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18.05.2000
 
 
   
 

Die Filme des Bruno Dumont

   
     
 
 
 
 

Er hat zwar erst zwei Filme gemacht, zählt aber doch zu den großen Entdeckungen des französischen - oder sollte man sagen europäischen ? - Kinos. In Cannes gewann er letztes Jahr für L'HUMANITÉ den großen Preis der Jury, umstritten ist er bei der Kritik allemal und in den deutschen Kinos war L'HUMANITÉ ein Flop. Artechock Mitarbeiter André Grzeszyk unterzog Dumonts Filme einer genaueren Betrachtung.

Pharaon schaut in die Ferne. Hinunter zum Horizont. Vielleicht in Richtung des Tatortes, dahin, wo er, der Kommissar, vor einigen Tagen die Leiche eines mißhandelten Mädchens gefunden hat. Mit der Dauer der Einstellung wird sein Blick physisch, konkreter als der manifeste Inhalt des aktuellen Kaders. Einen Schnitt weiter ist seine Gestalt verschwunden. Vom Menschen gereinigtes Bild. Doch dann wird sein Kopf plötzlich wieder sichtbar, man denkt zunächst die Kamera fahre nach unten, aber wenn man sich am Haus in der hinteren linken Ecke orientiert hat merkt man, dass die Technik starr bleibt, dass es Pharaon ist, der sich bewegt und ins Bild schwebt. Langsam. Von Unten nach Oben. Einen halben Meter vom Boden entfernt, jenseits der Schwerkraft, steht er in der Luft, als hätte er sich allein aufgrund der Anstrengung seiner Augen, der Kraft seines Blickes außerhalb der physikalischen Gesetze positioniert...

Bruno Dumonts Filme LA VIE DE JÉSUS und L´HUMANITÉ, aus dem diese Szene stammt, sind anders, ganz anders als die dominierenden Modi der Inszenierung im Kino. Man taucht in eine fremde Welt, in eine andere Art der Wahrnehmung. Man begleitet die Kamera durch die tristen, beliebigen Gassen einer französische Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und wo eigentlich niemand mehr wohnen möchte. Es ist ein bißchen als befinde man sich in einem Vakuum, als wäre die Zeit stehen geblieben, oder vielmehr, als würde die Zeit in ihrer konkreten Dauer plötzlich spürbar, als würde sich der Globus (und analog die Schnittfrequenzen) nicht ständig beschleunigen. Vielleicht läßt das Dumonts Schaffen anachronistisch erscheinen, denn der Ursprung seiner Inszenierungsstrategien wurzelt wohl tief im Neorealismus. Passolini sei eines seiner Vorbilder, sagt er und das merkt man auch in jedem Augenblick. Kino des Sehenden, nicht der Aktion, um mit Deleuze zu sprechen. Keine illustrierten Hörspiele, in denen einheitliche Subjekte mit der Kraft der Worte ihre Konflikte und die ihres Milieus lösen. Die Visualität rückt extrem in den Vordergrund, ebenso wie die Blicke.

Freddy (LA VIE DE JÉSUS) und Pharaon de Winter (L´HUMANITÉ) agieren (wie die anderen Charaktere auch) kaum. Sie begegnen ihrer Umgebung mit ausgesprochener Passivität, nehmen die Welt mit den Augen auf (oder verwandeln sie durch ihre Blicke, wie Pharaon, wenn er die Streikenden vor dem Rathaus in ihre Schranken weist), als wäre an der Oberfläche, der Verteilung verschiedener Lichtintensitäten bereits alles abzulesen. Marie, die die zu Hilfe eilende Mutter Freddys und dessen epileptischen Anfall sorgsam betrachtet ohne einzugreifen. Pharaon, der wie aus Versehen dem Geschlechtsakt Josephs und Dominos verfolgt, im Raum stehend, ohne Scham, ohne Fragen, die Augen nicht abwendend. Bedingungslos. Sehend und von Domino, die unter Joseph liegt, gesehend. Sie ist nicht empört oder schockiert, springt nicht wütend auf, sondern geht einen jener bezeichnenden stummen Dialoge über die Blicke ein.

Dumonts Figuren wirken wie in die Leinwand projizierte Zuschauer, wie Duplizitäten, Verdoppelungen. Der Filmraum und der dunkle Raum des Saales verschmelzen im Laufe der Erzählungen. Naiv betrachtet die Kamera die Schauspieler. Die Innen/Außen-Verhältnisse haben sich ins Gegenteil verkehrt. Wenn ein Fenster im Bild zu finden ist, dann fährt die Kamera nicht hinein, um ihren Voyeurismus nachzukommen, Intimitäten aufzuspüren, sondern Pharaon schaut hinaus als wolle er sagen: "Die Kamera zeigt nicht mich, ich zeige der Kamera, wie sie zu sehen hat."

