisse herrschen, die die Grundlage für einige der wichtigsten Werke der amerikanischen Filmgeschichte waren. Als netten Kontrast zum aufgeräumten New York von heute empfiehlt sich dabei immer wieder John Carpenters Klassiker ESCAPE FROM NEW YORK (DIE KLAPPERSCHLANGE).

Michael Haberlander

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