Es ist frappierend, mit welcher Unerbittlichkeit Dumont diese Strategien anwendet. Diese reine Beobachtung, die alles sagt und gerade deshalb gar nichts sagt. Freddy, der am Totenbett eines Freundes steht, ohnmächtig, überwältigt von der Situation in der er sich befindet (er ist nicht der Arzt, der uns in EMERGENCY ROOM das Leben schenkt) und doch sehen muß, hinsehen, sich nicht abwenden kann von dem sterbenden Leib. Das brutale, reine Schauen auf das Elend, ob im Krankenhaus oder zu Hause, wo die Mutter im Fernseher den Zoom der Kamera auf einen dahin vegetierenden Afrikaner verfolgt.

Der Zuschauer muß sich dieser spezifischen Wahrnehmungsweise beugen, an der Oberfläche, am Sichtbaren bleiben, weil Dumont keinerlei Identifikationsangebot unterbreitet. Die Helden sind keine, Pharaon und Freddy werden zu oft gebrochen, wirken immer ein bißchen dümmlich, so, als wäre etwas mit ihnen nicht in Ordnung. Freddy mit seinen epileptischen Anfällen. Der Kommissar mit seinem maskenhaften Gesicht, das in seiner Blässe an Chaplins Tramp erinnert, ohne der Träger "tieferer" Wahrheiten zu sein. Seine Präsenz ist doch einige Male ein Zuviel, wird unangenehm, da, wo er das fünfte Rad am Wagen in der Beziehung zwischen Domino und Joseph spielt. Die Dramaturgie hat keinen positiven Platz für ihn vorgesehen. Und wer dennoch den Versuch machen sollte, sich in die Hauptfigur einzufühlen, für den hat Dumont am Ende noch eine böse Überraschung parat.

Pharaon und Freddy sind eigenwillige, besondere Menschen, die dennoch keine Subjektivität zu besitzen scheinen, d.h. ihr Selbst ständig unterdrücken. Sie wohnen beide noch bei der Mutter, im Artefakt Familie das sich in einer hypermodernen Welt selbst überlebt hat. Der Vater ist eine Leerstelle, die Söhne wollen nicht erwachsen werden. Freddy und sein Mofa-Rebellentum, Pharaon, den das Schicksal, der Tod zum nicht-mehr-Vater gemacht hat. Die Beziehungen zum Außen, zu anderen Menschen bleiben vage, unbestimmt. Es gibt keine over-shoulder-shots, so, als wäre keine echte Kommunikation möglich.

Die Filme entwickeln ihre Geschichten viel zu langsam, offenbaren zu viele Brüche, als dass man mitgerissen werden könnte. Wie bei Kluge werden auch den alltäglichen Handlungen Raum gegeben (Marie die sich wäscht, die Gartenarbeit Pharaons, usw.). Wenn MAGNOLIA uns beweisen will, dass es das Kino auch im Leben gibt, dann will Dumont uns beweisen, dass es das Leben auch im Kino geben kann. Vielleicht erscheint das dann langatmig, jedoch brauchen seine Filme gerade jene Dauer um die spezifische Wahrnehmungsweise zu etablieren.

Und die ist unangenehm für den Zuschauer, weil sie uns zwingt Dinge zu sehen, die wir nicht sehen wollen. Rassismus, ohne einen Denzel Washington, der unseren moralischen Weg gehen würde und die Ordnung der Dinge zumindest auf der Leinwand wiederherstellt (LA VIE DE JÉSUS). Kindsmord, ohne den smarten und schönen Polizisten, der den Mörder in die Zelle bringt (L´HUMANITÉ). Dumont präsentiert einfach, ohne zu repräsentieren. Er zeigt, ohne danach den Finger zu heben und auf etwaige Schuldige zu verweisen. Er ist ein Meister in der Kunst, Signifikanten zu produzieren ohne uns etwas über die Signifikate zu sagen. Er sei kein Realist, sagt er, der Realismus interessiere ihn nicht, er möchte enthüllen. Und schafft es immer wieder. Das Enthüllte zeigt sich immer genau da, wo man es am wenigsten vermutet hätte: im Alltäglichen. In ganz kleinen Gesten, wo sich die Bilder, die Abbilder der Dinge jenseits der narrativen Einheiten entfalten, eigenständig, als Selbstzweck (entgegen dem: "Wenn ich einen Döner in der Hand habe, dann fress´ ich ihn / wenn ich eine nackte Frau vor mir habe, dann fick´ ich sie / und wenn ich eine Knarre in der Tasche habe, dann benutz´ ich sie auch irgendwann..."). Die Kamera auf der Suche nach dem Blick eines Kindes auf die Welt. Eine Wahrnehmung vor bzw. nach allen vorgefaßten Meinungen. Pharaon, der Kommissar, geht noch einmal den Schulweg des ermordeten Kindes, sucht nach seiner verlorenen Unschuld.

Im Kosmos der Erotik offenbart sich die Diskrepanz der Dumontschen Inszenierung mit gängigen Verfahren am signifikantesten. Sex ist kein emotionaler, affektiver Höhepunkt, kein Sensationsmoment. Gerade an dieser Stelle läßt Dumont sämtliche Möglichkeiten zu Psychologisierungen aus. Deutlichst spürbar in einer der Sexszenen zwischen Freddy und Marie. Er beginnt mit einer Totalen. Marie und Freddy fahren zusammen auf dem Mofa von hinten links nach vorne rechts einen Feldweg hinunter. Sie bleiben stehen, steigen ab, laufen aus dem Bild. Die Bewegung links- rechts setzt sich in der anschließenden Halbtotalen fort und weiter in der nächsten Einstellung, einer Totalen, die zeigt, wie sich die Beiden, jenseits des Weges, im Gras, ohne ein Wort miteinander zu reden, ausziehen. Die nächste Einstellung unterbricht dann die Bewegung links/rechts, indem sie sie ins Gegenteil verkehrt, ebenso wie mit allen Erwartungen bricht, die sich der popcornkauende Zuschauer hätte machen dürfen. Also zunächst Totale. Dann Schnitt. Großaufnahme, gegen die Konvention, ebenso wie der Bildinhalt. Die Hand Maries, die sich Freddys Penis in den Leib schiebt. Man staunt, sonst nichts. Als hätte man das zum ersten Mal gesehen. Das ist also Sex. Nur Sex. Sex an sich. Wie eine Gebrauchsanleitung. Stecken sie x in y. Denken sie nicht nach, Emotionen sind überflüsssig, ein rein funktionaler, kein affektiver Vorgang. Entpersonalisiert. Freddy und Marie stöhnen irgendwo im Off, die Kadrierung hat ihre Gesichter, die Träger ihrer Identitäten, abgeschnitten. Die Großaufnahme deterretorialisiert, abstrahiert von der Narration, dem Davor und Danach, läßt den Zuschauer allein mit dem Akt, dem SEHEN des Aktes zurück. Dann doch noch die Gesichter, wiederum Groß. Und nur physisch, angestrengt in ihrer Körperlichkeit. Kein Kuß, keine Psychologie, keine Liebe. Die folgt später. Abgesetzt. Dumont schneidet zunächst auf die starre Aufnahme eines Baumes. 11 Sekunden lang, ohne Aktion, gleichsam als Bruchstelle, wie Auf- und Abblende (jetzt ein neues Kapitel...). Um erst gar nicht eine Anflug von Attraktionsmontage aufkommen zu lassen. Nach dem Baum die Zärtlichkeiten, Freddys Kopf sanft auf der Schulter Maries. Aber das ist etwas ganz anderes, hat mit dem Sex nichts mehr zu tun. Es ist kein x + x = Liebe, sondern ein x x x. Wenn Domino und Joseph die Straße, den öffentlichen Raum verlassen und im Wohnzimmer sofort mit dem Akt beginnen, dann klingt das wie in einem Drehbuch eines Films mit Pornostar Dirk Diggler (Die Beiden gehen nach Oben / Sie kommen schnell zur Sache...) und es findet sich dort die gleiche pure Körperlichkeit, dieselbe Direktheit. Keine sinnstiftende Erzählung sondern das Aufzählen von Fragmenten.

Vielleicht ist es gerade dieser Sinn, der die Bruchstücke verbinden könnte, den Pharaon und Freddy suchen. Als Ausweg, weg von der ihrem Innersten eingeschriebenen Passivität. In all dem lebt irgendwo ein kleines Fünkchen Hoffnung. Freddy, der am Ende von LA VIE DE JÉSUS endlich bei sich selbst anzukommen scheint, als wäre diese unsinnige, verzweifelte Reise im Kreis nun beendet. Die extremen Nahaufnahmen seines Körpers gehen den Ursprüngen auf den Grund, als wäre er endlich nahe genug an sich selbst, um ein Stück von sich verstehen zu können. Als gäbe es eine Ursache hinter den visuellen Phänomenen. Angekommen auf dem Bahnsteig der eigenen Existenz, der eigenen Ängste und Bedürfnisse. Er beginnt zu weinen, die Subjektivität, die Affekte brechen aus ihm heraus, wie bei Pharaon, wenn er den überführten Kindsmörder Joseph liebevoll auf den Mund küßt. Kleine Fluchtpunkte in den leeren hermetischen Zirkeln, kurze Hinweise auf die Zukunft, wo es vielleicht wieder Möglichkeiten, Alternativen gibt.

André Grzeszyk

L´HUMANITÉ (F, 1999)
Regie: Bruno Dumont
Buch: Bruno Dumont
Darsteller: Emmanuel Schotte, Séverine Caneele, Philippe Tullier

LA VIE DE JÉSUS (F, 1997)
Regie: Bruno Dumont
Buch: Bruno Dumont
Darsteller: David Douche, Marjorie Cottreel, Sébastian Bailleul

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